“Determined” von Robert SAPOLSKY

Bewertung: 5 von 5.

Es kommt nicht ganz so häufig vor, dass man auf ein Sachbuch monatelang ungeduldig wartet (und es dann – natürlich – schon am Erscheinungstag zu lesen beginnt). Der international bekannte Biologe, Neurowissenschaftler und Primatenforscher Robert SAPOLSKI hat genau das mit seinem neuen Werk bei mir ausgelöst.
Nach ein paar Tagen kann ich jetzt eine Bilanz ziehen.

Der Autor holt die Themen “Determiniertheit” und “Willensfreiheit” mit einer bemerkenswerten Konsequenz aus dem Jahrhunderte währenden Wust philosophischer Spekulationen in die Welt der Naturwissenschaften. Es geht ihm nicht darum, bestimmte (theoretisch, humanistisch oder theologisch abgeleiteten) Menschenbilder zu begründen oder zu widerlegen.
Ihn interessiert stattdessen eine zentrale Frage: Kann in unserem Gehirn – zum Beispiel bei der Planung oder Ausführung eines bestimmten Verhaltens – irgendetwas vor sich gehen, das NICHT von vorangegangenen Einflussfaktoren abhängig wäre – das also Raum für eine autonom getroffene freie Entscheidung ließe?
Seine Antwort lautet: “Nein!”.
Im ersten Teil seines Buches versucht SAPOLSKI, dieses klare Statement zu untermauern, um dann (für ihn die schwierige Aufgabe) über soziale und gesellschaftliche Konsequenzen dieser Sichtweise nachzudenken.

SAPOLSKY ist ein fleißiger und systematischer Mensch, der schon in seinem 2017 erschienenen Standardwerk “Behave” (deutsch 2021: “Gewalt und Mitgefühl“) unter Beweis gestellt hat, in welch unfassbar breitem Umfang er auf Literatur und Forschungsbefunde zum Zusammenhang zwischen – im weitesten Sinne biologischen – Faktoren und menschlichem Verhalten zurückgreifen kann.

Als Ordnungsprinzip dient auch im aktuellen Buch die Zeitachse: SAPOLSKY beginnt den Blick auf die (seiner Überzeugung nach “lückenlose”) Kette prägender bzw. bestimmender Kausalitäten bei den neurologischen Prozessen, die einer Entscheidung bzw. Handlung im Millisekunden-Bereich vorausgehen – und endet bei Grundprinzipien von Genetik, Zellbiologie und Umweltanpassungen, die Millionen Jahre weit in die Evolutionsgeschichte zurückreichen.
Auf jeder Ebene (aktueller neuronaler Zustand, Hormonstatus der letzten Minuten/Stunden, Erfahrungen der letzten Stunden/Tage, prägende Lebensereignisse im Erwachsenenalter, Jugend, Kindheit, soziale und kulturelle Umwelt, embryonale Umgebung, genetische Ausstattung und epigenetische Einflüsse, Evolutionsgeschichte) führt SAPOLSKY mit Hilfe entsprechender Befunde exemplarisch vor, wie sich Unterschiede in all diesen Variablen auf den Zustand einer Person (und ihres Gehirns) zum gegenwärtigen Zeitpunkt auswirken.
Am Ende jedes Kapitels stellt er die (rhetorische) Frage, ob durch die gerade aufgeführten Prägungen ein Verhalten vollständig determiniert sei. Natürlich nicht! Aber: Zu welchem Ergebnis kommt man, wenn man all diese Einflüsse (und ihre Interaktionen) zu einer gemeinsamen Kausalkette aufsummiert?!
Der Autor weist unablässig auf einen – für seine Gesamtsicht – entscheidenden Umstand hin: Niemand hatte über die diskutierten Faktoren selbst eine Kontrolle!

Während viele aufgeklärte und wissenschaftsaffine Menschen der Darstellungen wohl soweit folgen würden, wird es beim nächsten Argumentationsschritt echt spannend:
Nicht nur sind bestimmte Merkmale und Erfahrungen durch Biologie bzw. Lebensumstände vorgeprägt (und damit fremdbestimmt), auch die Ressourcen und Optionen, auf diese Ausgangslage zu reagieren (z.B. mit Anstrengung, Disziplin, Ehrgeiz oder Selbstüberzeugung), sind ja selbst wieder das Ergebnis der entsprechenden biologisch-psychologischen manifestierten Einflussfaktoren: Die Fähigkeit zu Belohnungsaufschub, Impulskontrolle und Stressregulation sucht man sich ja nicht im Rahmen einer freien Entscheidung aus!
SAPOLSKY wäre nicht SAPOLSKY, wenn er nicht auch für diese These einen ganzen Korb von Forschungsergebnissen anbieten könnte.
Letztlich bleibt aus Sicht des Autors unterm Strich tatsächlich keinerlei “Lücke” für die Wirkung eines freien Willens, also einer Instanz, die sich von all den kumulativen beschriebenen Verursachungslogiken abkoppeln könnte.

Möglichen Vorwürfen, sich an einem längst “überholten” deterministischen und reduktionistischen Weltverständnis festzuklammern, tritt der Autor mit einem bemerkenswerten Aufwand entgegen. In einer kaum zu übertreffenden Gründlichkeit und Systematik schaut er sich an, in wie weit Aspekte der “modernen” Physik – Chaostheorie, Emergenz-Phänomene in komplexen Systemen und Quantenphysik – sich dafür eignen, als Quelle für eine undeterminierte Willensfreiheit zu dienen.
Sein Resümee: Sie taugen dafür nicht (insbesondere, weil Zufall nichts mit Willensautonomie zu tun hat).

Kommen wir zum zweiten Teil, also zu den gesellschaftlichen Auswirkungen.
SAPOLSKY ist sich darüber bewusst, welch zentrale Bedeutung Konzepte wie Autonomie und Willensfreiheit im persönlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Verständnis vom Menschsein haben. Er stellt sich explizit die Frage, ob es überhaupt vertretbar sein könnte, an diesen Sichtweisen zu rütteln: Bräche nicht möglicherweise unsere Moral, die gesamte Zivilisation zusammen, wenn Menschen sich und andere nicht mehr als “verantwortlich” für ihre Entscheidungen und Taten betrachten würden?
SAPOLSKY stellt sich an diesem Punkt nicht als souveräner Wissenschaftler dar, sondern ringt mit sich selbst um passende Antworten. Er findet sie u.a. in dem zunehmend aufgeklärten Umgang mit Phänomenen wie Epilepsie, Schizophrenie oder Autismus: Der Fortschritt der Wissenschaft hat es ermöglicht, Opfer von Gehirnerkrankungen nicht mehr als Hexen zu verbrennen, Mütter von (biologisch begründeten) Psychosen nicht mehr als “Verursacherinnen” abzustempeln und sinnvolle therapeutische Maßnahmen für neurologische Fehlfunktionen zu entwickeln.

Seiner Logik nach wäre die Anerkennung und Berücksichtigung der generellen Determiniertheit menschlichen Verhaltens ein nächster Schritt in Richtung Humanität und Gerechtigkeit. Zwar würde man den Menschen auf der Sonnenseite des Lebens ihren Stolz auf ihre Lebensleistung schmälern (“ihr hattet einfach die günstigeren Bedingungen”). Gleichzeitig wäre aber das große Leid all der “Verlierer” relativiert, die sich endlich nicht auch noch selbst dafür zermartern müssten, dass sie es nicht – wie andere – geschafft haben, ihre guten Startchancen zu nutzen oder ihre frühe Benachteiligung durch intensivere Bemühungen auszugleichen.
SAPOLSKY ist überzeugt, dass die Kenntnisnahme der realen Kausalitäten nicht zu einem moralischen Verfall führen würde (ebenso wenig wie die nachlassende religiöse Bindung).
In einem längeren Kapitel widmet er sich den Auswirkungen auf den Umgang mit Straftaten: Wie könnte eine (vom Konzept der Willensfreiheit abggekoppelte) Gesellschaft mit Verantwortung, Schuld und Strafe umgehen?
Seine Antworten darauf sind durchaus logisch – stehen aber im deutlichen Widerspruch mit intuitiven emotionalen Bedürfnissen der meisten Menschen nach “echter” Bestrafung von Übeltätern.

Das Lesen dieses (leider bisher nur in Englisch verfügbaren) Buches, ist ohne Zweifel ein großartiges intellektuelles und ein spannendes emotionales Vergnügen.
Dazu trägt nicht nur die wissenschaftliche Qualifikation des Autors bei, sondern auch sein Schreibstil, in dem er sich als eine Person zeigt, die leidenschaftlich eine (aufklärerische) Mission verfolgt, die manchmal an (allzu naiven) Gegenpositionen verzweifelt (und darauf auch immer wieder humorvoll reagiert) und die hin und wieder auch an die Grenzen bei der Umsetzung eigener Überzeugungen stößt.
Wegen der zentralen Bedeutung und der kaum zu überschätzender Tragweite der hier diskutierten Grundsatzfragen, wird kein/e Leser/in unbeteiligt bleiben können. Es ist kaum vorstellbar, dass sich bei jemandem an keiner Stelle Widerstand regt, der Kopf geschüttelt wird oder gar die Haare zu Berge stehen. An unzähligen Stellen dieses Textes wird man die Herausforderung spüren, eine eigene Position zu den Darlegungen des Autors zu beziehen.
Meine Prognose: Wenn man wirklich bereit ist, sich auf die Argumentation einzulassen, wird das nicht immer so ganz einfach sein (“eigentlich hat er ja Recht, aber kann und darf das wirklich alles so sein???”).

Am Ende nochmal ein persönlicher Blick:
Ja, 90% meiner Erwartungen wurden erfüllt: Für mich der bisher beste Versuch, Willensfreiheit naturwissenschaftlich zu fassen. In einigen Bereichen war ich geradezu überwältigt von der Stringenz und Konsequenz der Argumentation (moderne Physik und die Konzepte von Vorhersagbarkeit und Determiniertheit). Absolut faszinierend war immer wieder die Vielfalt von Einzelbeispielen hinsichtlich der prägenden Faktoren und ihres Zusammenspiels.
Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sich der Autor bei bestimmten Beispielen ein wenig festgebissen hat (Geschichte der Epilepsie und des Hexenwahns) – er war wohl an diesen Punkten selbst begeistert, wie gut sich diese Phänomene in seinen Roten Faden einfügten.

Ein bisschen mehr erwartet hätte ich im Bereich der psychologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen: Ich hätte gerne auf einen Teil der Ausführungen über den Bereich Kriminalität verzichtet, wenn SAPOLSKY dafür etwas breiter auf die eher alltäglichen Folgen eines “Lebens ohne Willensfreiheit” eingegangen wäre: Wie geht man tatsächlich in der innerpsychischen Welt mit dem Widerspruch zwischen subjektiv erlebter Autonomie und dem Wissen der Determiniertheit um? Welche Rolle spielt das Konzept von Verantwortung und Autonomie in Erziehung und Therapie? Braucht man diese Konzepte nicht – unabhängig von ihrem Realitätsgehalt, weil sie als im Gehirn repräsentierte Konzepte eben auch (kausale) Verhaltenswirksamkeit haben? Welche Rolle spielt überhaupt die gezielte Beeinflussung durch Werbung, Propaganda oder Aufklärung (all das verändert ja als Teil der großen Kausalkette das Gehirn)?
All das wird zumindest angedeutet, hätte aber mehr Raum verdient.

Man mag aufgrund dieser Rezension den Autor für einen irgendwie menschenfeindlichen Fundamentalisten halten, der den Menschen einen Kernpunkt ihrer Würde absprechen möchte. Das ist SAPOSKY ganz eindeutig nicht! Es sind (über Jahrzehnte angesammeltes) Wissen, eine Tendenz zur intellektuellen Stringenz und die Sehnsucht nach einer aufgeklärten Menschheit, die diesen Autor umtreiben.

Er weiß selbst, dass er den Großteil seiner Leserschaft nicht vollständig überzeugen wird. Ihm ist klar, dass die Allermeisten eine kleine Ecke für die “alten” Konzepte bewahren werden (wir verteidigen mit gutem Grund die Basis unseres Selbstbildes). Er selbst formuliert ein realistischeres Ziel: SAPOLSKY würde mit diesem Buch gerne erreichen, dass möglichst viele Menschen ein Konzept und ein Gefühl dafür entwickeln, dass wir weit weniger “unseres Glückes Schmied” sind, als das der gesunde Menschenverstand oder bestimmte politische Ideologie uns suggerieren wollen. Ja, viele von den Erfolgreichen haben sich angestrengt und haben auch widrige Bedingungen überwunden – aber sie hatten dafür eben auch die Voraussetzungen (von denen einige sehr wahrscheinlich schon bei der Gehirnentwicklung im Mutterleib geschaffen wurden)!
Wenn nur die (durch nicht selbst geschaffene und kontrollierte Bedingungen) Privilegierten unter uns mit weniger Selbstgewissheit und Arroganz auf “die da unten” schauen würden und ihnen nicht noch die Schuld für ihre weniger glückliche Lage zuschreiben würden – dann wäre SAPOLSKY sicher mit der Wirkung seines Buches zufrieden.


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