“Der Mensch und die Macht” von Ian KERSHAW

Bewertung: 4 von 5.

Der bekannte englische Historiker Ian KERSHAW hat sich mit diesem gewichtigen Werk und seinem geradezu monumentalen Titel einer geschichtswissenschaftlichen Grundsatzfrage gewidmet: In welchem Ausmaß bestimmt die konkrete Persönlichkeit einer politischen Führungkraft darüber, ob von ihr wirklich “große” und langfristige Einflüsse auf die Geschicke einer Nation, eines ganzen Kontinents oder sogar in weltgeschichtlicher Dimension ausgehen.
Als Gegenthese zu der Bedeutung von Einzelpersonen steht die Sichtweise, dass die vermeintlich “großen” Staatenlenker letztlich nur gesellschaftliche, wirtschaftliche oder politische Prozesse aufgreifen und sich aneignen, die auch ohne sie (in ähnlicher Form) stattgefunden hätten. In diesem Bild würden sich dann eher die historischen Bedingungen passende (und letztlich austauschbare) Personen suchen – statt durch diese geschaffen und geprägt zu werden.

Nach einer kurzen Einleitung untersucht der Autor am Beispiel von 12 der bedeutsamsten politischen Führer des 20. Jahrhunderts, wie jeweils das Zusammenspiel und die relative Bedeutung der beiden Faktoren zu bewerten ist. Seine Auswahl: Lenin, Mussolini, Hitler, Stalin, Churchill, De Gaulle, Adenauer, Franco, Tito, Thatcher, Gorbatschow, Kohl.
Grob gesagt, geht es in den einzelnen Kapiteln darum, die jeweilige Persönlichkeit, die Ausgangsbedingungen und das komplexe Zusammenspiel dieser beiden Faktoren im Verlauf der Karriere anzuschauen – um dann zu einer Gesamtbilanz hinsichtlich der Grundsatzfrage zu kommen.

Positiv ist zu verzeichnen, dass sehr schnell deutlich wird, auf welch breiten Wissensfundus der vielfach geehrte Historiker zurückgreifen kann. Jede/r Leser/in ohne historisches Spezialwissen wird ganz sicherlich mit einem enormen Wissens- und Erkenntniszuwachs von diesem verständlich geschriebenen Sachbuch profitieren.

Kritisch bleibt anzumerken, dass allzu oft die Ausgangsfrage des Buches mit der Schlussfolgerung “sowohl als auch” beantwortet wird.
Das ist zwar keine Überraschung – denn natürlich kam und kommt es sowohl auf die Ausgangsbedingungen als auch auf die spezifischen persönlichen Eigenschaften an – aber es wirkt in der Wiederholung doch irgendwann ein bisschen platt (weil selbstverständlich).
Es wäre klarer gewesen, sich von vorneherein auf die Frage zu konzentrieren, wie im konkreten Fall die Interaktion aussah (statt jedes mal so zu tun, als ob die Frage offen wäre).
Zusätzlich muss berücksichtigt werden, dass sich die jeweilige “Persönlichkeitsanalyse” (natürlicherweise) auf die offensichtlichen Eigenschaften und Merkmale beschränkt, die sich bei solchen Führungspersonen auch entsprechend ähneln (machtbewusst, durchsetzungsstark, skrupellos, hartnäckig, usw.). Eine tiefergehende psychologische oder psychopathologische Betrachtung wird kaum versucht (vielleicht mit Ausnahmen bei Stalin und Hitler). Das kann man als sinnvolle Selbstbeschränkung ansehen (wird auch an einer Stelle so formuliert), es grenzt aber die Aussagekraft über den Faktor “Mensch” auch ein.

Natürlich gibt es interessante Differenzierungen zwischen autoritär-diktatorischen und demokratisch legitimierten Staatenlenkern (und einer Lenkerin). KERSHAW versäumt es nicht, auf die jeweilige Einbettung der Führer in ihr Unterstützer-Milieu bzw. auf die Bedeutung bestimmter Mitstreiter (es sind fast nie Frauen) einzugehen.
Interessant ist, dass Kanzler Kohl insofern eine Sonderstellung zugesprochen wird, als dass er ohne den historischen Glücksfall der Maueröffnung wohl kaum eine prägende Figur des 20. Jahrhunderts geworden wäre.
Insbesondere die Ausführungen zu Franco, Mussolini und Tito gehen in ihrer Differenziertheit deutlich über das hinaus, was man an historischer Allgemeinbildung selbst im besten Sinne erwarten kann; hier sind dann doch eher Geschichts-Nerds angesprochen.

KERSHAW hat ein faktenreiches und erhellendes Geschichtsbuch des letzten Jahrhunderts geschrieben, das sich ohne Zweifel zu lesen lohnt.
Die so hoch gehängte Frage, ob nun konkrete Personen oder vorhandene Strömungen stärkeren Einfluss auf die Geschehnisse hatten, mag zwar eine spannende Perspektive sein. Die doch eher wenig überraschenden Antworten darauf würden jedoch alleine das Schreiben und Lesen dieses Buches sicher nicht rechtfertigen.

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