“Gewalt und Mitgefühl” von Robert SABOLSKY

Bewertung: 4 von 5.

Der amerikanische Biologe, Neurowissenschaftler und Primatenforscher SAPOLSKY hat hier vor einigen Jahren ein Monumentalwerk vorgelegt, das auch einen Vielleser vor eine gewisse Herausforderung stellt. Auf insgesamt ca. 1000 Seiten (inkl. Anhang) fasst er in einer fast zwanghaft wirkenden Gründlichkeit und Differenziertheit Forschungsbefunde zusammen, die den Zusammenhang zwischen dem menschlichen Verhalten (insbesondere dem Sozialverhalten) und dessen biologischen Grundlagen beschreiben bzw. erklären.

Zunächst ist eine Begriffsklärung fällig: Der Begriff “Biologie” wird in diesem Buch in einem extrem weiten Sinne verstanden: Er beinhaltet alle wissenschaftlich untersuchbaren Einflussfaktoren, die sich in der Genetik, den Neurowissenschaften, der Anthropologie, der Tierforschung, der Psychologie und der Soziologie finden lassen. Es geht um die große Frage: Wodurch wird menschliches (Sozial-)Verhalten determiniert, was in unserer inneren und äußeren Umwelt beeinflusst also die Art, ob und wie wir kooperieren und uns bekämpfen – als Art und als Individuum, generell und in einer spezifischen Situation.
Umgekehrt würde das bedeuten: Was nicht durch dieses komplexe Zusammenspiel von beobachtbaren und messbaren Einflussgrößen erklärbar wäre, würde dann das Ergebnis einer “freien” Entscheidung sein.
Schon an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass der Autor diesen Spielraum für deutlich begrenzter hält, als es der Selbstwahrnehmung und der Alltagspsychologie entspricht.

Was das Lesen dieses akribischen Grundlagenwerkes so anstrengend macht, ist seine Genauigkeit und Differenziertheit. Immer wieder erwischt man sich beim Lesen dabei, dass man sich mal so eine richtig eindeutige Aussage wünscht, wie etwa: “Misshandlungserfahrungen in der Kindheit führen zu Gewalthandlungen im Erwachsenenalter”.
Der Autor macht deutlich, dass es zwar solche Zusammenhänge zweifelsfrei gibt, sie aber nur in Form von Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich sind. Und zwar nicht deshalb, weil ein großer individueller Entscheidungsspielraum des Einzelnen bleibt (wie die meisten argumentieren würden), sondern weil es eine geradezu unendliche Zahl von weiteren Einflussfaktoren gibt, die – meist in einem komplexen Wechselspiel – das Gewaltverhalten auch beeinflussen (z.B. genetischen Prägungen, neurologisch verfestigte Erregungskreisläufe oder Besonderheiten im Hormonsystem).
Da SAPOLSKY sich als seriöser Wissenschaftler begreift, verschont er seine Leser/innen nicht mit all den “Wenns” und “Abers”. In der Regel beginnt eine Antwort auf die Frage nach einem Erklärungszusammenhang mit den Worten: “Es kommt darauf an.” (Also auf die weiteren Umstände).
Die Verhaltenswissenschaft ist komplex, die Kausalitätsketten sind verworren. Genau das verführt die meisten Menschen dazu, im Zweifelsfall eben doch das autonome “Ich” des Menschen als hauptsächliche Ursache für sein Verhalten zu postulieren.

Das Buch betreibt nicht nur Grundlagenforschung. Es reflektiert auch die Auswirkungen, die eine naturwissenschaftliche Betrachtung menschlicher Verhaltensursachen für das gesellschaftliche Zusammenleben und seine Regeln bzw. Institutionen hat. Es überrascht jetzt sicher niemanden mehr, dass SAPOLSKY auch hier irritierende Antworten und Lösungsvorschläge parat hat.

Wer sich auf diese Lese-Herausforderung einlässt erhält einen extrem weiten Einblick in den Forschungsstand der für menschliches Verhalten relevanten Fachdisziplinen (Stand 2017). Eingerahmt wird dieser Überblick von grundlegenden und schafsinnigen Reflexionen des Autors, die über die Summierung von Einzelbefunden weit hinausgehen.
Da SABLOTSKY dabei auch noch ein humorvoller und durchweg “cooler” Typ ist, bleibt das Lesen keineswegs eine trockene Angelegenheit.
Wenn nur die Zusammenhänge nicht so kompliziert wären…

Auf SAPOLSKYs für den Herbst angekündigtes Buch über Willensfreiheit (also ihre Nicht-Existenz) werde ich mich bereits am Tag seines Erscheinens stürzen. Einige Tage später werde ich davon an dieser Stelle berichten.

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