“Das Lied der Zelle” von Siddartha MUKHERJEE

Bewertung: 4 von 5.

Eine Möglichkeit, sich diesem Buch zu nähern, ist wohl der Versuch, es entweder als (populärwissenschaftliches) Sachbuch oder als (wissenschaftliches) Fachbuch (oder gar Lehrbuch) einzuordnen. Man kann an diesem Versuch nur scheitern – und genau darin liegt die Charakteristik dieser Publikation.

Der indisch-amerikanische Krebsforscher und Onkologe MUKHERJEE stellt hier die Geschichte, die Befunde und die Zukunftsperspektiven der (angewandten) Zell-Biologie in einer Informationsbreite und-tiefe dar, die einem universitären Lehrbuch zur Ehre gereichen würde. Das Buch steckt voller wissenschaftlicher Fachbegriffe; auch komplexe Hypothesen und deren Überprüfung werden ausgeführt. Man gewinnt den (vielleicht etwas naiven) Eindruck, dass man selbst als Experte kaum mehr wissen kann, als man es hier erfährt.

Was jedoch eher an ein Sachbuch für ein breiteres Publikum erinnert, ist die Einbettung dieser Faktenfülle bzw. der Stil des Autors.
MUKHERJEE verwebt dafür ein ganzes Arsenal von Darstellungsfäden:
– Er stellt sehr plastisch und detailliert die Historie der Erforschung der Grundbausteine des Lebens dar (und parallel deren medizinische Anwendung) dar,
– er personalisiert die Erkenntnisfortschritte, indem er die jeweils beteiligten Wissenschaftler/innen vorstellt (einschließlich ihrer Beziehungen und Rivalitäten),
– er personalisiert die mühsamen und opferreichen Behandlungsfortschritte durch den empathischen Bezug auf einzelne Patienten und deren Schicksale,
– er bringt sich als Forscher und Arzt selbst als ein fühlendes Wesen ein, das auf Erfolge und Misserfolge und auch auf das Leid seiner Patienten emotional reagiert,
– er lässt einen Blick auf seine inneren Reflexionen und Abwägungen hinsichtlich der Zukunftsperspektiven seiner Wissenschaft zu und
– er bringt sich auch als Betroffener (einer depressiven Erkrankung) ein.
Und – als ob das nicht genug wäre – wird dieses Potpourri in einer stellenweise fast poetischen Sprache dargeboten, in die immer wieder Formulierungen eingehen, die fernab von jeder wissenschaftlicher Nüchternheit stehen.

Da die Wissenschaft von den Zellen so grundsätzliche Bedeutung hat, ist das Buch von MUKHERJEE in weiten Teilen auch eine historisch orientierte Betrachtung von Biologie und Medizin insgesamt. Es gibt wohl kaum einen Bereich, der hier nicht angesprochen würde: Es geht um Genetik, um die Zellphysiologie, um Blut, um Organe, um Knochen, um Stammzellen, um das Gehirn, um Krebs, um Infektionen, um Transplantationen, um das Immunsystem, um Aids, um Corona, um Forschungsmethoden, um die wissenschaftliche Community, usw.
Es ist wirklich schier grenzenlos…

Eine nachdenkliche Reflexion hinterlässt der Autor in seinen Schlussbetrachtungen: Er stellt hier die – auch für ihn offene – Frage, weit weit uns die technologischen Möglichkeiten der zellulären Medizin noch führen wird. Wann und wie werden wohl die bereits vorhandenen Fähigkeiten, neue Zellen, Gewebe und Organe zu züchten und genetisch zu manipulieren, dazu benutzt werden, den menschlichen Körper zu optimieren und seine Alterung bzw. Sterblichkeit zu verhindern? Werden wir dann noch die gleiche Spezies sein?

Ist nun dieses Buch ein eindeutiger Lesetipp? Das kommt darauf an!
Wer im Bereich des biologischen und medizinischen Allgemeinwissens eine Stufe weiter kommen möchte – wer sich also vom interessierten zum informierten Laien entwickeln möchte – der verhebt sich mit diesem Text höchstwahrscheinlich. So ansprechend das Material auch aufbereitet ist: Die Informationsflut wird man wohl als überfordernd erleben.
Wer allerdings die Zeit und Motivation mitbringt, sich in dieses zukunftsrelevante Thema mal so richtig einzuarbeiten (ohne gleich ein trockenes Fachbuch zu lesen) – für den öffnet sich hier eine bis zum Anschlag gefüllte Fundgrube. Und einen extrem sachkundigen und sympathischen Führer gibt es noch obendrauf.

Vielleicht wäre das Buch (für das etwas breitere Publikum) noch “perfekter” geraten, wenn auf die letzte Detailebene verzichtet worden wäre (die sich sowieso kein Mensch merken kann). Aber dazu ist der Autor wohl zu sehr Wissenschaftler.
Dass der sehr persönliche Schreibstil auch gelegentlich ins Pathetische abrutscht, verzeiht man dem durch und durch menschenfreundlichen Autor gerne.

(Durch die Hörbuchfassung wird man übrigens durch den Vorleser, Olaf Pessler, auf extrem angenehme Weise geführt. Allerdings stellt man sich aufgrund seiner Stimme den 1970 geborenen Autor deutlich älter vor. Sicherlich eignet sich diese Vermittlungsform aber dann weniger, wenn es um das Erfassen und Speichern der unendlich vielen Details geht).

Eine Antwort auf „“Das Lied der Zelle” von Siddartha MUKHERJEE“

  1. Der in diesem Buch offensichtlich behandelte Themenkomplex erzeugt bei mir Unbehagen. Wenn ich richtig verstanden habe, hat der Autor (hoffentlich!?) Vorbehalte gegen eine Medizin, die vor allem dem körperlichen Selbstoptimierungswahn dienlich sein will. Ob es die Medizin oder/und die Vision der Verschmelzung von Geist und Technik betrifft, fürchte ich mich vor dem “Gotteskomplex” (H.
    -E. Richter) des Menschen. Es wird Zeit, all diese Themen, im Zusamnenhang eines durchgängig notwendigen, lebensbejahenden Humanismus-Diskurs zu betrachten, für den Thomas Fuchs gerade in “Blätter für deutsche und internationale Politik” (Ausgabe 5/23) einem mich sehr bewegenden Plädoyer eintritt.

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