“Mensch sein” von Carel van SCHAIK und Kai MICHEL

Bewertung: 4.5 von 5.

MICHEL (Historiker und Literaturwissenschaftler) und van SCHAIK (Verhaltensforscher und Evolutionsbiologe) fallen nicht gerade durch eine besondere Bescheidenheit auf: Sie haben sich nichts weniger zum Ziel gesetzt, als die aktuelle Krisenlage des Mensch-Seins nicht nur zu erklären, sondern auch die passenden Auswege aufzuzeigen.
Ihre Methode: Evolutionäre Aufklärung!
Der Ansatz der Autoren kann wohl am ehesten als anthropologisch eingeordnet werden. Sie integrieren Befunde und Erkenntnisse u.a. der Evolutions-Biologie, der Erforschung der menschlichen Frühgeschichte, der (Sozial-)Psychologie und der Kognitionswissenschaften in einen konsistenten theoretischen Rahmen und schaffen so ein Gerüst für ein Gesamtkonzept, das die Leserschaft durch das ganz Buch trägt.

Die Grundthesen lassen sich recht gut zusammenfassen:
Die (biologisch-genetische) “1. Natur” des Menschen wurde in den – vergleichsweise – endlosen Zeiträumen geprägt, in denen wir als Jäger und Sammler in kleinen, überschaubaren und egalitären Gruppen zusammenlebten. Dieses Dasein war – anders als oft vermutet – durchaus lebenswert: überwiegend ohne Plackerei, ohne Herrschaft und (innerhalb der Gruppen) weitgehend kooperativ und friedlich. Unsere körperlichen und psychischen Systeme waren an die damaligen Bedingungen ziemlich perfekt angepasst.
Infolge der großen und weitreichenden Veränderungen (überwiegend Verschlechterungen) im Zusammenhang mit der Sesshaftigkeit (verbunden mit Eigentum, Arbeitsteilung und Herrschaftssystemen) entwickelten sich kulturelle Erwartungen, Regeln und Zwänge, die schrittweise die “2. Natur” des Menschen formten.
Im Nachgang zu Renaissance und Aufklärung wurde die rational-vernunftsbezogene “3. Natur” des Menschen ausgebildet: Hier geht es um bewusst geplantes Handeln, um gesetzte Ziele unter Berücksichtigung von Wissen und Logik zu erreichen.
Lt. Analyse der Autoren führt das gleichzeitige Vorhandensein der drei Naturen zur Ausbildung unserer “prismatischen” Persönlichkeiten, die den Konflikten zwischen den – zu weiten Teilen widersprüchlichen – Prägungen und Impulsen ziemlich hilflos ausgeliefert sind.
In der Bewusstmachung, Anerkennung und Berücksichtigung dieser anthropologischen Basis unseres Menschseins sehen die Autoren den entscheidenden Ansatzpunkt für ein Umsteuern – daher die Zielsetzung, uns insbesondere über unsere evolutionäre Grundlegung aufzuklären.

Dieses hier nur kurz skizzierte Theoriegerüst umbauen die Autoren mit einem reichen und ausladenden Mauerwerk aus biologischen, geschichtlichen und kulturellen Einzelbausteinen. Man hat dabei immer wieder das Gefühl, dass sie aus dem Vollen schöpfen können – an anschaulichen Beispielen gibt es wahrlich kein Mangel. Das sich daraus ergebende Gebäude erweist sich nicht nur als als tragfähig, sondern auch als ästhetisch ansprechend, geradezu elegant.
Die Sprache, mit der dieses Gesamtkonstruktion erstellt wird, ist durchaus anspruchsvoll: Die Autoren haben ganz offensichtlich Vergnügen daran, sich auf einem recht hohen Abstraktionsgrad elaboriert und durchaus auch kreativ auszudrücken.
Dass darunter das Testverständnis nicht leidet, hat sicher mit der eingebauten Redundanz zu tun: Die Autoren gehen nicht das geringste Risiko ein, dass jemand ihren Roten Faden (den Theorie-Bauplan) aus dem Blick verlieren könnte.

Bis zu diesem Punkt der Rezension könnte der Eindruck entstanden sein, dass van SCHAIK und MICHEL hier eine Art neutrale Gesellschaftsanalyse abgeliefert hätten. Das wäre weit gefehlt: sie nehmen eindeutig und leidenschaftlich Partei!
Die beiden Autoren lassen nichts unversucht, um die “Unnatürlichkeit” unseres momentanen Lebens zu verdeutlichen und auch anzuprangern. Sie sehen vor allem die bedrohliche und schädliche Tendenz, den Mangel an echten (analogen) Sozial- bzw. Gemeinschaftserfahrungen durch – letztlich sinnlosen und unbefriedigenden – Konsum zu kompensieren. Sie beschreiben anschaulich die Teufelskreise, in denen der untergründig spürbare Zweifel an der Stimmigkeit unserer Lebensführung durch immer neue materiellen Reize übertönt werden soll.
Dabei geht es den Autoren keineswegs um eine naive Rückkehr zu Lebensbedingungen oder Verhaltensmustern unserer frühen Vorfahren. Es werden vielmehr auch gefährliche Hypotheken unserer Evolution beschrieben und daraus z.B. die Notwendig abgleitet, die tief verwurzelte Tendenz zu Abgrenzung gegenüber “Außengruppen” (Fremden, Anderen) mit Hilfe unserer 3. Natur zu überwinden (und auch zukünftige Generationen in einen erweiterten Empathie- bzw. Altruismusbereich mit einzubeziehen).
Ein weiteres Problem und eine unendliche Konfliktquelle liegt in der Tendenz, die kulturell gebildeten und vermittelten Haltungen und Gewissheiten der 2. Natur für “naturgegeben” zu halten. Auch hier sehen die Autoren einen riesigen Aufklärungsbedarf.

Kurz gesagt: Hier ist ein extrem anregendes, faktenreiches und didaktisch vorbildliches Buch entstanden, das pausenlos eigene Gedanken und Ideen in Gang bringen kann.
Eine gewisse Verführung könnte darin liegen, dass der angebotene Theorierahmen so plausibel und überzeugend erscheint, dass er einen zwischendurch vergessen lässt, dass diese spezielle Betrachtung eben auch nur eine von vielen verschiedenen Deutungs-Möglichkeiten darstellt. Hier wird keine neue “Wahrheit” geliefert; hier werden frühere Betrachtungen und Konzepte nicht widerlegt.
Die Autoren liefern eine anschauliche und intelligente Schablone, durch die sich erstaunlich viele langfristigen Entwicklungslinien strukturieren und systematisieren lassen. Und sie haben es geschafft, dies alle in ein intuitiv zugängliches Modell zu verpacken.
Die abschließenden 12 Schlussfolgerungen (Anregungen, Forderungen) setzen dem Ganzen noch eine Art Krone auf: Da kommt man aus dem zustimmenden Nicken kaum heraus!

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