„Kein Ich, kein Problem“ von Chris NIEBAUER

NIEBAUER ist ein dem Buddhismus zugetaner Neurowissenschaftler, der sehr stark die Unterschiede zwischen den Funktionsweisen und Bewusstseinsdimensionen unserer beiden Gehirnhälften betont. Seine Mission in diesem Buch ist es, buddhistische Grundüberzeugungen durch neuro- und kognitionswissenschaftliche Befunde zu untermauern.
Der Autor geht zunächst sehr ausführlich auf den Vorrang ein, den die linke Gehirnhälfte speziell in unserer westlichen Moderne erobert hat. Dabei geht es ihm nicht nur um die hohe Gewichtung des sprachlich-analytisch-logischen Denkens, sondern auch um die „Konstruktion“ eines stabilen, autonomen „Ich“, das sich als pausenlos interpretierende Instanz mit allen Empfindungen, Gedanken und Gefühlen identifiziert (und bei der Suche nach Mustern und Regeln auch Zusammenhänge erfindet, die es gar nicht gibt).
Diese Dominanz der linken Hälfte gehe auf Kosten des eher bildhaft-ganzheitlich-intuitiv-fluiden Weltzugangs der rechten Gehirnhälfte, die eher eine Art Bewusstseinsstrom ausbildete und die innere Distanzierung und Relativierung gegenüber inneren und äußeren Ereignissen ermöglichten. Östliche meditative Praktiken schaffen – so die Überzeugung des Autors – eine Stärkung dieses „rechten“ Erlebens – bis hin zu einer weitgehenden Auflösung der „Illusion“ eines stabilen Ichs.
Die grundlegenden neurologischen Belege werden u.a. aus Beobachtungen und Experimenten mit sog. „Split-Brain-Patienten“ abgeleitet. NIEBAUER interpretiert die erstaunlichen Befunde als Hinweis darauf, dass es tatsächlich zwei unterschiedliche Bewusstseine in unserem Gehirn geben kann.
Um auf den Titel des Buches zu kommen: Der Autor ist überzeugt davon, dass wir mit einer distanziert-beobachtenden Haltung gegenüber unseren Bewusstseinsinhalten nicht nur mehr Ruhe und Gelassenheit entwickeln könnten, sondern uns tatsächlich große Anteile von psychischen Leid ersparen könnten.
Es klingt ein wenig wie Zauberei: Wenn wir das Konzept eines „Ich“ aufgeben (nicht nur theoretisch, sondern in der geübten Praxis), müssen wir uns nicht mehr mit den Empfindungen, Gedanken und Bewertungen identifizieren, die in unserem Bewusstseinsfeld auftauchen. Sie haben dann nicht mehr die Kraft und Bedeutung, uns (was immer das überhaupt ist) wirklich zu quälen. Sie erscheinen so fast zufällig, willkürlich, flüchtig und ohne nachhaltige Bedeutung (die ja erst unsere linke Hirnhälfte schafft).
Insgesamt hat NIEBAUER ein anregendes Buch vorgelegt, in dem interessierte Leser/innen die Berührungspunkte zwischen Neurowissenschaften und östlicher Bewusstseinspraxis nachvollziehen können. Man darf allerdings keine neutrale oder gar kritische Betrachtung erwarten: Der Autor will überzeugen und ist „beseelt“ davon, eine hilfreiche Botschaft weiterzugeben. Dies tut er in einer angenehmen und motivierenden Sprache.
Seine Beispiele sind gut gewählt – aber die Grenzen seines Ansatzes sind nicht weit entfernt. Versetzt man sich in entsprechend eindeutige Situationen (Hunger, Schmerz, Folter, existentielle Verlusterfahrungen), erscheint die innere Distanzierung durch Aufgabe des Selbst nicht mehr besonders plausibel.
Das wiederkehrende Argument, man könne im Gehirn den Sitz des Ichs strukturell nicht ausmachen, überzeugt auch nicht wirklich: Was spräche dagegen, dieses Selbsterleben prozesshaft in einer – in besonderer Weise synchronisierte – Aktivierung bestimmter neuronalen Netze zu suchen?
Erwähnt werden muss auch, dass die extrem strikte Aufteilung bzw. Zuschreibung bestimmter Funktionen auf die beiden Hirnhälften längst nicht (mehr) wissenschaftlicher Konsens ist.
Trotz dieser Einwände lohnt sich das Lesen dieses Buches durchaus – wenn man es nicht als einzige Quelle der Information über das Gehirn benutzt. Die Einblicke in die – manchmal widersprüchlichen und täuschenden – Ergebnisse neuronaler Prozesse stellen manche vermeintlichen Selbstverständlichkeiten in Frage. Und dass unser neurologisches Ich ganz sicher nicht dem intuitiven Alltagsverständnis entspricht, kann NIEBAUER auf anschauliche Art demonstrieren (dazu muss man nicht allen seinen Schlussfolgerungen folgen).
(Ein Tipp: Bei einem nicht ganz unbekannten Versandhändler bekommt man die englische Originalfassung fast geschenkt).
„Nano“ von Phillip P. PETERSON

Das zentrale Thema dieses Wissenschafts-Thrillers ist die Hybris des Menschen hinsichtlich seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten, Zukunftstechnologien zu beherrschen. Dargestellt wird dieses Problem am Beispiel der (fortgeschrittenen) Nanotechnologie.
Die Story beinhaltet die sehr detaillierte Darstellung der Folgen eines aus dem Ruder gelaufenen Experimentes mit Nanomaschinen, die sich selber replizieren (vervielfältigen) können. Diese Fähigkeit sollte dann die Grundlage dafür sein, dass durch entsprechende Programmierung dieser Miniatursysteme später beliebige Aufgaben bewältigt werden könnten. Dabei geht es in erster Linie darum, aus den in der Umwelt vorgefundenen Materialien so ziemlich alle denkbaren Produkte zu erstellen – ohne dass dies noch nennenswerter menschlicher Anstrengung bedürfte.
Diese Nanomaschinen würden dann – so das langfristige Ziel – mit einer geradezu unvorstellbaren (und unerbittlichen) Konsequenz die gewünschten Dinge Atom für Atom zusammensetzen – solange ihnen geeignete Rohstoffe zur Verfügung ständen.
Man darf wohl verraten, dass dieses erste Experiment scheitert und dadurch Konsequenzen entstehen, durch die die Menschheit in einem bisher unbekannten Ausmaß herausgefordert wird.
So wie es sich für einen solchen Science-Fiction-Roman gehört, wird die heraufziehende Katastrophe natürlich personalisiert. Wir lernen einige Wissenschaftler/innen und einige Politiker/innen kennen, die im Verlaufe des Buches mit ihren sehr unterschiedlichen Mitteln versuchen, der Problematik Herr zu werden. Als zentrale Identifikationsfigur fungiert eine eine junge Forscherin, die nach dem spektakulären Verlust ihres Mannes mit ihrer siebenjährigen Tochter Strapazen und Traumatisierungen erlebt, die wohl gleich mehrere lebenslange Psychiatrie-Aufenthalte begründen könnten (für Mutter und Kind).
Der Wissensschafts-Fraktion (in der es auch einen „Bösen“ gibt – natürlich den Chef) steht die politische Entscheider-Riege gegenüber, in der – natürlich – ganz besondere Prioritäten bestehen. Der Bundeskanzler selbst ist übrigens von Beginn an direkt in das Geschehen einbezogen und ist daher dort der wichtigste Protagonist. Er gehört zu den wenigen Figuren, die sich durch eine gewisse innere Ambivalenz auszeichnen.
Das – sehr konfliktträchtige – Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik wird somit zu einem zweiten Grundsatzthema des Buches.
Als Katastrophen-Thriller hat dieses Buch einen klar definierten Spannungsbogen: Es bleibt – Überraschung! – so ziemlich bis zur letzten Sekunde offen, ob das wahrhaft grenzenlose Unheil abgewendet werden kann.
Es gibt zwar eine sehr dynamische Eskalationsdynamik, die aber irgendwie ziemlich gradlinig verläuft und wenig echte Überraschungen enthält. Der ganze Plot wirkt ein wenig eindimensional (in kleinen Stufen immer mehr desselben…).
Man würde einigen Figuren ein bisschen mehr psychisches Eigenleben wünschen, hätte gerne mehr Introspektion bzgl. der jeweiligen Empfindungen. So kommen einem die beteiligten Personen nicht wirklich nahe – insbesondere das Kind bleibt irgendwie ein unbekanntes Wesen mit übermenschlichen physischen und psychischen Kräften.
Vielleicht trägt aber auch die Länge des Buches dazu bei, dass letztlich der Funke nicht so recht überspringt. Einen ersten Geschmack davon bekommt man schon in dem quälend langsamen Auftakt: Die Anreise des Kanzlers wird wirklich übertrieben minutiös geschildert. Die meisten Leser/innen werden wohl ziemlich froh sein, wenn die Sache dann viele hundert Seiten später endlich ein Ende gefunden hat (welches, ist dann für einige sicher schon fast egal…).
Natürlich ist die Nano-Technologie eine extrem interessante Zukunftstechnologie. Aber auch Wissenschafts-Nerds werden wohl mit den dargebotenen Hintergrundinformationen nicht so richtig glücklich sein. Es geht dem Autor ganz eindeutig mehr um die spektakulären Katastrophen-Szenarien als um Wissenschafts-Vermittlung.
Für eine echte Empfehlung reicht das alles nicht.
18.05.2023 Ein großes Versagen

Die Auseinandersetzungen der letzten Wochen um das sog. Heizungsgesetz, um die Politik der Grünen insgesamt und um die Vorgänge im Habeck-Ministerium haben mein Vertrauen in die Möglichkeiten eines demokratischen Wandels in Richtung Nachhaltigkeit und Klimaschutz erheblich erschüttert.
Politik und Medien versagen in einem Umfang, den ich mir nach den Ereignissen, Erkenntnissen und Diskussionen der letzten Jahre nicht mehr hätte vorstellen können. Die Einstellungen und das Wahlverhalten der Bürger/innen weisen auf eine dramatische Ignoranz gegenüber den anstehenden Herausforderungen und Notwendigkeiten.
Es ist wirklich schwer auszuhalten!
Was meine ich genau?
Es ist nicht zu übersehen, dass ein großer Teil des politischen Spektrums (bis weit hinein in die Ampel-Koalition) nicht bereit bzw. in der Lage ist, echte Verantwortung für das (vermeintlich allseits geteilte) Ziel der CO2-Reduzierung zu übernehmen. Statt gemeinsam darauf hinzuwirken, dass in der Bevölkerung eine zuversichtliche Aufbruchsstimmung („gemeinsam für ein großes Ziel“) entsteht, statt die Unvermeidlichkeit einiger (überwiegend vorübergehender) Zumutungen gemeinsam zu erklären, nutzen alle Parteien um die GRÜNEN herum die Gelegenheit, eine Anti-Stimmung nicht nur zu bedienen, sondern sie mutwillig zu verstärken.
All das dient ganz offensichtlich nicht dem Streit um bessere Lösungen (die werden nämlich gar nicht angeboten), sondern hat einzig und allein das Ziel, parteitaktische Vorteile zu erringen und die GRÜNEN (insbesondere den Vizekanzler) so weit wie möglich zu schwächen. Und das passiert völlig losgelöst davon, dass dieser Minister u.a. gerade mal durch unglaublichen Einsatz die größte drohende Wirtschaftskrise der letzten Jahrzehnte abgewendet hat.
Statt genau dieses verantwortungslose Treiben zu entlarven, springen weite Teile der Medien auf den Zug auf: Man kann endlich mal wieder auf die Jagd gehen, kann vermeintliche Skandale und finstere Machenschaften durch gebetsmühlenartige Wiederholungen aufblasen. Es scheint allzu verlockend zu sein: Wenn die Materie zu komplex ist und es wenig Anlass für positive Botschaften gibt, dann arbeitet man sich an Personen ab: Da werden Verstöße gegen Richtlinien in Besetzungsverfahren zu einer „allgemeinen Vetternwirtschaft“ und persönliche Bekanntschaften zu „Clan-Strukturen“ – ohne das einem der Beteiligten eine persönliche Vorteilsnahme oder Bereicherung vorgeworfen werden kann.
Aber es geht mir nicht um einen Staatssekretär (obwohl der leider fachlich sehr gut und wichtig war). Es geht darum, dass unsere Gesellschaft einfach nicht in der Lage ist, die drängenden Prioritäten zu erkennen, obwohl diese mit jedem neuen Klimabericht eindeutiger und dramatischer vor Augen stehen. Die Menschen wollen nicht sehen, dass ihre panische Angst vor Wohlstandsverlusten in keinem Verhältnis zu dem stehen, was spätestens in den nächsten 2 bis 4 Jahrzehnten auf uns zurollt. Und da der Mensch nun mal durch die Evolution so gepolt ist, brauchen wir verantwortungsbereite Eliten in Politik und Medien. Und diese – letztlich moralische – Verantwortung darf einfach nicht von Kalkulationen über Vorteile bei der nächsten Landtagswahl abhängen.
Wenn das in unserem System nicht anders geht – dann haben wir vielleicht das falsche System…
„Erschütterungen“ von Joachim GAUCK und Helga HIRSCH

GAUCK war als Bundespräsident – und ist jetzt in der Zeit danach – ein Mann der starken, wohl gesetzten Worte. Diese Kompetenz setzt er in seinem neuen Buch engagiert ein, um seinen Sorgen um die Zukunft unserer Demokratie Ausdruck zu verleihen. Mit der Co-Autorin, der Publizistin Helga HIRSCH, arbeitet GAUCK schon lange zusammen; da das Buch aus der Ich-Perspektive GAUCKs geschrieben wurde, werde ich im Folgenden nur noch ihn als Autor nennen.
Im ersten Teil des Buches geht es um die Erschütterungen im Zusammenhang mit der außenpolitischen und militärischen Zeitenwende nach dem russischen Angriff auf die Ukraine.
GAUCK geht die Sache zunächst gleich auf mehreren Ebenen historisch an:
– Er setzt sich kritisch mit der deutschen Ostpolitik auseinander, der er in der zweiten Phase – also nach dem Zerfall der UDSSR – große Versäumnisse vorhält.
– Er schildert die Entwicklung des Putin-Russlands zu einem autoritären, nationalistisch-imperialistischen Staat.
– Die Geschichte der Ukraine wird daraufhin analysiert, wie sich aus ihrer wechselhaften Geschichte eine nationale Identität entwickeln konnte.
– Besonders kritisch bewertet GAUCK den – aus seiner Sicht ignoranten und verantwortungslosen – Umgang der deutschen Politik mit den Übergriffen Putins auf die Krim und die Ost-Ukraine im Jahr 2014.
Als Schlussfolgerungen aus diesen – mit vielen Sachinformationen unterfütterten – Betrachtungen gelangt GAUCK zu einer eindeutigen Positionierung: Es bleibe für Europa allgemein und für Deutschland im Besonderen keine Alternative zu einer massiven Verstärkung der militärischen Verteidigungsfähigkeit. Diese Maßnahmen müssten begleitet und getragen sein durch eine entsprechende Bereitschaft, sich weiteren imperialistischen Vorstößen im Ernstfall auch mit Waffengewalt entgegenzustellen – und so unsere freiheitlich-demokratische Lebensform zu erhalten.
Der zweite Teil des Buches wendet sich der innergesellschaftlichen Situation zu.
GAUCK skizziert vor allem drei kritische Entwicklungslinien, durch die er die Stabilität unseres Gemeinwesens zwar nicht akut bedroht, aber tendenziell gefährdet sieht:
– In Krisen- und Überforderungszeiten bestehe grundsätzlich die Gefahr, dass der zu Autoritarismus neigende Teil der Bevölkerung für Parolen und Scheinlösungen rechter Populisten anfällig würden.
– Eine neue extrem libertäre Bewegung zeige einen übersteigerten Individualismus, der staatliche Regelungen prinzipiell als freiheitseinschränkend bewerte und nur noch eigene Haltungen und Interessen als Maßstab anerkenne.
– Sorgen machen dem Autor auch die Auswüchse einer „woken“ Bewegung, deren dogmatischer Kampf gegen „weißen Rassismus“ eher zu einer neuen Spaltung der Gesellschaft beitrage.
GAUCK appelliert leidenschaftlich an die demokratische Mitte der Gesellschaft, aktiv Verantwortung für den Erhalt unserer liberalen Demokratie zu übernehmen und damit diesen Fehlentwicklungen eine engagierte Zivilgesellschaft entgegenzusetzen.
Als Leser/in kann man den Informationen und Argumentationslinien sehr gut folgen. Der Text ist hervorragend strukturiert, die Sprache ist schnörkellos und klar.
GAUCK versteckt sich mit seinen Überzeugungen nicht: Er hat ein Meinungsbuch geschrieben, er will überzeugen. Aber er führt für seine Sichtweisen jede Menge Begründungen ins Feld, taucht dabei in einer Tiefe in historische Details ein, die erhellt, zugleich aber nicht überfordert.
GAUCK legt an den entscheidenden Stellen auch offen, dass seine Werte und Überzeugungen durch seine persönliche Lebensgeschichte geprägt wurden: Seine hohe Gewichtung der demokratischen Rechte stammt nicht aus der gelebten Selbstverständlichkeit, sondern aus der Perspektive eines Freiheitskämpfers in einem Unrechtsstaat.
Ohne Zweifel untermauert der Ex-Bundespräsident auch mit diesem Buch sein Renommee als eine moralische Instanz im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs. Seinen genauen Beobachtungen und klugen Schlussfolgerungen kann man – soweit man sich nicht an den Rändern des politischen Spektrums bewegt – in weiten Teilen problemlos folgen. Das trifft insbesondere auf seine Mahnung an die politischen Entscheidungsträger zu: Deren Aufgabe sei es nämlich, in kritischen Phasen die als notwendig erkannten Transformationsschritte auch gegen Widerstände und populistische Meinungsmache durchzuhalten – statt sich wahltaktisch auf „die Stimme des Volkes“ in Meinungsumfragenzu beziehen.
Auf zwei Punkte sei trotzdem hingewiesen:
– Einen Teil seiner Leserschaft wird GAUCK vermutlich mit einigen Formulierungen zu der relativen Bedeutung von „Freiheit“ und „Leben“ irritieren. Die von ihm aufgestellte Forderung, man müsse für die Verteidigung der Freiheitsrechte im Extremfall auch bereit sein, sein Leben (im militärischen Kampf) einzusetzen, ist im Nachkriegs-Deutschland (mit seiner eher pazifistischen Grundhaltung) sicher nicht unumstritten.
– Zwar muss sicherlich nicht jedes Buch ein Klimabuch sein – trotzdem kommt die epochale Auseinandersetzung um die Umsteuerung von einer fossilen zu einer nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensweise in dem Text eindeutig zu kurz. Hier spürt man, dass GAUCKs Biografie durch andere Themen bestimmt wurde.
Diese – allerdings – weiß er mit einer kaum zu übertreffenden Klarheit zu vermitteln. Man nimmt ihm seine Erschütterung über die dargestellten aktuellen Risiken ohne Zweifel ab.
„Das Lied der Zelle“ von Siddartha MUKHERJEE

Eine Möglichkeit, sich diesem Buch zu nähern, ist wohl der Versuch, es entweder als (populärwissenschaftliches) Sachbuch oder als (wissenschaftliches) Fachbuch (oder gar Lehrbuch) einzuordnen. Man kann an diesem Versuch nur scheitern – und genau darin liegt die Charakteristik dieser Publikation.
Der indisch-amerikanische Krebsforscher und Onkologe MUKHERJEE stellt hier die Geschichte, die Befunde und die Zukunftsperspektiven der (angewandten) Zell-Biologie in einer Informationsbreite und-tiefe dar, die einem universitären Lehrbuch zur Ehre gereichen würde. Das Buch steckt voller wissenschaftlicher Fachbegriffe; auch komplexe Hypothesen und deren Überprüfung werden ausgeführt. Man gewinnt den (vielleicht etwas naiven) Eindruck, dass man selbst als Experte kaum mehr wissen kann, als man es hier erfährt.
Was jedoch eher an ein Sachbuch für ein breiteres Publikum erinnert, ist die Einbettung dieser Faktenfülle bzw. der Stil des Autors.
MUKHERJEE verwebt dafür ein ganzes Arsenal von Darstellungsfäden:
– Er stellt sehr plastisch und detailliert die Historie der Erforschung der Grundbausteine des Lebens dar (und parallel deren medizinische Anwendung) dar,
– er personalisiert die Erkenntnisfortschritte, indem er die jeweils beteiligten Wissenschaftler/innen vorstellt (einschließlich ihrer Beziehungen und Rivalitäten),
– er personalisiert die mühsamen und opferreichen Behandlungsfortschritte durch den empathischen Bezug auf einzelne Patienten und deren Schicksale,
– er bringt sich als Forscher und Arzt selbst als ein fühlendes Wesen ein, das auf Erfolge und Misserfolge und auch auf das Leid seiner Patienten emotional reagiert,
– er lässt einen Blick auf seine inneren Reflexionen und Abwägungen hinsichtlich der Zukunftsperspektiven seiner Wissenschaft zu und
– er bringt sich auch als Betroffener (einer depressiven Erkrankung) ein.
Und – als ob das nicht genug wäre – wird dieses Potpourri in einer stellenweise fast poetischen Sprache dargeboten, in die immer wieder Formulierungen eingehen, die fernab von jeder wissenschaftlicher Nüchternheit stehen.
Da die Wissenschaft von den Zellen so grundsätzliche Bedeutung hat, ist das Buch von MUKHERJEE in weiten Teilen auch eine historisch orientierte Betrachtung von Biologie und Medizin insgesamt. Es gibt wohl kaum einen Bereich, der hier nicht angesprochen würde: Es geht um Genetik, um die Zellphysiologie, um Blut, um Organe, um Knochen, um Stammzellen, um das Gehirn, um Krebs, um Infektionen, um Transplantationen, um das Immunsystem, um Aids, um Corona, um Forschungsmethoden, um die wissenschaftliche Community, usw.
Es ist wirklich schier grenzenlos…
Eine nachdenkliche Reflexion hinterlässt der Autor in seinen Schlussbetrachtungen: Er stellt hier die – auch für ihn offene – Frage, weit weit uns die technologischen Möglichkeiten der zellulären Medizin noch führen wird. Wann und wie werden wohl die bereits vorhandenen Fähigkeiten, neue Zellen, Gewebe und Organe zu züchten und genetisch zu manipulieren, dazu benutzt werden, den menschlichen Körper zu optimieren und seine Alterung bzw. Sterblichkeit zu verhindern? Werden wir dann noch die gleiche Spezies sein?
Ist nun dieses Buch ein eindeutiger Lesetipp? Das kommt darauf an!
Wer im Bereich des biologischen und medizinischen Allgemeinwissens eine Stufe weiter kommen möchte – wer sich also vom interessierten zum informierten Laien entwickeln möchte – der verhebt sich mit diesem Text höchstwahrscheinlich. So ansprechend das Material auch aufbereitet ist: Die Informationsflut wird man wohl als überfordernd erleben.
Wer allerdings die Zeit und Motivation mitbringt, sich in dieses zukunftsrelevante Thema mal so richtig einzuarbeiten (ohne gleich ein trockenes Fachbuch zu lesen) – für den öffnet sich hier eine bis zum Anschlag gefüllte Fundgrube. Und einen extrem sachkundigen und sympathischen Führer gibt es noch obendrauf.
Vielleicht wäre das Buch (für das etwas breitere Publikum) noch „perfekter“ geraten, wenn auf die letzte Detailebene verzichtet worden wäre (die sich sowieso kein Mensch merken kann). Aber dazu ist der Autor wohl zu sehr Wissenschaftler.
Dass der sehr persönliche Schreibstil auch gelegentlich ins Pathetische abrutscht, verzeiht man dem durch und durch menschenfreundlichen Autor gerne.
(Durch die Hörbuchfassung wird man übrigens durch den Vorleser, Olaf Pessler, auf extrem angenehme Weise geführt. Allerdings stellt man sich aufgrund seiner Stimme den 1970 geborenen Autor deutlich älter vor. Sicherlich eignet sich diese Vermittlungsform aber dann weniger, wenn es um das Erfassen und Speichern der unendlich vielen Details geht).
„Ein falsches Wort“ von René PFISTER

Dieses Buch Anfang Mai 2023 zu lesen, war eine besondere Erfahrung: Die Empörung über einige Äußerungen von Boris Palmer führten gerade zu einer weitgehenden Selbstkritik und seinem Parteiaustritt; in den Kommentarspalten von SPIEGEL- und ZEIT-online ging es hoch her.
Genau um ähnliche Konstellationen geht es in diesem Buch des SPIEGEL-Redakteurs (erschienen im Dezember 2022).
PFISTER widmet sich dem Phänomen „Cancel Culture“ (oder auch „Wokeness“ oder „Identitätspolitik“) überwiegend aus amerikanischer Perspektive. In einer kurzen persönlichen Einleitung stellt er dar, wie positiv die ersten Eindrücke in seiner neuen Nachbarschaft (in Washington D.C.) war: Er stieß auf ein liberales und tolerantes Klima, in dem er auch seine Kinder gut aufgehoben empfand.
Dieser Eindruck hielt nicht lange vor. Der Autor entdeckte immer mehr Anzeichen dafür, dass nicht nur im rechten Trump-Lager Demagogie und Spaltung betrieben wurde, sondern sich in weiten Teilen der amerikanischen Universitäts- und Medienlandschaft (und in einem Teil der Demokratischen Partei) ein illiberaler linker Dogmatismus verbreitet hatte, der Rede- und Meinungsfreiheit bedroht.
Den typischen Facetten dieser Entwicklung geht PFISTER anhand einiger populärer Fälle in amerikanischen Universitäten und Printmedien nach. Er stellt dar, dass z.T. einmalige „kritische“ Formulierungen (die ganz nebenbei oft die Mehrheitsmeinung der Bürger widerspiegelten), zu unbarmherzigen Social-Media-Kampagnen geführt haben. Da immer wieder auch das Umfeld (Arbeitgeber, Zeitungen, Institute) nicht den Mut hatte, sich dem massiven Druck entgegenzustellen, wurden nicht nur der freier Meinungsaustausch verhindert (durch Absage von „unliebsamen“ Vorlesungen oder Veranstaltungen). Selbst Karrieren von etablierten Wissenschaftlern oder Journalisten wurden jäh beendet.
PFISTER arbeitet heraus, dass eine aus dem Ruder gelaufene Kultur der „Empfindsamkeit“ dabei eine wesentliche Rolle spielt: An die Stelle einer argumentativen oder wissenschaftlichen Auseinandersetzung tritt immer häufiger der Hinweis, dass man (eine bestimmte marginalisierte Gruppe) sich durch bestimmte Haltungen, Inhalte oder Formulierungen „verletzt“ oder „bedroht“ fühle.
Der Autor macht sehr deutlich, dass in einem solchen Klima die Grundlage für ein Ringen um die „besseren“ Argumente bzw. um faktenbezogene Fortschritte in der Erkenntnis zum Erliegen kommen müssten. Damit nähme sich – so der Autor – das linke Lager selbst die Möglichkeit, dem rechten anti-faktischen Populismus einen offenen und rationalen Diskurs entgegenzustellen.
Kritisch betrachtet PFISTER auch das opportunistische Verhalten von Teilen der Wirtschaft, die gerne die Gelegenheit ergreifen würden, sich durch eine demonstrativ diverses Image einen moralischen Heiligenschein aufzusetzen – um so von viel grundsätzlicheren Defiziten und Problemen abzulenken.
Der entscheidende Pluspunkt dieses Buches steckt in dem Umstand, dass der Autor diese Situation aus der Perspektive eines Journalisten beschreibt, der sich selbst eindeutig dem liberal-fortschrittlichen Spektrum zuordnet. Bei PFISTER lugt an keiner Stelle Sympathie für die Haltungen und Ziele rechter Populisten um die Ecke. Man nimmt ihm ab, dass es ihm nicht um eine Schwächung von emanzipatorischen Bewegungen geht. Im Gegenteil: Immer wieder bedauert er Konstellationen, in denen Intoleranz und Dogmatismus auf Seiten von Aktivisten dem politischen Gegner inhaltliche Munition und politische Zustimmung einbringt. Für PFISTER ist die manchmal mit nahezu religiöser Inbrunst dargebotene „reine Lehre“ (z.B. bei der Bekämpfung von „strukturellem weißen Rassismus“ durch verordnete Selbstgeißelung) nicht nur inhaltlich unglaubwürdig, sondern auch ausgesprochen dumm bzw. schädlich.
Wenn man 250 Seiten lang über die skizzierten Themen schreibt, lässt sich eine gewisse Redundanz nicht vermeiden. So spannend und unterschiedlich die Beispiele und Facetten auch sein mögen – natürlich landet PFISTER immer wieder bei seinen Grundthesen.
Das Buch verliert aber dadurch nicht an Substanz – es wirkt eher überzeugend, wenn aus unterschiedlichen Bereichen und Blickwinkeln sehr ähnliche Schlussfolgerungen zu ziehen sind.
Der Autor kann gut begründen, warum ihm – trotz aller Unterschiede – die genaue Betrachtung der amerikanischen Situation so lohnend erscheint: Inzwischen gibt es ja auch in Deutschland zahlreiche Beispiele für den massiven Druck, den gut organisierte Aktivistengruppen auf einzelne „Missetäter/innen“ und ihr Umfeld ausüben. Nicht konforme Meinungen in aktuell gesellschaftlich hochgekochten Themen (z.B. Transgender) zu äußern, ist inzwischen auch bei uns für viele (vor allem) jüngere Wissenschaftler/innen oder Medienmenschen offenbar durchaus potentiell karriereschädlich.
PFISTER hat hier ein gut lesbares, informatives und anregendes Sachbuch vorgelegt, dass das Zeug hat, den öffentlichen Diskurs bzgl. dieser Thematik zu versachlichen und auf ein höheres Niveau zu bringen. Und – obwohl es der Autor nicht explizit anspricht: In diesem Text steckt auch ein Apell an die Leserschaft, sich der Versuchung zu widersetzen, grundlegende Prinzipien der Fairness, des kritischen Abwägens und der Mäßigung über Bord zu werfen, um sich einem doktrinären Meinungsdruck zu unterwerfen (und zwar auch dann nicht, wenn die Richtung mit eigenen Überzeugungen übereinstimmten sollte).
Und: Egal, wie man den aktuellen (Sonder-)Fall „Palmer“ beurteilen mag: Das Buch bringt zusätzliche Licht in die zugrundeliegenden Dynamiken.
„Mehr als nur Atome“ von Sabine Hossenfelder

Der Titel des Buchers täuscht ein wenig: Er greift zwar den Schlusssatz des Buches auf – dieses versöhnliche Statement repräsentiert aber nicht den Inhalt dieses Textes.
Wer zu diesem informativen Sachbuch greift, sollte sich klar darüber sein, dass hier die „Welt“ ausschließlich aus Sicht der Grundlagen-Physik beschrieben und interpretiert wird.
Das soll nicht als Kritik verstanden werden – aber es geht tatsächlich in einem großen Umfang um die Atome als Basis für alles.
Die Autorin legt ihre Karten von Anfang an auf den Tisch: Sie outet sich als Hardcore-Physikerin, die sich mit ihren Erkenntnismethoden und den Regeln wissenschaftlicher und mathematischer Akribie in einem fest abgesteckten Kosmos bewegt: Theorien haben empirisch überprüfbar zu sein und sollten auf willkürlich bzw. unnötige Zusatzannahmen verzichten. Punkt!
Konsequenter Weise wendet sie diese Maßstäbe nicht nur auf alle philosophischen oder religiösen Systeme an, sondern auch auf die zahlreichen hochspekulativen Konzepte der Grundlagen-Physik selbst. So erfahren wir z.B. in aller Ausführlichkeit von alternativen Welt-Entstehungs-Theorien oder von kosmischen Bewusstheits-Ideen, die zwar oft auf genialen mathematischen Modellen beruhen, die aber bei HOSSENFELDER (die ein Fan der Mathematik ist) wegen mangelnder Überprüfbarkeit durchfallen.
Am Beginn ihres Buches nimmt uns die Autorin mit in die wundersame Welt der Relativitätstheorie, in der die intuitiven Vorstellungen von Zeit geradezu zertrümmert werden.
Sofort fällt auf, dass es HOSSENFELDER gut gelingt, eine Verbindung zwischen den Fachbegriffen und dem Allgemeinverständnis zu schaffen. Sie lässt die Fachsprache nicht weg, veranschaulicht sie aber sehr gekonnt. Und sie hat (bis auf einige Stellen am Ende des Buches) ein bemerkenswertes Gefühl dafür, wann mehr Tiefgang die hier angesprochene Leserschaft überfordern würde. So enthält zwar das Buch einige – durchaus anspruchsvolle – Diagramme, begibt sich aber nicht auf die Ebene mathematischer Formeln bzw. Berechnungen.
Das Kernthema des Buches ist das deterministische Weltbild der Physik. Sein Postulat: Sind die Anfangsbedingungen eines Systems (vollständig!) bekannt, steht aufgrund der bekannten physikalischen Gesetzmäßigkeiten fest, wie es weitergeht. Das gilt (im Prinzip) in dem relativ großen Zeitraum zwischen den ersten Millisekunden nach dem Urknall bis zum Endzustand eines Kosmos, in es dem wegen des Entropieverlustes keinerlei Strukturen mehr geben wird (das Konzept der Entropie wird ausführlich erläutert).
Einen großen Raum nimmt die Diskussion ein, ob und in welchem Umfang die Determiniertheit der klassischen Physik durch die Quantentheorie (und die Schwarzen Löcher) ausgehebelt wird. Die Autorin stellt das Für und Wieder differenziert dar, lässt am Ende ihre Hoffnung durchblicken, dass am Ende eine Art „Weltformel“ doch alle Phänomene in einer vollständigen Kausalität einfangen könnte. Ein wenig widersprüchlich fallen allerdings ihre Einschätzungen aus, wie bedeutsam die Quantenphysik für Phänomene der „normalen“ Welt (oberhalb der Molekülgröße) sind. Sie räumt jedenfalls ein, dass nach jetzigem Stand der Zufall und die Unberechenbarkeit durch die Quantenmechanik in die aufgeräumte Welt der Physik eingedrungen ist.
Es macht HOSSENFELDER ganz offensichtlich Freude, uns mit Gedankenspielen zu irritieren und dabei vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen. So kommt sie z.B. zu dem (überraschenden) Schluss, dass es mit den Gesetzen der Physik nicht völlig unvereinbar wäre, dass die Welt vor 6000 Jahren erschaffen wurde und seitdem nach den bekannten Naturgesetzen ´funktionierte. Eine solche Theorie sei nur „schlecht“ (nicht brauchbar), weil sie keine wirklichen Erklärungen bzw. Vorhersagen erlaubte.
Anregend ist auch der Ausflug in die hypothetische Vorstellung, dass außerhalb unseres Bewusstseins keine reale Welt existiert: zwar möglich, aber auch eine Theorie mit wenig Erklärungskraft.
Relativ hoch hängt die Autorin den wohl für menschliches Verhalten spannendsten Anwendungsbereich des Determinismus: die Frage nach der Willensfreiheit.
Hier wartet vielleicht eine kleine Enttäuschung auf die Leserschaft: Während um das Konzept in vielen anderen Publikationen im Zusammenspiel verschiedenster Disziplinen hochkomplex gestritten wird, bietet HOSSEBFELDER – genau betrachtet – nur eine Antwort: Weil in der Physik eben alles determiniert ist, kann es eine Willensfreiheit einfach nicht geben!
Dem von anderen Wissenschaftlern ins Feld geführte Phänomen der Emergenz nimmt die Autorin schnell die Luft aus den Segeln: Ihr sei noch kein Beispiel untergekommen, bei dem man die Eigenschaften eines Makrosystems nicht aus den (molekularen) Interkationen der Bestandteile ableiten könnte. Natürlich wird auch die Chaos-Theorie als Gegenargument vom Tisch gefegt (weil sie nicht anti-deterministisch sei).
Hier argumentiert eine Physikerin, die keiner Angst vor dem Vorwurf des „Reduktionismus“ hat. Da überrascht nicht, dass die Autorin keine Freundin von Konzepten ist, die dem Gesamtkosmos oder einzelnen Elementarteilchen ein Bewusstsein zusprechen.
Wer wirklich etwas über die praktische Welterklärung durch Physik erfahren will, wird vielleicht etwas enttäuscht darüber sein, wie ausführlich sich die Autorin mit ziemlich abgedrehten Theorien über alternative Universen, die Feinabstimmung von Naturkonstanten oder das Erschaffen neuer Universen auseinandersetzt. Hier hat sich HOSSENFELDER wohl einige Mal ein wenig in einer Spezialwelt verloren, die nur noch für physikalische Nerds von Interesse sind. Allerdings: der Laie staunt, was es so alles gibt….
Die an zwei Stellen des Buches eingefügten Interviews lockern zwar die Struktur des Textes auf; andererseits unterbrechen sie aber auch ein wenig den Argumentationsfluss und werden nicht vollständig in die Ausführungen der Autorin integriert.
Eine gewisse Affinität zu alltagsfernen physikalischen Spitzfindigkeiten sollte man als Leser/in dieses Textes schon mitbringen.
Auch wenn man nicht jede dargestellte Theorievariante gebraucht hätte und von der Radikalität einiger Schlussfolgerungen zurückschrecken sollte: Dieses Buch bietet einen vorzüglichen und faszinierenden Einblick in die wissenschaftliche Denkweise der Grundlagen-Physik.
Die Relativierung ganz am Ende kommt dann ein wenig plötzlich… (s.o.).
„Wie man aufhört, zu viel zu denken“ von George CURE

Dieser – offenbar im Selbstverlag erschienene – psychologische Ratgeber wurde (im April 2023) praktisch verschenkt (als Ebook für unter 1 €). Deshalb wollte ich einen Blick darauf werfen und habe den Text dann vollständig gelesen.
Der englische Autor (über den ich keine Informationen gefunden habe) verfolgt den – gerade ziemlich populären – Ansatz, dass wir unserem Denken nicht hilflos ausgeliefert sind, sondern wir lernen können, es entweder weniger zu beachten oder so umzuprogrammieren, dass es uns weniger belastet oder gar krank macht. Er wandelt dabei auf den Spuren der Kognitiven Verhaltenstherapie, der Achtsamkeit und der Positiven Psychologie.
Es gibt in diesem Buch eine Reihe von praktischen Übungen, vor allem Atem- und Achtsamkeitsübungen und konkrete Anleitungen zur Veränderung von schädlichen (dysfunktionalen) Gedanken bzw. Grübeleien. Auch ein kurzes Kapitel über Angst findet sich in diesem Text.
Die angebotenen Informationen und Vorschläge sind alltagsnah, nachvollziehbar und fachlich seriös. Das betrifft vor allem den Bereich des Grübelns (des „Überdenkens“). Eher dünn (und subjektiv) fallen die Hinweise zum Umgang mit Ängsten aus – hier liefern andere Selbsthilfebücher weit mehr.
Warum der Autor am Ende noch das Konzept des „Unbewussten“ einführt, wird nicht so ganz deutlich; dieses letzte Kapitel wirkt ein wenig unsortiert.
Der Schreibstil des Autors wirkt nicht durchweg besonders professionell, eher persönlich. Wir haben es hier nicht mit einem durchlektorierten Sachbuch zu tun, sondern mit einem Selbsthilfe-Angebot, das niederschwellig sinnvolle und sachgerechte Informationen vermittelt.
Das momentane Preis/Leistungsverhältnis (Ebook) ist dabei natürlich unübertreffbar; ich würde aber wohl eher zögern, dieses Buch als Taschenbuch (oder gar als Hardcover) zu empfehlen.
„Schummeln mit ChatGPT“ von Christian RIECK

Der Wirtschaftsprofessor (Spezialgebiet: Spieltheorie) ist auch ein bekannter YouTuber und hat eine eigene Fangemeinde (über 300.000 Abonnenten). Er bewegt sich gerne ein wenig außerhalb des (grünorientierten) intellektuellen Mainstreams und gehört sicher nicht zu den Menschen, denen es an Selbstbewusstsein mangelt.
Mit diesem Buch war RIECK echt schnell: Es hat wohl (Anfang März 2023) das erste ernstzunehmende Ratgeberbuch für „normale“ Anwender des Senkrechtstarter-Programms ChatGPT verfasst. Damit das möglich wurde – so berichtet der Autor nicht ohne verschmitzten Stolz – musste er auf eine Ko-Autorin zurückgreifen. Er nennt sie „Klara“ – und natürlich steckt dahinter niemand anderes als ChatGPT selbst.
Das ist schonmal ein toller und faszinierender Aufschlag: Die KI, die sich (unter Anleitung) selbst vorstellt und erklärt.
Der selbst gestellte Auftrag dieses Buches ist schnell beschrieben: Die Möglichkeiten und Grenzen des KI-Sprachsystems sollen so dargeboten werden, dass bei der Nutzung möglichst optimale Ergebnisse zu erzielen sind und Fehler vermieden (bzw. erkannt) werden.
Konkreter: Welche Eingaben (Prompts) sind dazu geeignet, den erwünschte Output zu generieren? Wie lassen sich im Zwiegespräch mit dem Bot Ergebnisse verfeinern oder differenzieren? Worin liegen genau die Stärken des Tools – und wo eher seine Schwächen?
In einem leger-lockeren Stil – man spricht ja mit seiner technikaffinen Community – präsentiert RIECK ein Kaleidoskop an Beispielen: Denn was liegt näher, als den Chatbot in Funktion zu zeigen und damit Anwendungs-Varianten vorzuführen, auf die man so ohne weiteres nicht selbst käme?!
Man kann sich selbst dabei zugucken, wie schnell man sich an die Vielseitigkeit der KI-Fähigkeiten gewöhnt. Eigentlich müsste man permanent innhalten und sich die Augen reiben: Das alles wird von einer Maschine in wenigen Sekunden verstanden, verarbeitet und formuliert? Und mit „alles“ ist tatsächlich so ziemlich „alles“ gemeint!
Der IT-Experte RIECK hält sich mit Staunen natürlich nicht auf. Er fühlt der KI auf den Zahn. Dabei legt er sich – wie es seinem Naturell entspricht – auch mit den eingebauten Regeln und Begrenzungen an und entlarvt sie als vermeintlich einseitig (weil z.B. die erneuerbare Energie zu gut, die Atomkraft zu schlecht wegkäme). Der Autor hält wenig von wertorientierten Vorgaben; ihm schwebt wohl eher ein zensurfreies Internet vor.
Das kann man allerdings auch ganz anders sehen. Mir scheint genau darin eine überraschende Stärke des KI-Systems zu liegen – dass es gelungen ist, von Beginn an ethische Prinzipien einzuprogrammieren, die es weitgehend ausschließen, dass es für kriminelle, gewaltverherrlichende, sexistische oder diskriminierende Zwecke eingesetzt wird. Gegenüber dem kruden Chaos des Internets macht das einen zivilisatorischen Fortschritt aus! (Dass man über einzelne Regeln trefflich streiten kann, soll nicht in Abrede gestellt werden).
Natürlich werden auch kritische Aspekte diskutiert. Schon im Titel spielt RIECK ja mit den vermeintlichen Schattenseiten. Der Autor hat dazu eine klare (und nachvollziehbare) Haltung: Statt das neue Tool zu dämonisieren und zu verbieten, sollte lieber der Umgang mit ihm trainiert und bewertet werden.
Die konsequente Praxisorientierung des Buches zahlt sich aus: Die Leserschaft bekommt ein Gefühl dafür, wie der „Gesprächspartner“ tickt, wie man ihn zu Höchstleistungen anspornt und wo man ihn auf jeden Fall überprüfen sollte. Die Stärke des Chatbots ist die Breite seiner Text- und Welterfassung: Je allgemeiner und abstrakter man ihn fordert, desto mehr macht sich der Umfang seines Trainingsmaterials bemerkbar. Dieses erstaunlich umfassende „Verständnis“ lässt sich dann kombinieren mit sehr klaren Wünschen für die Art des sprachlichen Outputs (Umfang, Stil, Niveau, …).
RIECK streift im zweiten Teil des Buches eine Menge spezifische Anwendungen (Mathematik, Logik, Programmieren, Literaturverzeichnisse, Werbung, …), wobei hier wegen des begrenzten Umfangs des Buches nur noch kurze Eindrücke vermittelt werden können.
Auch wenn man natürlich auf YouTube inzwischen unzählige Videos mit Anleitungen und Beispielanwendungen findet: das Buch von RIECK bietet durchaus einen Mehrwert. Das gilt vor allem für Menschen, die gerne in systematischer Form und in einem einheitlichen Stil durch ein Thema geleitet werden wollen.
Und das vorgelebte Zusammenspiel des Autoren-Duos macht bis zum Ende irgendwie Sinn und Spaß (wenn man mal von den Seitenhieben des Autors auf die Moralität des Chatbots absieht).
Der abschließenden Bewertung des Autors, dass es sich bei ChatGPT ohne Zweifel um ein intelligentes System handele, kann nur uneingeschränkt zugestimmt werden.
„Moral“ – von Hanno SAUER

Der in Utrecht lehrende Philosophie-Ethiker Hanno SAUER hat ohne Zweifel einen großen Wurf gewagt: Er ist angetreten, nicht weniger als die komplette Moralgeschichte der Menschheit darzustellen – und zwar von den allerersten Anfängen bis in die pralle Gegenwart.
An einem solchen gigantischen Projekt (sicherlich SAUERs professorales Lebenswerk) kann man sich beweisen – oder auch scheitern…
SAUER liebt offenbar die Zahl 5 – denn er gliedert die Historie in entsprechende Entwicklungsetappen (5 000 000, 500 000, 50 000; … Jahre). Wer sich auf solche zeitlichen Dimensionen einlässt, kommt wohl nicht umhin, zusammen mit der Moralentwicklung gleich eine ziemlich umfassende Gesamtdarstellung menschlicher Kulturgeschichte zu liefern. Und da Kultur nicht loszulösen ist von den konkreten evolutionär-biologischen, klimatischen, geografischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, erhalten wir mit diesem Buch gleich einen kompletten Geschichtslehrgang dazu. Dieser lässt sich wohl am ehesten mit dem Ansatz vergleichen, den HARARI in seinem Welterfolg („Eine kurze Geschichte der Menschheit“) verfolgt hat: Beide betrachten nicht politische oder militärische Verläufe, sondern die großen und grundlegenden Entwicklungslinien des kulturellen Siegeszugs der Gattung Mensch (seltsamer Weise nimmt SAUER keinen expliziten Bezug auf HARARI).
In den einzelnen Epochen untersucht der Autor mit großer Sorgfalt, warum welche moralischen Regeln entstanden sind bzw. sich ausbreiten und etablieren konnten. Konkret stellt sich dabei immer die Frage, warum ein (biologisch weitgehend vorgeprägter) gebändigter Egoismus (oder sogar Altruismus) einen evolutionären Überlebenswert aufwies und welche Rolle später die kulturelle Evolution bei der Entwicklung komplexerer Moralsysteme eingenommen hat.
Wir werden im Laufe dieser historischen Entdeckungsreise mit einer Reihe von spannenden Perspektiven konfrontiert, die nicht unbedingt als Allgemeinwissen betrachtet werden könnte: Wem ist z.B. der Gedanke vertraut, dass die frühen Menschen offenbar dadurch eine Art systematische Selbst-Domestizierung betrieben haben, in dem sie besonders aggressive und unkooperative Gruppenmitglieder schlicht töteten?
Aus Sicht von SAUER gibt es einen sehr grundsätzlichen Paradigmenwechsel in der Moralentwicklung: Evolutionär programmiert sind wir nämlich eindeutig darauf, dass wir unsere altruistischen Seiten nur für eine kleine Gruppe von Verwandten oder Stammesmitglieder mobilisieren können. Hunderttausende von Jahren war die empathische Fürsorge für die eigene Gruppe unlösbar mit der eindeutigen Ablehnung und Feindschaft gegenüber den „Anderen“ verbunden. Eine Kooperation über diese überschaubaren persönlichen Kreise hinaus ist eine Errungenschaft, die bis heute massive kulturelle und emotionale Energie kostet.
Es wird deutlich, dass SAUER eher erstaunt ist, dass es dem Menschen überhaupt gelungen ist, Solidarität und Verantwortung über die eigene Gruppe hinaus zu entwickeln. Nur so konnten allerdings komplexe und arbeitsteilige Sozialstrukturen entstehen, die dann schließlich in den letzten paar Hundert Jahren die moderne Welt ermöglichte.
Wie der Umgang mit aktuellen Herausforderungen zeigt, ist diese moralische Schwelle – die inzwischen auch die Verantwortung für zukünftige Generationen umfassen müsste noch längst nicht von allen Menschen erreicht.
SAUER nähert sich dem komplexen Thema „Moral“ nicht nur von der historischen Seite: Sein Spektrum reicht von der Darstellung philosophischer Grundpositionen bis zur modernen sozialpsychologischen Forschung bzw. Verhaltensökonomie (mit ihren spieltheoretischen Experimenten über Egoismus und Kooperation). auch mit der Frage, ob es allgemeingültige „Moralische Wahrheiten“ gibt, setzt sich der Autor auseinander.
Kommen wir vom Inhalt zur Form – die ich als mein persönliches Leseerlebnis darstellen möchte: In der ersten Hälfte des Buches breitete sich so etwas wie eine Begeisterung aus für die Vielfalt der Perspektiven und die didaktische Klarheit der Darstellung. Ich fühlte mich sicher geführt durch einen Experten, der mich durch ein unwegsames Gelände manövrierte.
Je näher mich SAUER an die Gegenwart führte, desto stärker war eine Tendenz spürbar, die sich von einer neutral-sachlichen Darstellung hin zu einem – ich formuliere es mal deutlich- subjektiv gefärbten Stil entwickelte, um dann bei moralischen Gegenwartsfragen gelegentlich in ein Schwadronieren umzukippen. Mir waren letztendlich einige Erläuterungen und Stellungnahmen zu selbstgewiss bzw. selbstverliebt und zu apodiktisch – so als hätte der Autor auf alle aktuellen Konfliktpunkte die eine richtige Antwort im Köcher.
Eine weitere Kritik betrifft die Lust des Professors an eloquenten Formulierungen. Bei allem Verständnis für eine Hochsprache, die sich an ein wissenschaftlich interessiertes und vorgebildetes Publikum richtet: SAUER haut am laufenden Meter Sätze heraus, in denen das eine Fremdwort zu viel (also das vierte oder fünfte) aus einem perfekt formulierten Satz eine selbstdarstellerische Zumutung macht. Schade – das hat so eine Koryphäe ganz sicher nicht nötig.
Damit kein Missverständnis entsteht: Selbst mit diesen kleinen Mängeln (wenn man sie überhaupt als solche empfindet), ist dieses 5-Sterne-Buch noch mindestens ein 4-Sterne-Buch und jedem Leser/jeder Leserin zu empfehlen, der/die moralischen Herausforderungen der Gegenwart einmal auf dem gut ausgeleuchteten Hintergrund der Menschheitsgeschichte betrachten möchte.