“Wie wir werden, wer wir sind” – von Joachim BAUER

Bewertung: 3 von 5.

Diesem Titel konnte ich nicht widerstehen: Sind mir doch die Begriffe “Selbst” (oder “Ich” oder “Identität”) und “Resonanz” seit einiger Zeit sehr nahe und vertraut.
Was würde wohl BAUER zu diesem spannenden Thema sagen?

In diesem Buch wird ein in sich stimmiges Modell dargestellt, das erklären soll, wie aus dem extrem unfertigen menschlichen Säugling ein erwachsener Mensch wird, der sich als Träger eines einzigartigen, konsistenten und reflexiven Selbst erlebt.
Grundlage für diesen ungeheuer komplexen Prozess – so ist der Autor fest überzeugt – sind permanente Resonanz-Vorgänge, die sich im Kontakt mit der sozialen Umwelt abspielen.
Die entscheidende Bedeutung dieser Interaktion mit den Bezugspersonen insbesondere für die frühe Kindheit zu demonstrieren, ist das zentrale Anliegen des Autors – auch wenn er spätere Phasen der Entwicklung des inneren Selbst-Systems (z.B. in Liebesbeziehungen) ebenfalls betrachtet.

Um der Vielschichtigkeit des Buches gerecht zu werden, möchte ich die verschiedenen Inhalts- und Darstellungsebenen hier einmal ganz bewusst trennen – was der Autor selbst offensichtlich nicht zu seinen Aufgaben zählt:

  1. Es werden biologische, hirnphysiologische und entwicklungspsychologische Erkenntnisse und Befunde angeführt, die die Notwendigkeit der – im wahrsten Sinne – hautengen Pflege und Begleitung des Kindes eindrücklich belegen. Es geht um Gehirnreifung, Bindung, Urvertrauen, Spiegelneurone, Selbstwirksamkeit, usw.
  2. Abgeleitet werden daraus konkrete Schlussfolgerungen für die frühe Versorgung und weitere Pädagogik in und außerhalb der familiären Nahumgebung. Es gilt, den emotionalen und sozialen Bedürfnissen des jungen Kindes möglichst weitgehend gerecht zu werden (was bestimmte Bedingungen – auch in der öffentlichen Früherziehung – voraussetzt).
  3. Nach und nach entfaltet sich auf dieser Grundlage wiederum ein komplettes Theoriegebäude, das – sicher nicht ganz zufällig – weitgehend dem psychoanalytischen Selbst-Modell entspricht. Hier spielen dann vertikale und horizontale Selbst-Transfers und Introjekte (von anderen übernommene Selbstanteile) eine Rolle.
  4. Der Autor nimmt immer wieder Stellung zu allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen und mahnt sehr eindringlich z.B. vor den Folgen einer zu starken Individualisierung und Technisierung.
  5. Im Laufe des Buches mehren sich die Hinweise auf die Bedeutung psychotherapeutischer Hilfestellungen – für den Fall, dass es Störungen in der hochkomplexen Selbstentwicklung geben sollte. Dass hier nur eine bestimmte Therapierichtung gemeint ist, versteht sich an dieser Stelle schon von selbst.

Wie ist nun das Ganze zu bewerten?
Das hängt sicher davon ab, von welcher Seite man kommt bzw. auf welcher (psychologischen/psychotherapeutischen) Seite man steht:
Grundsätzlich ist erstmal anzuerkennen, dass der Autor wirklich sehr plastisch darstellt, dass unser Selbst (also der Kern unserer Persönlichkeit) immer und notwendigerweise ein soziales Selbst ist. Da wächst nichts von innen heraus, was möglichst auch noch vor äußeren Einflüssen geschützt werden müsste. Wir sind von unserer Biologie und von unserem Wesen her zuallererst sozial – die Abgrenzung von dem Rest der Welt (oft ist es die Mutter) ist schon ein erster Meilenstein der Entwicklung.
Wenn man von wenigen – völlig unnötigen – Seitenhieben auf “böse” Fachleute absieht (die angeblich schon die ganz kleinen Kinder dressieren wollen), lassen sich die pädagogischen Forderungen und Ratschläge des Autors gut nachvollziehen.
Richtig schwierig wird es allerdings, wenn BAUER so tut, als ob das ganze – so schön plausible – analytische Selbstmodell genauso eindeutig von experimentellen Befunden gestützt wird wie der Hunger des Säuglings nach sozialer Stimulation. Am Ende des Buches scheint der Autor völlig vergessen zu haben, dass es sich bei den Aspekten der Selbstsysteme um theoretische Konstrukte, um Metaphern handelt – und nicht um reale biologische bzw. physiologische Phänomene.

Daneben ist wohl die Vermischung der Ebenen der größte Kritikpunkt an diesem Buch. Es wird nicht ausreichend deutlich, wann BAUER als Gehirn-Wissenschaftler, als analytischer Theoretiker, als Pädagoge, als mahnender Bürger oder als Vertreter einer bestimmten psychotherapeutischen Methode auftritt.
Man darf ihm wohl unterstellen, dass er für ihn persönlich diese Aspekte untrennbar verbunden sind. Wenn es ihm darum ging, genau das deutlich zu machen, ist ihm das zweifellos gelungen. Aber damit nimmt er dem Buch – sicher ungewollt – auch ein wenig Überzeugungskraft weg.

Es ist – ohne Zweifel – ein anregendes Buch. Mit etwas weniger Pathos und Selbstgewissheit und etwas mehr kritisch-neutraler Distanz wäre es ein noch besseres daraus geworden.
Wer sich für die Bedürfnisse von Kindern in den ersten zwei Lebensjahren interessiert, findet hier eine sehr anschauliche Quelle.

“Der Konsum – Kompass” von Katharina SCHICKLING

Wer würde bei diesem Titel nicht an den super-erfolgreichen Ernährungs-Kompass denken? Vom Marketing her betrachtet ist das schonmal ein guter Startpunkt.

Das Bedürfnis nach verlässlichen Informationen, die den persönlichen Alltagsweg zu einem nachhaltigen Leben begleiten können, ist ohne Zweifel groß. Dabei kommt uns gerade in unser Rolle als Konsumenten eine besondere Macht – und damit auch Verantwortung – zu. Diesen Einfluss können wir jeden Tag so ganz nebenbei ausüben; dazu müssen wir weder in unserem Bekanntenkreis missionieren noch politisch aktiv werden.
Bewusstes Konsumieren setzt gleich an zwei Schaltstellen ein: Ich verändere meine persönliche Öko-Bilanz und gebe gleichzeitig Nachfrage-Signale an die Produzenten.
Wenn uns schon die Marktwirtschaft als das ultimative System angepriesen wird, dann sollten wir deren Regeln auch nutzen. Das sollte einleuchtend sein.

Die Dokumentarfilmerin und Autorin SCHICKLING legt ein Buch vor, das zu den wichtigsten Konsumfragestellungen – Müll, Verkehr, Energie, Ernährung, Haushalt – seriöse, aktiv recherchierte und bewertete Informationen anbietet.
Sie tut das in einer aufgelockerten Form: Sachinformationen (Befunde aus Untersuchungen, Tabellen und Schlussfolgerungen) werden eingebettet in einen persönlich gehaltenen Erzählstil, in dem auch private Fragestellungen und Anekdoten ihren Platz finden. Zu erwähnen wäre, dass sich die Autorin auf keinem Gebiet als Öko-Eiferin zeigt: Kompromisse und Widersprüchlichkeiten sind erlaubt.
So ist ein Buch entstanden, dass sowohl angenehm und leicht zu lesen ist, gleichzeitig aber voller – durchaus auch vertiefender – Informationen steckt.

Als Leser/in fühlt man sich gesehen und verstanden mit seinen Fragen: Sollte man eher auf die Verpackung, die Art der Erzeugung/Produktion oder auf die Transportwege achten? Warum gibt es häufig widersprüchliche Informationen – z.B. zur Öko-Bilanz verschiedener Verkehrsmittel? Ist Bio immer besser? Welchen Umwelt-Labeln darf man trauen? Ist Internet-Shopping immer böse? Gibt es vertretbare Ausnahmen bei der Bevorzugung lokaler Produkte? Wo funktioniert eigentlich das Recycling?

Bei den Antworten gerät die Autorin häufig in ein unvermeidliches Dilemma: Lässt man nämlich die Pauschal-Aussagen hinter sich, wird die Sache eben auch komplizierter. Auf einmal kommt es auf die Feinheiten an: Je nach Produkt, Jahreszeit, Entfernung, Transportmittel oder Verpackung gibt es plötzlich keine eindeutig richtige Antwort mehr. Es braucht so etwas wie einen systemischen Blick, der mehrere Faktoren im Auge behält.
Diese anspruchsvolle Gradwanderung zwischen Differenzierung und Klarheit gelingt SCHICKLING sehr gut. Das, was von ihr auf der Detailebene mit der Lupe angeschaut wird, fasst sie am Ende jedes Abschnittes in nachvollziehbaren und verständlichen Merksätzen zusammen – manchmal hart an der Grenze der Banalität.

Man könnte kritisch fragen, wozu man sich mit all diese Feinheiten in z.T. widersprüchlichen Studien beschäftigen soll, wenn am Ende doch überwiegend die naheliegenden und meist bekannten Schlussfolgerungen stehen: Wer hätte gedacht, dass weniger Auto- und mehr Fahrradfahren nachhaltig ist?!
Tatsächlich könnte man sich dieses Buch (und damit auch die für Druck und Vertrieb aufgewandten Ressourcen) sparen, wenn man letztlich nur die zehn goldenen Regeln am Ende will. Angesprochen wird hier ein Publikum, das es etwas genauer wissen will; für das es einen Mehrwert bedeutet, auch Hintergründe und Abwägungen zu verstehen.

Die Autorin bietet einen Kompass – kein Kompendium, in dem für jedes erdenkliche Produkt ein ökologischer Fußabdruck berechnet wäre. Geboten wird solide Orientierung in unwegsamem Gelände. In wichtigen Fragen wird dem Verbraucher eine journalistisch aufbereitete Informationskost angeboten, die viel eigene Recherchearbeit erspart.
An weiterführenden Hinweisen (in der Regel Links) ist aber auch kein Mangel.

Auch wenn sich der aufgeklärte Nachhaltigkeits-Konsument durch das Buch sicher in seinem Anliegen bestätigt und motiviert fühlt: SCHICKLING hat dankenswerter Weise nicht auf eine relativierende Schlussbemerkung verzichtet: Die großen Umsteuerungs-Entscheidungen müssen politisch gefällt werden!
Wenn man das nicht aus dem Auge verliert, schadet es sicherlich nicht, wenn auch der Verbraucher im Hintergrund beständig Druck macht. Das ist nicht zuletzt auch für das eigene Selbstbild wichtig: Ein ökologisch aufgehelltes Gesicht guckt einem im Spiegel viel freundlicher an.

Sorgen um Trump

Ja, ich mache mir ernsthafte Sorgen um Trump. Ich würde es ihm zuliebe sehr bedauern, wenn der Covid 19-Virus bei ihm nur einen sehr milden Krankheitsverlauf auslösen würde.

Nicht etwa, weil ich ihm eine Strafe oder sonst was Böses als Vergeltung für seine Ignoranz und folgenreiche Fehlentscheidungen an den Hals (“in den Hals”) wünsche.
Sondern weil eine so rasche Genesung ihn um wertvolle Erfahrungen und Erkenntnisse bringen würde.
Er würde vielleicht nicht lernen, dass Menschen – unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer sozialen Stellung – verwundbare Wesen sind. Dass Gesundheit wichtiger ist als Reichtum oder wirtschaftlicher Erfolg. Dass es doch ziemlich viel Sinn macht, wissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen. Dass die Verachtung von Schwäche, Misserfolg und Hilfsbedürftigkeit nur so lange trägt, wie man sich selbst als unverwundbar wähnt.

Ich gönne diesem Menschen in den nächsten Tagen einige intensive Erfahrungen. Vielleicht lassen sie ihn als Persönlichkeit ein wenig reifen. Möglicherweise hilft ihm das dabei, die Zeit nach seiner – durch die Wahl im November hoffentlich eindeutig beendete – Präsidentschaft irgendwie sinnvoll zu bewältigen.

Noch wichtiger als die Auswirkung der Infektion auf die Psyche von Trump sind allerdings die Folgen für das Wahlergebnis. Ein sehr schwerer Verlauf könnte einen Mitleidseffekt auslösen – das kann die Welt nicht gebrauchen.
Ich wünsche Trump auch nicht den Tod. Das wäre mit meinen Moralbegriffen nicht vereinbar. Er soll die Wahl mit einem super-klaren Ergebnis verlieren. Und soll so die Chance haben, auch aus diesem – hoffentlich grandiosen – Scheitern etwas zu lernen.


Die Chancen, dass er dies auch kann, schätze ich als sehr gering ein.

Die 30-Jahr-Feier

Ich habe heute die Rede unseres Bundespräsidenten und ein wenig Rahmenprogramm gesehen.
Dabei habe ich überlegt, in wie vielen Staaten dieser Welt wohl eine vergleichbare Veranstaltung zu einem Ereignis von nationaler Bedeutung in dieser angenehmen Art abgelaufen wäre.

Es geht mir nicht darum, unser Land irgendwie hervorzuheben. Was ich ausdrücken will, ist meine Dankbarkeit über das Glück, in einem Staatswesen leben zu dürfen, in dem man sich weitgehend mit dem identifizieren kann, was sein oberster Repräsentant öffentlich sagt.
Man muss sich nicht schämen für pathetischen Nationalstolz, für säbelrasselnden Patriotismus oder für überhebliche Selbstbeweihräucherung. Hier muss kein Deutschland “great again” werden oder geworden sein. Alles ist maßvoll, abgewogen, selbstkritisch und uneitel. Niemand wird ausgegrenzt, niemand muss ich unverstanden fühlen, nichts wird glorifiziert.

Die musikalischen Beiträge, die ich gesehen habe, passten ins Bild. Es war ein modernes Deutschland, das sich da gezeigt hat – keine steife Hochkultur-Klassik, erst recht keine Marschmusik.

Wie sympathisch auch eine offizielle Feierstunde sein kann!

Ob den Menschen, die sich gerade so leidenschaftlich von unserem Gemeinwesen und deren Institutionen abgrenzen wollen, das alles bewusst ist?
In welcher Art Staat wollen sie leben?
Was wurde versäumt – dass es nicht gelungen ist, sie von den Stärken unserer Gesellschaft zu überzeugen?

Ich finde jedenfalls: So darf man feiern – so darf sich auch eine Nation mal feiern!
Mit dem Stil von Trump, Putin, Erdogan (und vielen anderen) hat das nichts zu tun.