„Kein Ich, kein Problem“ von Chris NIEBAUER

Bewertung: 3.5 von 5.

NIEBAUER ist ein dem Buddhismus zugetaner Neurowissenschaftler, der sehr stark die Unterschiede zwischen den Funktionsweisen und Bewusstseinsdimensionen unserer beiden Gehirnhälften betont. Seine Mission in diesem Buch ist es, buddhistische Grundüberzeugungen durch neuro- und kognitionswissenschaftliche Befunde zu untermauern.

Der Autor geht zunächst sehr ausführlich auf den Vorrang ein, den die linke Gehirnhälfte speziell in unserer westlichen Moderne erobert hat. Dabei geht es ihm nicht nur um die hohe Gewichtung des sprachlich-analytisch-logischen Denkens, sondern auch um die „Konstruktion“ eines stabilen, autonomen „Ich“, das sich als pausenlos interpretierende Instanz mit allen Empfindungen, Gedanken und Gefühlen identifiziert (und bei der Suche nach Mustern und Regeln auch Zusammenhänge erfindet, die es gar nicht gibt).
Diese Dominanz der linken Hälfte gehe auf Kosten des eher bildhaft-ganzheitlich-intuitiv-fluiden Weltzugangs der rechten Gehirnhälfte, die eher eine Art Bewusstseinsstrom ausbildete und die innere Distanzierung und Relativierung gegenüber inneren und äußeren Ereignissen ermöglichten. Östliche meditative Praktiken schaffen – so die Überzeugung des Autors – eine Stärkung dieses „rechten“ Erlebens – bis hin zu einer weitgehenden Auflösung der „Illusion“ eines stabilen Ichs.

Die grundlegenden neurologischen Belege werden u.a. aus Beobachtungen und Experimenten mit sog. „Split-Brain-Patienten“ abgeleitet. NIEBAUER interpretiert die erstaunlichen Befunde als Hinweis darauf, dass es tatsächlich zwei unterschiedliche Bewusstseine in unserem Gehirn geben kann.
Um auf den Titel des Buches zu kommen: Der Autor ist überzeugt davon, dass wir mit einer distanziert-beobachtenden Haltung gegenüber unseren Bewusstseinsinhalten nicht nur mehr Ruhe und Gelassenheit entwickeln könnten, sondern uns tatsächlich große Anteile von psychischen Leid ersparen könnten.
Es klingt ein wenig wie Zauberei: Wenn wir das Konzept eines „Ich“ aufgeben (nicht nur theoretisch, sondern in der geübten Praxis), müssen wir uns nicht mehr mit den Empfindungen, Gedanken und Bewertungen identifizieren, die in unserem Bewusstseinsfeld auftauchen. Sie haben dann nicht mehr die Kraft und Bedeutung, uns (was immer das überhaupt ist) wirklich zu quälen. Sie erscheinen so fast zufällig, willkürlich, flüchtig und ohne nachhaltige Bedeutung (die ja erst unsere linke Hirnhälfte schafft).

Insgesamt hat NIEBAUER ein anregendes Buch vorgelegt, in dem interessierte Leser/innen die Berührungspunkte zwischen Neurowissenschaften und östlicher Bewusstseinspraxis nachvollziehen können. Man darf allerdings keine neutrale oder gar kritische Betrachtung erwarten: Der Autor will überzeugen und ist „beseelt“ davon, eine hilfreiche Botschaft weiterzugeben. Dies tut er in einer angenehmen und motivierenden Sprache.
Seine Beispiele sind gut gewählt – aber die Grenzen seines Ansatzes sind nicht weit entfernt. Versetzt man sich in entsprechend eindeutige Situationen (Hunger, Schmerz, Folter, existentielle Verlusterfahrungen), erscheint die innere Distanzierung durch Aufgabe des Selbst nicht mehr besonders plausibel.
Das wiederkehrende Argument, man könne im Gehirn den Sitz des Ichs strukturell nicht ausmachen, überzeugt auch nicht wirklich: Was spräche dagegen, dieses Selbsterleben prozesshaft in einer – in besonderer Weise synchronisierte – Aktivierung bestimmter neuronalen Netze zu suchen?
Erwähnt werden muss auch, dass die extrem strikte Aufteilung bzw. Zuschreibung bestimmter Funktionen auf die beiden Hirnhälften längst nicht (mehr) wissenschaftlicher Konsens ist.

Trotz dieser Einwände lohnt sich das Lesen dieses Buches durchaus – wenn man es nicht als einzige Quelle der Information über das Gehirn benutzt. Die Einblicke in die – manchmal widersprüchlichen und täuschenden – Ergebnisse neuronaler Prozesse stellen manche vermeintlichen Selbstverständlichkeiten in Frage. Und dass unser neurologisches Ich ganz sicher nicht dem intuitiven Alltagsverständnis entspricht, kann NIEBAUER auf anschauliche Art demonstrieren (dazu muss man nicht allen seinen Schlussfolgerungen folgen).
(Ein Tipp: Bei einem nicht ganz unbekannten Versandhändler bekommt man die englische Originalfassung fast geschenkt).

„Nano“ von Phillip P. PETERSON

Bewertung: 3.5 von 5.

Das zentrale Thema dieses Wissenschafts-Thrillers ist die Hybris des Menschen hinsichtlich seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten, Zukunftstechnologien zu beherrschen. Dargestellt wird dieses Problem am Beispiel der (fortgeschrittenen) Nanotechnologie.

Die Story beinhaltet die sehr detaillierte Darstellung der Folgen eines aus dem Ruder gelaufenen Experimentes mit Nanomaschinen, die sich selber replizieren (vervielfältigen) können. Diese Fähigkeit sollte dann die Grundlage dafür sein, dass durch entsprechende Programmierung dieser Miniatursysteme später beliebige Aufgaben bewältigt werden könnten. Dabei geht es in erster Linie darum, aus den in der Umwelt vorgefundenen Materialien so ziemlich alle denkbaren Produkte zu erstellen – ohne dass dies noch nennenswerter menschlicher Anstrengung bedürfte.
Diese Nanomaschinen würden dann – so das langfristige Ziel – mit einer geradezu unvorstellbaren (und unerbittlichen) Konsequenz die gewünschten Dinge Atom für Atom zusammensetzen – solange ihnen geeignete Rohstoffe zur Verfügung ständen.
Man darf wohl verraten, dass dieses erste Experiment scheitert und dadurch Konsequenzen entstehen, durch die die Menschheit in einem bisher unbekannten Ausmaß herausgefordert wird.

So wie es sich für einen solchen Science-Fiction-Roman gehört, wird die heraufziehende Katastrophe natürlich personalisiert. Wir lernen einige Wissenschaftler/innen und einige Politiker/innen kennen, die im Verlaufe des Buches mit ihren sehr unterschiedlichen Mitteln versuchen, der Problematik Herr zu werden. Als zentrale Identifikationsfigur fungiert eine eine junge Forscherin, die nach dem spektakulären Verlust ihres Mannes mit ihrer siebenjährigen Tochter Strapazen und Traumatisierungen erlebt, die wohl gleich mehrere lebenslange Psychiatrie-Aufenthalte begründen könnten (für Mutter und Kind).

Der Wissensschafts-Fraktion (in der es auch einen „Bösen“ gibt – natürlich den Chef) steht die politische Entscheider-Riege gegenüber, in der – natürlich – ganz besondere Prioritäten bestehen. Der Bundeskanzler selbst ist übrigens von Beginn an direkt in das Geschehen einbezogen und ist daher dort der wichtigste Protagonist. Er gehört zu den wenigen Figuren, die sich durch eine gewisse innere Ambivalenz auszeichnen.
Das – sehr konfliktträchtige – Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik wird somit zu einem zweiten Grundsatzthema des Buches.

Als Katastrophen-Thriller hat dieses Buch einen klar definierten Spannungsbogen: Es bleibt – Überraschung! – so ziemlich bis zur letzten Sekunde offen, ob das wahrhaft grenzenlose Unheil abgewendet werden kann.
Es gibt zwar eine sehr dynamische Eskalationsdynamik, die aber irgendwie ziemlich gradlinig verläuft und wenig echte Überraschungen enthält. Der ganze Plot wirkt ein wenig eindimensional (in kleinen Stufen immer mehr desselben…).
Man würde einigen Figuren ein bisschen mehr psychisches Eigenleben wünschen, hätte gerne mehr Introspektion bzgl. der jeweiligen Empfindungen. So kommen einem die beteiligten Personen nicht wirklich nahe – insbesondere das Kind bleibt irgendwie ein unbekanntes Wesen mit übermenschlichen physischen und psychischen Kräften.

Vielleicht trägt aber auch die Länge des Buches dazu bei, dass letztlich der Funke nicht so recht überspringt. Einen ersten Geschmack davon bekommt man schon in dem quälend langsamen Auftakt: Die Anreise des Kanzlers wird wirklich übertrieben minutiös geschildert. Die meisten Leser/innen werden wohl ziemlich froh sein, wenn die Sache dann viele hundert Seiten später endlich ein Ende gefunden hat (welches, ist dann für einige sicher schon fast egal…).

Natürlich ist die Nano-Technologie eine extrem interessante Zukunftstechnologie. Aber auch Wissenschafts-Nerds werden wohl mit den dargebotenen Hintergrundinformationen nicht so richtig glücklich sein. Es geht dem Autor ganz eindeutig mehr um die spektakulären Katastrophen-Szenarien als um Wissenschafts-Vermittlung.

Für eine echte Empfehlung reicht das alles nicht.

„Kompass für die Seele“ von Bas KAST

Bewertung: 2.5 von 5.

Was würde wohl auf das sensationelle Erfolgsbuch „Ernährungskompass“ folgen?
Das fragte sich wohl mancher Beobachter des Sachbuch-Marktes. Ich selbst habe mich vor einigen Monaten dabei erwischt, gezielt nach einer Neuerscheinung des Autors zu suchen.
Jetzt ist es soweit – und die Spannung war groß.

Ausgehend von einer depressiven Krise, die – ausgerechnet(?) – kurz nach dem kometenhaften Aufstieg zum Bestseller-Autor einsetzte, hat sich KAST (wie auch beim ersten Buch) aus eigener Betroffenheit auf den Weg gemacht. Diesmal mit dem Ziel, ganz verschiedene Verfahren und Methoden zu untersuchen, die das Potential in sich tragen, psychische Beeinträchtigungen zu lindern bzw. das Risiko solchen Belastungen präventiv zu vermindern.
Das Kriterium für Auswahl der geschilderten Ansätze war dabei subjektiv: Zwar hat KAST das Feld wohl wieder mit der ihm eigenen Gründlichkeit beackert (durch Sichtung von zahlreichen Studien); in das Buch geschafft haben es aber nur die 10 Bereiche, von deren Wirksamkeit sich der Autor selbst überzeugen konnte (bzw. wollte).

Schon die Grobgliederung in drei Schwerpunkt-Teile lässt aufhorchen: Da gibt es einmal die körperbasierten Elemente (wie Ernährung, Bewegung, Schlaf, Naturkontakt), dann die psychischen Aspekte (Meditation, stoische Lebenseinstellung, Sozialkontakte) und am Ende – Überraschung! – den Einsatz psychedelischer Substanzen (insbesondere MDMA und Psilocybin).
Wow! Ein bekannter Bestseller-Autor schreibt für ein Millionen-Publikum einen „Kompass für die Seele“, in dem zwar der Begriff „Psychotherapie“ mehrfach fällt, diese etablierteste Methode zur Behandlung von psychischen Störungen (wie die von ihm genannten Depressionen und Traumafolgen) selbst aber gar nicht zum Thema wird. Statt dessen bekommen Ecstasy und sog „Zauberpilze“ ein ausführliches eigenes Kapitel, gespickt mit geradezu euphorischen Erfahrungsberichten, differenzierten Empfehlungen (und eher zaghaften Warnungen).
Gab es schonmal etwas Vergleichbares? Ich glaube kaum!

Doch fangen wir vorne an.
Mit Ernährung kennt sich KAST aus; das ist keine Überraschung. Doch auch in den anderen Kapiteln im Bereich „Körper und (psychische) Gesundheit“ beweist der Autor seine Stärken: Umfassende Recherche des aktuellen Forschungsstandes, gut nachvollziehbare Schlussfolgerungen und eine motivierend-eindeutige Art der Vermittlung. Man will am liebsten schon während des Lesens (oder Hörens) das Olivenöl aus dem Schrank holen , Omega-3-Pillen bestellen, durch den Wald joggen und seine Einschlaf-Routine neu ordnen.

Dann kommt die Psyche und man beginnt sich zu wundern: Wo man als Lesender vordringlich kompetent aufbereitete Informationen (und Erfahrungen) zu unterschiedlichen Ansätzen aus Psychotherapie, Beratung und Coaching (inkl. deren Wirksamkeit und Grenzen) erwartet, fährt KAST genau zwei Möglichkeiten auf, die Psyche aus der Krise zu helfen oder einer solchen vorzubeugen: die Praxis der Meditation und die Prinzipien der philosophischen Stoiker.
Bei allem Respekt vor den Potentialen dieser beiden Ansätze: Diese Betrachtung fällt gegenüber der Darstellung der körperbasierten Faktoren doch ziemlich stark ab.

Überraschend ist dann – wie schon angedeutet – das Gewicht der dritten Perspektive: der Einflussnahme auf psychische Befindlichkeit und Gesundheit durch psychoaktive Substanzen. Hier hat sich KAST offenbar voller Eifer und Experimentierfreude eingelassen und so eindrückliche Erfahrungen gemacht, dass seinen Ausführungen schon fast etwas Missionarisches anhaftet.
Sicher spricht nichts dagegen, über die erstaunlichen therapeutischen Effekte von MMDA und Psilocybin im Bereich von Depression und Traumafolgen zu berichten. Im Gegenteil: Das ist ganz sicher ein hochinteressantes Thema und die Konsequenzen für die zukünftige psychiatrische und psychotherapeutische Arbeit könnten durchaus erheblich sein.
Die Anwendung solcher Substanzen aber zum jetzigen Zeitpunkt einem breiten Publikum quasi als Eigentherapie alternativ zu Meditation, Sauna oder Ernährungsumstellung anzubieten, erscheint doch ein wenig abwegig (um es zurückhaltend auszudrücken).

Sollte jemand, der – wie in einem SPIEGEL-Gespräch bestätigt – keine eigenen Erfahrungen mit Psychotherapie gemacht hat (und sich daher diesem Thema nicht näher widmet), wirklich einen „Kompass“ für den Erhalt bzw. die Wiederherstellung der psychischen Gesundheit schreiben? Wirkt das nicht ein wenig so, als ob man über die Unterwasserwelt schreibt, ohne jemals selbst einen Tauchkursus absolviert zu haben?
Es fällt auf, dass KAST (fast) ausschließlich Methoden anführt, die man (auch) ganz für sich alleine durchführen kann. Hier genau liegt der Unterschied zu dialogischen Verfahren, in denen Therapeuten, Beraterinnen oder Coaches eine Prozessbegleitung, eine Außenperspektive, Rückmeldungen und Korrekturen bieten. Warum soll das alles ungenutzt bleiben?

Selbst wenn seine Hinweise und Ratschläge im ersten Teil noch so sinnvoll und gut begründet sind und seine Darstellungsweise überzeugend rüberkommt – in diesem Buch wird ein extrem einseitiges und in keiner Weise repräsentatives Bild der psychosozialen Versorgungslandschaft und ihren Methoden gezeichnet.
Man sollte sich schon entscheiden: Entweder schreibe ich von meinen persönlichen Erfahrungen (und nenne das dann auch so), oder ich offeriere einen „Kompass“ – und damit ein halbwegs realitätsgetreues Abbild des untersuchten Bereiches.

Sieht von von dieser schwerwiegenden Einschränkung ab, kann man den ersten Teil des Buches uneingeschränkt empfehlen, ebenso die informativen und motivierenden Ausführungen über den Nutzen von Meditations-Übungen..
(Die Hörbuch-Version dieses Buches ist übrigens sehr gut gelungen; der Sprecher gibt die Intentionen des Autors glaubhaft weiter).

(Zu weiteren Tages-Gedanken)

„Bewusstseinskultur“ von Thomas METZINGER

Bewertung: 4 von 5.

Der stark mit den Neurowissenschaften verbandelte Philosoph METZINGER hat mit seinem „Ego-Tunnel“ (2014) ein Standardwerk zum Stand der Bewusstseins- und Kognitionswissenschaften veröffentlicht. Viele später erschienenen Publikationen sind nicht wesentlich über die Erkenntnisse und Interpretationen dieses inspirierenden Buches hinausgegangen.
Entsprechend groß war die Spannung hinsichtlich seines neuen Buches, das ein bereits 2014 gesetztes Thema aufgreift und vertieft.

Der gesellschaftliche Kontext, in den METZINGER seine Ausführungen zur Bewusstseinskultur stellt, ist zunächst überraschend und irritierend: Es ist die unerbittlich heranrückende Klima-Katastrophe, die seiner Analyse nach realistischer Weise nicht mehr aufzuhalten ist. Dies sei zwar möglicherweise rein physikalisch noch möglich, nicht aber bei der Berücksichtigung der psychologischen, politischen und institutionellen Trägheiten.
Genau dies nimmt der Autor zum Anlass, darüber nachzudenken, wie wir als denkende und fühlende Wesen in den bevorstehenden Zeiten psychisch überleben können – und zwar auch dann, wenn demnächst klimatische und gesellschaftliche Kipppunkte (Panikpunkte) überschritten sein sollten.
Da muss man erstmal schlucken.

Doch es geht nicht nur um die Bewältigung des menschlichen Scheiterungs-Prozesses. Natürlich geht METZINGER davon aus, dass wir – solange es eben geht – an der Eindämmung der Klimawandel-Folgen arbeiten. Für uns reiche Länder bedeutet das: ein massives „grünes Schrumpfen“ zu bewerkstelligen und zu akzeptieren.
Hier könnte dann eine gelungene Bewusstseinskultur zu eine alternativen Sinngebung beitragen, die den Verlust der gescheiterten Wachstums-Konsum-Spirale auszugleichen versucht.

Was nun „Bewusstseinskultur“ genau sein könnte, stellt der Autor im Hauptteil seines Buches dar. Ganz grob gesprochen geht es einerseits darum, durch bestimmte (insbesondere meditative) Praktiken mehr Kontrolle über die eigene (gedankliche) Innenwelt zu erlangen und den Fokus auf grundlegende Erfahrungen des „Seins“ zu konzentrieren.
Parallel dazu sollen hinsichtlich der rationalen Erkenntnisversuche bestimmte Maßstäbe gelten, die einen gesellschaftlichen Konsens ermöglichen: Orientierung an Fakten, Empirie, Logik und einer ethischen Grundhaltung gegenüber allen empfindungs- und leidensfähigen Geschöpfen (einschließlich der zukünftigen Generationen).

Das klingt alles ehr abstrakt und es wird Zeit, etwas zum Denk-und Schreibstil von Thomas METZINGER zu sagen. Der Autor ist auf mehreren Ebenen so etwas wie ein „Grenzgänger“. Schon seit Jahrzehnten überschreitet er die Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen und hat maßgeblich dazu beigetragen, die Neurowissenschaften in die Philosophie zu holen (oder umgekehrt?). Aber METZINGER kratzt auch an anderen Tabus: Er ist nicht nur an asiatischen philosophischen bzw. spirituellen Traditionen interessiert, sondern meditiert seit langer Zeit intensiv und hat mit einer ganzen Reihe von psychedelischen (psychoaktiven) Substanzen recht nahe Bekanntschaft geschlossen.
Der Hintergrund: METZINGER sucht einerseits nach wünschenswerten alternativen Bewusstseinszuständen (darin sieht er eine potentielle Bereicherung), andererseits ist er dem inneren Kern, der Grunderfahrung des „bewussten Seins“ auf der Spur. Und diese ist seiner Erfahrung nach nicht nur sprachfrei, sondern beinhaltet auch eine weitgehende Auflösung des Ich-Bewusstseins.

Dies ist also der Hintergrund für die hier dargelegten Thesen und Vorschläge. Man muss also einkalkulieren, dass METZINGER die normale Alltagssprache schonmal verlässt, eigene Begriffs-Schöpfungen einbringt und insgesamt auf einem recht hohen Abstraktionsgrad argumentiert. Manches mag man sogar ein wenig schräg finden – wie seine Überlegungen zur Leidensfähigkeit von KI-Systemen (wobei die jüngsten Durchbrüche bei den ChatBots hier seine Kritiker vermutlich leiser werden lassen).
Jedenfalls ist das hier kein leicht lesbares Gute-Laune-Buch. Es geht nicht um esoterische Wellness-Angebote oder um Weltausstiegs-Szenarien. Der Autor ringt um eine Möglichkeit, mithilfe von (nicht-religiösen) spirituellen Praktiken die geistige Gesundheit in chaotischen Zeiten zu erhalten.
Kommen wir nochmal zu den Haltungen: METZINGER ist davon überzeugt, dass wir einen klaren Blick auf die Welt und in unseren Geist richten sollten. Wir sollten uns nichts vormachen, uns nicht ablenken oder durch irrationale Heilsversprechen trösten lassen. Für ihn führen sowohl rationales Denken als auch der Blick nach innen zu einer intellektuellen Redlichkeit. Diese mag zwar zu schmerzlichen Erkenntnissen führen, schenkt dafür aber eine weitgehend unverstellte Klarheit und geistige Reinheit.

Für die meisten Leser/innen (soweit sie noch nicht mit der Gedankenwelt des Autors vertraut sind) wird es in dem Buch immer mal wieder Stellen geben, an denen sie „aussteigen“. Metzinger mutet einiges zu, eben auch befremdliche Ideen. Für Menschen, die Meditation für eine esoterische Spinnerei halten, ist z.B. der Text sicher nicht geeignet. Die Suche nach dem innersten, puren Bewusstheitskern gehört sicher für die meisten nicht zu ihren vordringlichen Zielen.
Für alle, die rund um Philosophie, Spiritualität und Naturwissenschaft gerne die Erkenntnis- und Lösungsdimensionen erweitern möchten, bietet dieses Buch eine reich gefüllte Fundgrube.
Allerdings darf man nicht erwarten, dass hier eine Art Fortsetzung des EGO-Tunnels geboten wird: Neurowissenschaften stehen in diesem Buch eindeutig nicht im Mittelpunkt.
Es ist ein eher persönliches Buch eines klugen und tiefsinnigen Menschen, der angesichts des menschlichen Versagens um eine Minimallösung ringt – die selbst auch dann noch Sinn geben könnte, wenn das „große“ Scheitern nicht mehr aufzuhalten ist.

(Übrigens: Man kann auch als Einstieg das „Philosophische Radio“ vom 27.02.23 hören.)

(Zu weiteren Tages-Gedanken)

„Achtsam Morden im Hier und Jetzt“ von Karsten DUSSE

Bewertung: 2.5 von 5.

Karsten DUSSE hat mit „Achtsam Morden“ eine eigene Marke geschaffen, mit internationalem Erfolg.
Nach einem ersten Abbruch hier der zweite Versuch einer Annäherung.

Als Protagonist lässt der Autor einen Rechtsanwalt auftreten, der seinen Lebensunterhalt durch die Verbindung zum organisierten Verbrechen bestreitet. So lebt er in einer Art Grauzone zwischen einem Mainstream-Leben als getrennt lebender Vater und Ex-Ehemann und als Edel-Ganove, der sich nach Bedarf den (kriminellen und gewalttätigen) Ressourcen seiner Organisation bedienen kann.
DUSS setzt auch auf anderen Ebenen auf ungewohnte Kontraste und hat so jede Menge Aufmerksamkeit auf seine Romane gezogen: Er verbindet Versatzstücke aus der Psycho-Welt – Coaching, Therapie, Achtsamkeitskult – mit gewaltvollen (mörderischen) Handlungen gegenüber Gegnern, die auch aus dem kriminellen Milieu stammen (und daher offenbar keiner Schonung oder Mitgefühl bedürfen). Sein Erfolgsschlüssel liegt also in der überraschenden und befremdlichen Anwendung von Prinzipien der sanften Psycho-Szene auf handfeste Gewaltausübung.
Das Ganze ist eingebettet in eine egozentrisch-ironisch-zynische Grundhaltung des Protagonisten gegenüber seinen Mitmenschen. Die Grundbotschaft lautet: Man kann also achtsam böse sein!
Gleichzeitig beinhaltet der zu opulenten Detailschilderungen neigende Schreibstil Von DUSS eine augenzwinkerndes Distanzierung zu den Inhalten – so dass man das Ganze natürlich auch als einen tollen Spaß in Richtung „Schwarzer Humor“ betrachten kann (was die meisten Leser/innen vermutlich auch tun).

In dem hier besprochenen Buch geht es um die Bhagwan- und Tantra-Szene.
Der Anwalt gerät zufällig in eine dramatische Verwicklung, da sein Achtsamkeits-Coach plötzlich von seiner Bhagwan-Vergangenheit eingeholt wird. DUSS konstruiert auf diesem – reichlich ausgeschmückten – Hintergrund eine Art Krimihandlung, die natürlich wieder einen geschickt inszenierten Mord beinhaltet. Die Perfektion dieses Verbrechens und seine Vertuschung werden mit einem sarkastischen Zynismus zelebriert.

Man kann diesem Buch natürlich nicht jeden Unterhaltungswert absprechen. Es gibt so etwas wie Situationskomik, unerwartete Wendungen und sicher auch ein paar treffende und entlarvende Beobachtungen der von DUSSE besonders gerne bloßgestellten Milieus. Dazu gehören z.B. auch die „Öko-Spinner“ mit ihren Lastenfahrrädern und E-Autos (denen vermutlich auch der Autor selbst eher kritisch gegenübersteht).
Um den Hype um dieses Genre nachvollziehen zu können, muss man aber wohl etwas anders gestrickt sein als ich. Man muss grundsätzlich dazu bereit sein, Zynismus, Gewalt und Mord in einem bestimmten Kontext „witzig“ zu finden. Ich will das keineswegs moralisch verurteilen – es gibt eben unterschiedliche Arten von Humor und nicht jede/r ist so hypersensibel, die Inhalte solcher Bücher als letztlich doch eine Spur „menschenverachtend“ zu empfinden.
Das ist ganz sicher Meinungssache. Ich jedenfalls brauche keinen weiteren Einblick in die Welt des achtsamen Mordens.

Corona-Impfung: Precht und Wagenknecht auf dem Holzweg?

Ich bin selbst überrascht, dass mich das Corona-Thema nochmal aufrüttelt. Aber ich ärgere mich gerade – über die aktuelle Impf-Diskussion und wie einige Menschen sie führen. Dabei geht es mir nicht um die Ignoranten und Spinner (da kann man sowieso nichts machen), nicht um einzelne Promi-Sportler (die interessieren mich persönlich nicht), sondern um öffentliche Personen, die durch ihr politisches oder intellektuelles Wirken eine gewisse öffentliche Orientierungs-Funktion gewonnen haben.
Grundlage für meine Ausführungen sind der Auftritt von Sarah Wagenknecht bei Anne Will (am 31.10.) und der Lanz/Precht-Podcast (vom 29.10.).

In beiden Auftritten wird ein „öffentlicher Druck“ beklagt, der in steigendem Umfang auf Impf-Unwillige ausgeübt werde. Dies sei (hauptsächlich) aus folgenden Gründen inakzeptabel:
– es gäbe keine rechtliche Grundlage für eine Verurteilung dieser Menschen
– die Entscheidung betreffe nur das eigene Gesundheitsrisiko
– die Ungewissheit bzgl. der Langzeitfolgen neuer Impfmethoden sei nachvollziehbar

Der erste Punkt ist schnell abgearbeitet: Es gibt keine Impfpflicht; wer sich nicht impfen lassen möchte begeht keine Straftat oder Ordnungswidrigkeit. Fertig.

Die zweite These kann so nicht stehen bleiben.
Einmal ist es erwiesen, dass eine geimpfte Person auch im Falle einer Infektion weniger ansteckend für andere ist. Damit ist der persönliche Schutz auch ein Akt der Solidarität.
Das Risiko einer eigenen Erkrankung nicht durch eine Impfung zu minimieren hat aber noch viel weitergehende gesellschaftliche Auswirkungen: Die Covid-Behandlungen verursachen täglich enorme Kosten (von denen kaum jemand spricht), belasten die Mitarbeiter/innen in den Krankenhäusern bis an die Schmerzgrenze und verhindern die angemessene und zeitnahe Behandlung andere Krankheitsfälle. All das wäre vermeidbar!
Sich dagegen zu sperren, stellt m.E. eine beklagenswerte Übersteigerung eines individuellen Freiheitsbegriff dar – der sich selbstverständlich darauf verlässt, dass andere (die Allgemeinheit) die Folgen tragen.
Es stimmt, wir lassen es auch zu, dass Menschen auf anderen Wegen ihre Gesundheit ruinieren und damit das Gesundheitssystem belasten. Aber es gibt einen qualitativen Unterschied zwischen individuellem Fehlverhalten (beim Essen, Trinken und bei der Bewegung) und dem Verhalten in einer Pandemie: Der liegt in der klaren Abgrenzung zwischen ja und nein. Es geht nicht um die Komplexität einer individuellen Lebensführung, sondern um einen Piks.

Kommen wir zu den Langzeitfolgen.
Es ist erschreckend, dass ein Berufs-Logiker wie Precht auf einem Auge blind ist. Zwar führt er an, dass man ja kurz nach der Einführung einer neuen Impfstoff-Technik späte Schädigungen vom Prinzip her nicht ausschließen könne. Er tut aber so, als ob die Wissenschaft keine Ahnung davon hätte, was da alles durch die neue Methode im menschlichen Körper passiert bzw. passieren könne. Er hat offensichtlich nicht verstanden, dass der mRNA-Wirkstoff nur deshalb funktioniert, weil man dessen Funktionsweise eben ganz genau kennt – und eben auch dessen Verhalten und Auswirkungen nach der Impfung (der Stoff wird nämlich – genauso wie die natürlich vorkommende RNA – kurzfristig abgebaut). Das, was da mit dem Virus passiert, weiß man, plant man, sieht man.
Es erscheint wie ein magisches Denken, eine Art grundsätzliche Wissenschaftsskepsis zu sein, alles was irgendwie „genetisch“ ist, mit einem Misstrauen zu versehen. Wenn aufgrund der (gründlich) erforschten und verstandenen Prozesse klar ist, dass die Erbinformationen auf der DNA nicht verändert werden (können) – warum sollte man das mehr bezweifeln als alle anderen High-Tech-Medizin (der man sich bei Bedarf gerne anvertraut)?
Precht sagt (mehrfach), dass er Kinder nicht impfen lassen würde, weil deren Immunsystem ja noch „im Aufbau“ wäre. Hat er sich wirklich damit befasst, was ein mRNA-Wirkstoff mit der generellen Entwicklung eines Immunsystems zu tun hat? Ich bezweifle das sehr.

Kurz gesagt: Mich ärgert, wenn Menschen mit einem öffentlichen Renommee sich anmaßen, ihre persönliche Meinung mit einer (zweifelhaften) medizinischen Argumentationen zu vermischen und zu begründen. Auch die bekundete relative Gewichtung von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität/Verantwortung finde ich bedenklich.
All das ist natürlich erlaubt – so wie fast alle Meinungsäußerungen. Aber es ist für mich enttäuschend.

„Diebe des Lichts“ von Philipp BLOM

Bewertung: 4 von 5.

Der Historiker Philipp BLOM ist auch ein guter Geschichtenerzähler. Das beweist er in seinen lebendig geschriebenen historischen Sachbüchern, aber auch in Prosa-Texten, in denen Geschichte sich als an Einzelpersonen gebundener Handlungsfaden manifestiert.
Für sein neues Buch hat sich BLOM den Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert und als Schauplatz hauptsächlich das durch den Katholizismus geprägte Italien ausgesucht.
Inhaltlich steht neben den – von Machtgier und Menschenverachtung geprägten – Repräsentanten der Staatskirche – vor allem die Kunst der Malerei und das Leben der einfachen Menschen im Mittelpunkt der Betrachtung. Insgesamt entsteht so ein Bild von einer Welt voller Willkür und Gewalt, in der Schicksale einzelner Menschen kaum einen Wert haben.

Erzählt wird das Leben des „Blumenmalers“ Sander, der als Kind in seiner holländischen Heimat durch einen brutalen Überfall Spanischer Besatzer traumatisiert wird. Zusammen mit seinem Bruder (der durch diesen Vorfall seine Sprache verliert), schlägt sich Sander auf abenteuerliche und beschwerliche Weise quer durch Europa und entwickelt dabei seine Malkunst bis zu einem professionellen Niveau.
In Rom gerät er als Mitarbeiter eines renommierten Künstlers schließlich in die (alles andere als brüderliche) innerkirchlichen Konflikte zwischen den verschiedenen Machtzentren. Seine Aufträge – halb Kunst, halb Intrigen – führen ihn nach Neapel und Palermo.
In Neapel begleiten wir Sander bei dem Versuch, sich unter den schwierigsten Bedingungen so etwas wie ein privates Glück aufzubauen. Doch dagegen stehen nicht nur die armseligen und oft menschenunwürdigen Lebensumstände, sondern auch mächtige Gegner mit ihren Interessen.

Insgesamt ist es ein buntes und facettenreiches Bild, das uns BLOM in diesem Roman zeichnet. Das sehr wortgewaltig ausgemalte „pralle Leben“ ist – sicherlich historisch korrekt – für die allermeisten Menschen in erster Linie von Gewalt, Unterdrückung und Armut geprägt. Dies spürbar zu machen, war ganz sicher das Anliegen des Autors; ohne Zweifel ist ihm das gelungen.
Vermittelt wird die zentrale Machtstellung der Kirche, deren Vertreter sich von der ursprünglichen christlichen Botschaft Lichtjahre entfernt haben. Man bekommt ein Gefühl dafür, wie unauflösbar eng die Verbindung von Kunst und Religion in dieser Zeit war; ebenso wie menschenverachtend mit dem vermeintlichen Schutz der Kirche vor Zweifel und Ketzern letztlich persönliche Macht und Privilegien verteidigt wurden.
Ein Gemälde der Sittenlosigkeit.

Die erzählte Lebensgeschichte enthält ausreichend Spannung und Dynamik, um auch die Leser/innen bei der Stange zu halten, deren Hauptmotivation in dem Verfolgen eines Einzelschicksals liegt. Es schadet dem Genuss an diesem Buch sicherlich nicht, wenn man sich für Malerei dieser Epoche interessiert; BLOM lässt einige Stars des Kulturlebens als Nebenfiguren auftreten.

Insgesamt bietet BLOM keinen Ausnahmeroman, schenkt aber einen vielschichtigen Einblick in eine Epoche, in der man sein persönliches Leben sicher nicht hätte verbringen wollen.
Zivilisatorischer Fortschritt ist eben doch eine gute Sache; wir müssten „nur noch“ dafür sorgen, dass er bei allen Erdenbewohnern ankommt und uns auch zukünftig erhalten bleiben kann.

Der neuer Bundestag – nur ein formales Theater?

Mich erfreut die insgesamt frische und zukunftsgewandte Stimmung, die von dem sich neu konstituierenden Bundestag ausgeht. Es entsteht der Eindruck, dass ein bisschen mehr Realität, Bürgernähe und Vielfalt in das „hohe Haus“ eingezogen ist.
Es gibt erstaunlich viel neue und relativ junge Abgeordnete – unter ihnen sicher sehr viele Menschen, auf die die oft pauschalen Zuschreibungen – sie gehörten einer Art bürgerfernen privilegierten Kaste an – mit Sicherheit nicht passen.
Eine Chance für die Demokratie – insbesondere für die Einbindung der jüngeren Generationen.

Ein bisschen scheinen wir als Wahlbürger Glück gehabt zu haben. Außer bzgl. der Abwahl der CDU/CSU waren die Wahlergebnisse schließlich gar nicht so außergewöhnlich. Es war letztlich ein Verdienst der Parteien selbst, dass so vielen jungen Leuten der Einstieg in die Bundespolitik ermöglicht wurde. So kriegen wir als Bürger/innen mehr Erneuerung geschenkt, als wir uns selbst „verdient“ haben.
Keine schlechte Bilanz für die so oft kritisierte Parteien-Demokratie.

Seien wir also heute ruhig mal ein bisschen stolz auf unser Gemeinwesen; auch wenn niemand so naiv sein wird, die weiter bestehenden Probleme und Risiken zu verleugnen.
Dort in Berlin sitzen eine Menge Menschen zusammen, die sich für unser Land ernsthaft engagieren. Es wirkt auch sympathisch, wenn man – so wie heute – beobachten konnte, wie oft auch sehr herzliche Glückwünsche über Parteigrenzen hinweg ausgetauscht wurden.
Es gibt nicht so fürchterlich viele Parlamente auf diesem Planeten, von denen man sich besser vertreten fühlen könnte.

Sondierungs-Ergebnisse

Man hat es ja geahnt: Natürlich würde es die FDP schaffen, den Fahrplan der Ampel am stärksten zu prägen.

Lindner war klug: Er hat sich sehr früh im Wahlkampf auf seine Essentials festgelegt (keine Schulden, keine Steuererhöhungen) und hat so zu einem Zeitpunkt „Rote Linien“ definiert, der noch nicht in direktem Bezug zu Verhandlungen über eine Koalition standen. Von dieser sicheren Basis aus konnte er dann die Flexibilität der anderen Parteien einfordern. Tricky!

Dazu kommt offensichtlich ein besonderer Bonus, weil sich die FDP sozusagen am stärksten auf fremdes Terrain begeben hat. Das führt dann paradoxer Weise dazu, dass ihr fast eine Heimspiel-Situation geboten wird. Man staunt!

Für die GRÜNEN ist die Situation ziemlich schwierig. Sie stehen für den Klimaschutz – was dazu führt, dass auch alle die Beschlüsse, die ihre Partner auch von alleine hätten treffen müssen, auf das Konto der GRÜNEN gebucht werden. Sie müssen jetzt also „dankbar“ für den Teil der Vereinbarungen sein, die ja weitgehend längst beschlossen sind (bzw. sich aus der allgemeinen Situation von selbst ergeben hätten).
Damit sind sie weitgehend abgespeist – und müssen den anderen Parteien andere Politik-Bereich überlassen.
(Erstaunlich ist es allerdings, dass die FDP scheinbar ihr gesamtes Wirtschaftsprogramm durchsetzen konnte, den GRÜNEN aber in ihrem Bereich noch nicht einmal das Tempolimit zugestanden wurde).

Über all das könnte man sich ärgern – bringt nur nichts.
Es gibt keine sinnvolle Alternative zu dieser Koalition. Es ist zu hoffen, dass in den Ausgestaltungen des Koalitions-Vertrages noch ein paar positive Überraschungen stecken.
Ansonsten bleibt die Hoffnung, dass sich insgesamt eine andere politische Stimmung im Land ausbreitet, die auch eine gewisse Eigendynamik erzeugt.
Außerdem muss man realistischer Weise davon ausgehen, dass nur die GRÜNE Regierungsbeteiligung garantieren kann, dass vereinbarte Ziele auch in konkrete Schritte umgesetzt werden. Deshalb lohnt sich das Ganze auf jeden Fall.
Bin nur gespannt, ob Kritik, Widerstand und problematische Folgen der neuen Klimapolitik dann auch gemeinsam getragen werden – und eben nicht bei den GRÜNEN abgeladen werden.