“Die dunkle Seite des Gehirns” von Prof. Stefan KÖLSCH

Bewertung: 1.5 von 5.

Dieses Buch wirft die Frage auf, wieviel Vereinfachung in einem populärwissenschaftlichen Ratgeber-Sachbuch “erlaubt” ist. Unabhängig von dem möglichen Streit um die Feinjustierung einer solchen Schwelle: Hier wurde des “Guten” zu viel getan und eindeutig eine Grenze überschritten !

Der Autor vermittelt in diesem Buch durchaus eine ganze Menge Wissen. Er schreibt über alle möglichen “unbewussten” Vorgänge im Gehirn und trägt dafür experimentelle Befunde aus ganz verschiedenen Fachdisziplinen zusammen. Wir erfahren etwas von evolutionär früh geprägten Alarm-, Stress- und Regulationssystemen, von automatisierten Verhaltensroutinen, von irrationalen und belastenden Gedankenkreisläufen, von (kognitiven) Verzerrungen unserer Wahrnehmung und unseren Bewertungsreaktionen, usw. Die Befunde entstammen u.a. aus Verhaltensforschung, Sozialpsychologie, Verhaltensökonomie, Wahrnehmungspsychologie und Neurowissenschaften.

Es ist sicher ganz interessant, auf diesem Weg zu erfahren, was unser Gehirn alles leistet, ohne dass uns diese Inhalte und Prozesse bewusst werden. Ebenfalls lehrreich ist es, sich klarzumachen, dass all diese verschiedenartigsten Vorgänge zwar einerseits einen hohen Überlebenswert hatten (und haben) und auch absolut notwendig notwendig sind, um die begrenzten Kapazitäten unserer bewussten Informationsverarbeitung vor hoffnungsloser Überlastung zu schützen. Und dass diese Prozesse andererseits auch Nachteile und Risiken in sich tragen, u.a. weil sie in einer Zeit ausgebildet wurden, in der es um das Überleben in der Savanne und nicht in einem digital-vernetzten Großraumbüro ging.
Spannend ist auch, wie bedeutsam für unsere automatischen Funktionen und Bewertungen die Zugehörigkeit bzw. Anpassung an die Bezugsgruppe sind.
Der Autor bietet damit einem (bisher nur dezent vorinformierten) Publikum sicherlich eine Menge Stoff zum Nachdenken und zum Staunen.

Es gibt allerdings zwei bedeutsame Gründe, warum dieses Buch m.E. trotzdem alles andere als empfehlenswert ist:

Aus fachlicher Sicht ist die Zusammenfassung all der beschriebenen Phänomene in einer Instanz namens “Unterbewusstsein” tatsächlich auch dann nicht akzeptabel, wenn man einen Schwerpunkt auf eine möglichst einfache und prägnante Darstellung legt. Der Autor benutzt den Begriff so inflationär, dass immer mehr der Eindruck entstehen muss, hier sei sozusagen eine klar definierte Funktionseinheit in unserem Gehirn (in seiner “dunklen” Seite) für all die dargestellten Prozesse verantwortlich.
Das wird der Komplexität unserer extrem vernetzten neuronalen Netzwerke nicht einmal ansatzweise gerecht; hier wird tatsächlich die Realität verfälscht.

Noch problematischer ist eine zweite Botschaft:
KÖLSCH erweckt den Eindruck, dass diesem unbewussten System ein genauso klar definierter “bewusster” Gehirnteil gegenüberstände. In einer geradezu abenteuerlichen Eindeutigkeit postuliert der Autor die Möglichkeit, auf dieser bewussten Ebene all den im Untergrund wirksamen Prägungen flugs zu entkommen.
Es scheint wie ein Kippschalter zu funktionieren: Schalten wir unser Bewusstsein ein (indem wir uns z.B. bestimmte Fragen stellen oder uns an unsere Ziele erinnern), erheben wir uns über unseren biologisch-evolutionären oder lebensgeschichtlichen Ballast und erlangen Freiheit und Autonomie. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute….
Die Vorstellung, dass der bewusste Anteil unseres Denken, Fühlen und Handelns in keinerlei Abhängigkeit von Vorerfahrungen und außerhalb jeder Kausalkette stände, ist so absurd, dass es einem fast den Atem verschlägt. Tatsächlich traut sich der Autor, mal so eben in einem Nebensatz die Sichtweisen von etlichen Schwergewichten der Hirn- und Bewusstseinsforschung (z.B. Gerhard ROTH) als “Irrtum” abzuqualifizieren: Sie hätten offenbar übersehen, dass wir ja als bewusst handelnde Wesen ganz automatisch und selbstverständlich einen vollständig autonomen, freien Willen hätten.

Das könnte man vielleicht noch als eher abstrakten Streit auf der Theorieebene abtun. Aber: Es handelt sich ja auch um einen Ratgeber, also um ein Selbsthilfe-Buch.
Seine extrem vereinfachte Sicht auf Gehirn und Psyche bildet für der Autor leider auch die Grundlage für seine Tipps und Ratschläge: So einfach wie das Einschalten des Bewusstseins sind auch die Bekämpfung von lästigen oder quälenden Gedankenkreisläufen oder die Befreiung von inneren Blockaden. Man muss nur die Aufmerksamkeit auf seine Ziele lenken und sich an mögliche unbewusste Mechanismen erinnern – und schon hat man der “dunklen” Seite des Gehirns ein Schnippchen geschlagen…
Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man darüber lachen…

Es gibt zum Glück viele alternative Bücher, die seriöse Information über die Ergebnisse der modernen Neurowissenschaften liefern; das gleiche gilt für fachlich fundierte Selbsthilfeliteratur.
Dieses Buch muss es wirklich nicht sein!

Kategorien-

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert