“Im Moralgefängnis” von Michael ANDRICK

Bewertung: 1.5 von 5.

Warum – so fragt sich die interessierte Leserschaft – muss ein Autor, der für sich reklamiert, einen Beitrag zur Stärkung der Demokratie und des gesellschaftlichen Zusammenhalts leisten zu wollen, sein Buch in einer so wütenden, polemischen und durchweg zugespitzten Sprache verfassen?
Schon ein Blick auf das Buchcover markiert das Problem: Der provokante Titel steht im diametralen Gegensatz zum einladenden Untertitel; leider hat sich der Autor weitgehend für das maximale Getöse entschieden – und übertönt damit sogar die Teile seiner Ausführungen, die eine Beachtung wert wären.
Auch wenn das Überwinden der emotionalen Abneigung gegenüber dem Wutbürger-Sprachstil nicht leicht fällt, soll hier auch eine Auseinandersetzung mit dem Inhalt erfolgen.

ANDRICK sieht unsere Demokratie gefährdet – durch den Infekt “Moralisierung” des privaten und öffentlichen Diskurses; er nennt dieses Virus plakativ “Moralin”, spricht auch von “Moralin-Seuche”, “Moralin-Injektion”, “Moralitis”, “Regime des Moralismus”, “Moralitis-Epidemie”, “Wahnwelt der Fundamentalisten” usw. Zuletzt droht gar die “lebensverstümmelnde Unfreiheit”. Der Autor hat es gern sprachgewaltig…
Was meint er? ANDRICK beobachtet eine eine strukturelle Fehlentwicklung in der politischen Kommunikation, die durch folgende Aspekte gekennzeichnet sei:
– Legitime Meinungsfragen würden zu Auseinandersetzungen um (wissenschaftliche) Wahrheit vs. Lüge bzw. Gut vs. Böse umgedeutet; Sachfragen würden zu Gesinnungsfragen gemacht.
– Die Vertreter der vermeintlich unmoralischen (falschen) Position würden persönlich verunglimpft (Wechsel vom Inhalt auf die persönliche Ebene) und ihnen werde das Recht auf eine gleichberechtigte Teilnahme am Ringen um den besten Weg abgesprochen (Ausgrenzung).
– Es entstehe eine gesellschaftliche Stimmung der Kontrolle und Einschränkung von Gedanken und Meinungen, an der dominante Interessensvertreter, Politik und Medien mitwirkten – bis zu einer “volkspädagogischen” Bevormundung.
– Nach und nach bilde sich so ein kollektiver Angst- und Stresspegel, der zu einem “Befürchtungsregiment” führen und sich bis hin zu einer Angstneurose steigern könnte.

Ohne Zweifel spricht der Autor hier Prozesse und Dynamiken an, die eine soziologische und sozialpsychologische Betrachtung verdienen würde. Insbesondere in der “wokeness”-Bewegung und der darauf beruhenden “cancel-culture” lassen sich entsprechende Anhaltspunkte finden.
Das Problem ist nur: Sobald ANDRICK konkret wird, verliert er das “rechte Maß” (nicht im politischen Sinne) und lässt erkennen, dass seine Analysen auf Bewertungsmustern beruhen, die außerhalb einer Blase von Corona-Leugnern und Lügenpresse-Beschwörern wohl nur schwer zu vermitteln sind. Speziell die staatlichen Anstrengungen, angemessen auf die (neue und unzweifelhaft bedrohliche) Pandemie zu reagieren, haben den Autor offensichtlich geradezu traumatisiert: Statt reale Fehler und deren Ursachen zu untersuchen, versteigt sich ANDRICK auf die These, dass sich im “Corona-Regiment” eine “totalitäre” Politik gezeigt hätte, mit “gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gegen Ungeimpften”. Bei dem erspürten vermeintlich “denunziatorischen Verfolgungsgeist” darf natürlich dir Verweis auf die entsprechenden Vorgänge in der NS-Zeit nicht fehlen…
Kann man, soll man, darf man das noch ernst nehmen?

ANDRICK setzt sich auch skeptisch mit der Frage auseinander, ob es überhaupt legitim sei, sich auf Wahrheit, Fakten oder Wissenschaft zu beziehen. Dabei stellt er den Sinn von “Faktenchecks” eindeutig in Frage: diese seien kaum als unabhängige Instanzen zu betrachten und oft sei auch die Frage, ob es objektive Fakten gäbe, durchaus offen.

ANDRICK missioniert in diesem Buch für den unzensierten Meinungsstreit zwischen gleichberechtigten Akteuren in einem weltanschaulich neutralen, pluralistischen Umfeld. Begrenzende Spielregeln betrachtet er mit Misstrauen: So weist er z.B. Vorwürfe zurück, bestimmte Äußerungen stellten eine “Hassrede” dar und seien deshalb unakzeptabel: dies unterstelle eine – nicht objektiv beweisbare – zugrundeliegende Gesinnung.
Dass sich ANDRICK auch an der Gender-Sprache abarbeitet, bedarf kaum der Erwähnung.

Richtig spannend wäre es gewesen, wenn man in einem Buch über Moral in der Politik eine ernsthafte Diskussion darüber gefunden hätte, welche Rolle diese denn legitimer Weise spielen könnte oder gar müsste. Zwar spricht ANDRICK kurz an, dass es auch echte Moralfragen gäbe, macht aber keine Aussagen darüber, wie denn damit zu verfahren wäre.
Es wäre sicher sehr aufschlussreich gewesen zu erfahren, ob der Autor in der Klimafrage den Hinweis auf bestehende ethisch-moralische Verantwortung auch für kommende Generationen gelten lassen würde. Wenn er das (was überraschend wäre) bejahen würde: Dürften sich dann Klimaaktivisten auf diese Moral berufen? Dürfte ein lupenreiner Egoismus in dieser Frage unmoralisch genannt werden? Welche Auswirkungen hätte das auf gesellschaftliche Bewertungen und Entscheidungen? Wäre das auch ein Beispiel für das “Moralgefängnis”?

Der Autor und sein Buch haben durchaus auch lichte Momente. Einige Betrachtungen gehen tatsächlich ein wenig in die Tiefe und ließen – in einem anderen Umfeld – durchaus produktive Diskussionen zu. Beschrieben werden das Ideal eines freien, unzensierten demokratischen Willensbildungsprozesses, das Aussteigen aus kommunikativen Spaltungsdynamiken und die Bedeutung von gegenseitigem Respekt. Positiv ist auch zu vermerken, dass zumindest erwähnt wird, dass man auch auf der konservativen Seite des politischen Spektrums nicht automatisch vor der Moralisierungs-Mechanismus gefeit ist (wenn auch nahezu alle Bespiele dem Lager der links-grünen Weltverbesserer stammen).
Insgesamt bekämpft diese Publikation eine in bestimmten Fällen durchaus kritikwürdige Tendenz zur Ausgrenzung unliebsamer Positionen mit einem untauglichen und wenig vertrauenserweckenden Mittel: mit Zuspitzung, Übertreibung und Polemik.

Kategorien-

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert