“Demokratie und Revolution” von Hedwig RICHTER und Bernd ULRICH

Bewertung: 4.5 von 5.

Der Titel dieses Buches ist unglücklich gewählt: Zwar erschließt sich der Sinn des plakativen Haupttitels im Laufe des Lesens, er ist aber kaum geeignet, einen ersten einladenden Hinweis auf die auf Inhalt oder Zielsetzung zu geben. Der Untertitel verrät zwar ein bisschen mehr – seltsamer Weise wird aber der – eigentlich pfiffige – Bezug zur KANTschen Definition von Aufklärung im Text nicht aufgegriffen. Irgendwie schade!
Davon abgesehen haben wir es hier aber mit einem brandaktuellen und hochrelevanten Sachbuch zu tun, das viele Stärken und kaum Schwächen aufweist.

Das Autorenbündnis zwischen der Historikerin RICHTER und dem bekannten ZEIT-Journalisten ULRICH hat einen Text hervorgebracht, der sowohl eine zeitgeschichtliche Aufarbeitung der Umwelt- und Klimapolitik der letzten 50 Jahre beinhaltet, als auch interessante, kreative und anregende Interpretatios-Schablonen zur gesellschaftlichen Einordnung der zugrundeliegenden Prozesse anbietet.
Beide kompetent und verständlich ausgearbeiteten Perspektiven sind darauf gerichtet, etwas zu erklären, das die Autoren mit tiefster Überzeugung nicht nur als “eigentlich” völlig unfassbar, sondern auch als extrem bedrohlich empfinden: Wie kann es sein, dass einer gut informierten und mit allen notwendigen Ressourcen ausgestatteten Gesellschaft die notwendigen Schritte zur Transformation in eine nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweise nicht gelingt? Und wie konnte es passieren, dass ausgerechnet im heißesten jemals gemessenen Jahr 2023 der Klimaschutz in Deutschland zu einem Looser-Thema verkam?

Wenn man sich auch nur halbwegs mit den Zielen des Klima- und Artenschutzes identifiziert, kommt man beim Lesen dieses Buches aus dem zustimmenden Nicken kaum mehr heraus. Es tut wirklich sehr gut, in Zeiten des Zauderns, des Ablenkens, des Verleugnens und der gezielten Desinformation so eine riesige Portion Klartext geschenkt zu bekommen. Endlich wird der politischen und medialen Klimawende-Ignoranz – insbesondere des letzten Jahres – mal etwas potentiell Wirkmächtiges entgegengesetzt: Daten, Analysen, Erklärungen, Vorschläge. Es wurde auch Zeit – angesichts eines Roll-Backs der Klimapolitik, die im krassen Gegensatz zu den beobachtbaren Entwicklungen steht.

Die Autoren sind keine Klima-Aktivisten: Sie scheuen zwar nicht, auch die Dramatik der Situation zu benennen – ihr genuiner Beitrag liegt aber in der soziologischen, psychologischen und politischen Feinanalyse: Sie sezieren Stimmungen, Abwehrmechanismen, Selbstbetrug und Einflussnahmen. Verstehen soll die Leserschaft nicht nur gesellschaftliche Prozesse, sondern auch eigene kognitive und emotionale Dynamiken.

Das Buch deckt ein enormes Spektrum an Betrachtungsebenen ab: Es reicht von dem – sehr konkreten, an ethischen Standards orientierten – Umgang mit unseren tierischen Mitgeschöpfen bis zur historisch-politischen Bewertung von reformerischen und revolutionären gesellschaftlichen Entwicklungen.
Das Ganze findet auf einem sprachlichen Niveau statt, das hinsichtlich der Verständlichkeit wissenschaftsjournalistischen Ansprüchen gerecht wird, dieses Buch aber nicht zu einer entspannten Nebenbei-Lektüre Lektüre macht. Immer wieder gelingen den Autoren sprachliche Leckerbissen – wenn sie z.B. die Politik unseres Verkehrsminister so beschreiben. “…im vorauseilendem Gehorsam gegenüber dem scrollenden und klickenden Bürger.”

Man spürt, dass die Autoren im Bereich der Tierethik und des Fleischkonsums eine nochmal gesteigerte persönliche Beteiligung in sich tragen. Das entsprechende Kapitel kratzt – trotz aller Faktenorientierung – gelegentlich etwas an der Grenze zur Missionierung. Das wird nicht jedem/jeder gefallen.
Insgesamt setzt dieses Buch die Bereitschaft voraus, sich auf die unterschiedlichen Perspektiven und Abstraktionsebenen einzulassen – die Belohnung dafür ist ein Füllhorn von Beobachtungen, Fakten, Interpretationen, Ideen und konkreten Vorschlägen.

RICHTER und ULRICH bleiben nicht in der Bestandsaufnahme stecken. Die letzten 25 Seiten sind der “Zukunft” gewidmet und enthalten einen Apell an uns alle (vordringlich an die Wohlhabenden, Reichen und Gebildeten): Wir sollten die Potentiale der Demokratie endlich (wieder) ernst nehmen, statt uns auf der vermeintlichen Trägheit des Systems auszuruhen. Wir sollten – entsprechend den Notwendigkeiten – einen revolutionären ökologischen Aufbruch innerhalb der Demokratie wagen. Das Motiv dafür sollte weder aus der (falschen) Annahme einer Zumutungsfreiheit, noch aus dem (langfristigen) wirtschaftlichen Eigennutz abgeleitet werden. Wir sollten einfach nicht die Menschen sein wollen, die aus egoistischer Bequemlichkeit in die Katastrophe steuern und vor allem die Lebenschancen zukünftiger Generationen verspielen. Wir sollten uns und unsere Mitmenschen für befähigt halten, mit Disziplin und Realitätssinn an die große Menschheitsanforderung der ökologischen Transformation heranzutreten.

Ein kluges, facettenreiches und engagiertes Buch zur rechten Zeit – damit nicht Ignoranz, Zynismus oder Resignation den Sieg davontragen. Mal wieder wünscht man sich, dass es Pflichtlektüre für unsere Entscheider/innen wäre.
Ein erfrischendes und lange überfälliges Plädoyer für die Bedeutung von moralischen Maßstäben und eines prinzipiengesteuerten Selbstbildes bei individuellen und gesellschaftlichen Grundsatzentscheidungen.

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