“Quest” von Andreas ESCHBACH

Bisher  bin ich weitgehend nach der Regel verfahren: „Einmal Eschbach, immer Eschbach“ (z.B. Ausgebrannt oder NSA). Diesmal war das ein Fehler.

Das will ich kurz begründen.

Das Buch “Quest” stellt eine Mischung zwischen klassischer Fantasy-Literatur und Science-Fiction dar. So wie ich finde, eine gründlich misslungene Mischung.

Eschbach versetzt seine Leser in eine ferne Zukunft, in der unvorstellbare Entfernungen mit Hilfe völlig neuer, den Prinzipien unserer Physik widersprechenden Antriebstechnologien überwunden werden können. Große Bereiche des Universums sind durch raumfahrende Wesen erforscht und zum Teil auch besiedelt worden. Da alles Leben im Weltall einen gemeinsamen Ursprung hat, hat es sich auch erstaunlich gleichförmig entwickelt. Vieles, was da kreucht und fleucht, ist ziemlich menschenähnlich.

Soweit, so gut! Das könnte ja eine Ausgangsbasis für interessante Geschichten darstellen.

Doch was fällt dem sonst so kreativen Eschbach dazu ein: Billige Versatzstücke irgendwelcher Heldenepen. Novizen, die in einem monströsen Tempel die Wissensschätze der Menschheit bewachen und später große Bedeutung erlangen (dabei natürlich auch kurz die Freuden der Liebe kosten dürfen). Sternenkaiser, die die Macht über das gesamte Universum erobern (oder verteidigen) wollen. Einsame edle Kämpfer, verdammt zur Unsterblichkeit – und damit leider nicht zu echter Liebe fähig. Vorbildliche Heilerinnen, die auf dem Weg zu von anderen missachteten Patienten von der Leiter fallen.
Wenn es nicht so traurig und trostlos wäre, könnte man wenigstens lachen.

Welches Gesellschaftsmodell hat sich diese technisch so unglaublich überlegene Kultur wohl ausgesucht? Man mag es kaum glauben: Ein Kastensystem, in dem die – qua Geburt – Edlen herrschen, ein kleiner Mittelbau durch Leistung zumindest ein wenig glänzen kann und eine große Mehrheit Niederer in Unfreiheit und Perspektivlosigkeit gehalten wird.
Tolle Aussichten.

Und was machen die Tausende von Niederen auf einem Hyper-Super-Riesen-Raumschiff den ganzen Tag? Jedes Schulkind würde sich schämen, so etwas zu schreiben: Sie sind Reinigungskräfte, Mechaniker, Bedienungspersonal. Willkommen in einer fernen Zukunft!

Es geht so unglaublich und fantasielos weiter: Was tut man, wenn eines der galaktischen Antriebssysteme Schaden gelitten hat? Man bastelt per Handarbeit (tatsächlich mit dem Werkzeug von Klempnern) aus zwei kleinen ein großes neues Hyper-Maschinchen. Und wenn es nicht ganz passt, dass gibt’s noch ein mit dem Hämmerchen…

Natürlich muss dieser Nonsens noch spirituell-philosophisch aufgeladen werden. Es geht um die großen letzten Fragen. Gibt es einen Gott und was hat er sich wohl dabei gedacht? Was ist mit dem Sinn von ALLEM?

Meine Antwort: Dieses Buch ist jedenfalls grober Unsinn! Lieblos zusammengezimmert. Fast eine Unverschämtheit. Wer ein Zukunftsbuch schreibt und sich dabei weniger Gedanken über Roboter oder künstliche Intelligenz als über die diplomatischen Umgangsformen zwischen Edlen macht, hat wohl mehr als das Thema verfehlt.
Wer das klassische Fantasy-Publikum bedienen will, sollte sich vielleicht nicht so weit in die Zukunft vorwagen.

Eigentlich gibt es nur eine Erklärung: Eschbach hat seinen Namen verkauft und jemand anderes hat dieses Buch geschrieben. Mit dieser Erklärung könnte ich am ehesten leben.
Wo der Mann (der echte Eschbach) doch so tolle Bücher schreiben kann ….

“4 3 2 1” von Paul AUSTER

Darf man sich als Hobby-Rezensent wirklich an so ein Monumental-Werk eines der profiliertesten lebenden Schriftstellers heranwagen?
Ja – man darf. Man darf zu allem eine Meinung haben – dabei erhebe
ich natürlich in keiner Weise den Anspruch, auf irgendwelche literaturwissenschaftlichen Kompetenzen zurückgreifen zu können.

Vermutlich habe ich noch nie so lange ungeduldig auf ein Buch gewartet. Nach dem – von den meisten Kritikern gefeierten – Erscheinen des Romans vor genau einem Jahr wollte ich es gerne als Hörbuch genießen. Irgendwann im Spätherbst habe ich dann aufgegeben: Ich wollte es endlich persönlich kennen lernen! Also doch lesen – ca. 1300 Seiten!

Der beste – und gleichzeitig naheliegenste – Zugang zu diesem Buch ist die Frage nach dem seltsamen Zahlen-Titel. Die Antwort legt die Grundidee und das Grundkonzept dieses ur-amerikanischen Entwicklungsromans offen: Das Leben des Archie Ferguson wird in vier verschiedenen Versionen erzählt. Von einem identischen Startpunkt aus – definiert durch die Vorgeschichte seiner Eltern, deren Herkunftsfamilien und Verwandten zum Zeitpunkt seiner Geburt – ranken vier Lebensläufe bis ins junge Erwachsenenalter. Erzählt wird das überwiegend brav chronologisch in jeweils vier, später drei parallelen Kapiteln (1.1, 1.2, 1.3, 1.4; 2.1 …usw.). Warum irgendwann eine Kapitel-Version leer bleibt, vermag man sich mit etwas Fantasie auszumalen…

Bevor es also überhaupt um Personen, Geschichten und Themen geht, steht schon mal eine sehr prinzipielle philosophische Idee im Raum: Lebensläufe werden durch eine nicht zu überblickende Zahl von Umständen, Gegebenheiten und Zufällen bestimmt. Prinzipiell könnte in einem noch so kleinen Ereignis die entscheidende Weichenstellung für den weiteren Lebensweg stecken. Alles was auf diesem einen Geschehen (Begegnung, Unfall, verpasster Termin, usw.) aufbaut, wäre sonst schlichtweg nicht geschehen. Letztlich könnte sich daraus ein anderes Leben ergeben…
AUSTER beschränkt sich auf vier alternative Erzählungen – er hätte natürlich auch 23 oder 3785 Varianten wählen können. Er spielt in diesen vier Biografien mit dem Verhältnis zwischen Konstanz (bestimmte Bedingungen bleiben ja gleich oder ähnlich) und Verschiedenheit (aufgrund von eingeführten Unterschieden bei Personen und Ereignissen).

In welche Welt führt uns Paul AUSTER? Es ist die Welt der 50iger bis 70iger Jahre im Ostküsten-Amerika. Die Welt des Schmelztiegels, in dem Einwanderer ganz unten anfangen und der nächsten Generation mit viel Einsatz gute Startchancen schaffen. Die Welt des wachsenden Wohlstands einer weißen Mittelschicht, in der bald die Autos, das TV-Gerät, der Grillabend und das Tennis-Match dazugehören. Die Welt der zunehmenden Entfremdung zwischen den Generationen, exemplarisch dargestellt am Kampf um Bürgerrechte für Schwarze und die erbitterte Auseinandersetzung um den Vietnam-Krieg. Die Welt des Baseballs als Kristallisationspunkt für Heldengeschichten und einmalige emotionale Höhepunkte.
Das alles und noch viel mehr ist der zeitgeschichtliche Hintergrund für die handelnden Personen, die in diesem Umfeld leben, sich entwickeln, lernen und lieben.

Mehr als alles andere zeigt uns aber AUSTER seine – so darf man wohl ungestraft annehmen – persönliche Lieblingswelt: die Literatur.
Ferguson befindet sich – letztlich auf allen seinen vier Wegen – im engen Kontakt mit Menschen, die schreiben, die (unglaublich viel!) lesen, die über Literatur unterrichten, die Bücher verlegen, übersetzen, verkaufen, lieben….
Natürlich werden die meisten Fergusons auch selbst Journalisten, Übersetzer, Schriftsteller….
Angesichts der – ungelogen – Hunderten genannten und angepriesenen Autoren und Werken wurde mir schon fast schwindelig. Man bekommt irgendwann das Gefühl, ein hoffnungsloser literarischer Analphabet zu sein – so selbstverständlich wird man mit dem Kanon der relevanten Literatur der letzten 200 Jahre konfrontiert. Und die Menschen (zumindest einige) dort in dem Buch scheinen das alles zu lesen (gelesen zu haben). Unfassbar!

Ja: Es geht auch um Liebe – hetero- und homosexuelle, um Freundschaft, um Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, um das ganze pralle Leben. Aber es ist immer ein intellektuelles Leben, ein Leben von Studenten, Künstlern, politischen Aktivisten.

Ich will mich etwas zügeln und zu meiner Bewertung kommen.
Vielleicht ist es schon durchgeklungen. Meine Begeisterung war und ist nicht ungetrübt.
Bei allem Respekt vor Detailverliebtheit und vor dem intensiven Eintauchen in die minutiöse Beschreibungen von Abläufen und Situationen: Es war mir manchmal einfach zu viel! Zu viel Baseball, zu viel Büchertitel, zu viel Treffen in zu vielen Studentenkneipen, usw.
Um auf den Ausgangsgedanken zurückzukommen: Mir hätte es besser gefallen, wenn sich verschiedenen Wege des Archie Fergusons etwas mehr in die Breite entfaltet hätten, wenn sie mehr unterschiedliche und gegensätzliche Lebensbereiche gestreift hätten.

Trotzdem: Wer Zeit und Ruhe für so einen “Schinken” hat, der wird auch belohnt. Immer wieder stößt man auf Überlegungen und Aussagen, die man gleich notieren möchte – für die Ewigkeit.
Toll ist es auch, wenn AUSTER zur Technik “Buch im Buch” greift: Da seine Hauptfiguren (insbesondere Archie) selbst Schriftsteller sind, werden immer mal wieder Buch-Ideen vorgestellt und zwischendurch mal eben eine originelle Kurzgeschichte eingeflochten. So kann sich ein leidenschaftlicher Geschichten-Erzähler ungebremst austoben!

Genug! Ich denke: Wer bis hierhin gelesen hat, dürfte inzwischen eine Idee davon bekommen haben, ob das ein Buch für den nächsten Urlaub sein könnte (Achtung: Kurz-Urlaube eignen sich definitiv nicht!).

“Die Hungrigen und die Satten” von Timur VERMES

Der aktuelle Bestseller von dem Autor, dessen 2012 erschienener Roman (“Er ist wieder da”) dadurch in die Schlagzeilen und in die Verkaufsregale gelangte, dass er Adolf Hitlers Rückkehr in eine – für ihn verwirrende – Gegenwart zu beschreiben und zu persiflieren versuchte.
Ich habe dieses Buch nie gelesen, weil ich in mir eine – vielleicht altmodisch anmutende – Skepsis gespürt habe, Hitler auf diese Weise zu enttabuisieren oder zu banalisieren. Hitler und Spaß passt für mich irgendwie nicht – das muss vielleicht die nächste Generation hinkriegen…

Doch jetzt geht es um ein anderes Thema, das bzgl. Aktualität und gesellschaftlicher Relevanz kaum zu überbieten ist: Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa.

Auch dieses Buch lebt von einer pfiffigen Idee, auch dieses Buch setzt das Mittel der Satire ein, um – ja …. wozu eigentlich? Um zu unterhalten? Um aufzuklären? Um Denkanstöße zu geben? Um politische Haltungen zu beeinflussen? Wir werden sehen.

Der Plot lebt von der Verknüpfung von drei Themen und Erzählsträngen: Es geht erstens um einen riesigen Flüchtlingstreck, zweitens um das große Geschäft mit Medien (hier am Beispiel eines privaten Fernsehsenders und eines Frauenmagazins) und drittens um die (hilflosen) Versuche der Politik, all dem irgendwie Herr zu werden.
Die entscheidende Verbindung besteht darin, dass der dargestellte große Marsch von Afrika in Richtung Deutschland selbst ein großes, bewusst inszeniertes Medienereignis ist und über viele Monate nach allen Mitteln der Kunst kommerziell gemolken wird. Uns wird – personifiziert durch einen strohdummen, aber extrem populären weiblichen TV-Star, einen Programmdirektor und eine begleitende Frauenblatt-Journalistin – letztlich der Zynismus der Verdummungs-Industrie in immer neuen Varianten vorgeführt. Ach so – natürlich sind auch die meisten Politiker abgezockt und zynisch. Und wenn man genau hinschaut, sogar die führenden Köpfe der Flüchtlings-Bewegung (im wahrsten Sinne des Wortes).
Übrigens: Am Ende läuft nicht alles wie erwartet. Mehr soll hier nicht verraten werden.

Was soll man nun von all dem halten?

Der erste Eindruck: Es gibt von allem sehr viel – manchmal und insgesamt zu viel!
Mit unermüdlichem Erfindungsreichtum arbeitet der Autor sich immer wieder an den gleichen Aspekten ab: Der weibliche Star wird – durchaus mit gelungener Situationskomik – immer wieder neu als naiv, ahnungslos und selbstverliebt entlarvt. Die TV-Macher sind unaufhörlich quotengeil und gehen dabei – nicht nur bildhaft – über Leichen. Und die “Journalistin” liefert immer wieder neue sensationelle und hautnahe Exklusivgeschichten, die vor Kitsch und Klischees nur so triefen.
Das alles ist lustig und manchmal wirklich gut, vielleicht sogar genial auf den Punkt gebracht.
Aber: Wie oft braucht man das?
Um die Mechanismen zu verstehen und sich an der karikaturistischen Fähigkeiten des Autors zu erfreuen, hätte sicher ein Drittel der Beispiele völlig ausgereicht. Gut – der Rest ist dann “mehr desselben” – weil es so spaßig ist…
Das kann man so mögen – dann ist es sicher gute und willkommene Unterhaltung.

Bei einem so brandaktuellen Thema, das unsere Gesellschaft wir kein anderes in den letzten drei Jahren aufgeregt und gespalten hat, darf man vielleicht auch nach der Botschaft fragen. Will uns der Autor etwas sagen? Benutzt er die Mittel der persiflierenden Übertreibung, um uns ein wenig bewusster oder wacher zu machen? Kompetenter im Umgang mit den Herausforderungen?
(Ich habe dazu keine Interviews oder andere Quellen studiert; auch hier leite ich meine Bewertungen nur aus dem unmittelbaren Eindruck ab.)

Ich kann und will dem Autor ein aufklärerisches Motiv nicht absprechen. Das wäre vermessen und vermutlich auch ungerecht. Trotzdem entsteht bei mir als Leser (Hörer) als Grundgefühl etwas anderes. Ich drücke es mal pointiert aus, damit es deutlicher wird (obwohl es auch für mich nur eine Facette ist):
Nutzt nicht dieser Autor das Thema auf seine Weise – nämlich zur Darbietung seiner humoristischen und dramatisierenden Fähigkeiten – nicht letztlich ähnlich aus, wie er das den Medien unaufhörlich vorhält?! Geht er nicht nur einfach eine Ebene höher? Etwas intellektueller?
Oder, anders gesagt: Für mich gerät in dieser extremen Anhäufung von “entlarvender” Komik die Sache selbst aus dem Blickfeld und der Spaß wird zum Selbstzweck.

Ich muss einräumen, dass der letzte Teil des Buches einen etwas anderen Charakter hat, der nicht ganz zu meinem Urteil passt. Aber auch hier geht es um extreme Übersteigerung, die eine Effekthascherei – wie ich finde – deutlich über die Aussage bzw. die Logik der Geschichte setzt.

Man kann über dieses Buch sicherlich trefflich kontrovers diskutieren. Ich freue mich darauf. Zu einem meiner Lieblingsbüchern ist es jedenfalls ganz gewiss nicht geworden.

Eine letzte selbstkritisch Anmerkung: Vielleicht hat sich ja ein wenig Skepsis aus dem (vermiedenen) Hitler-Buch auf dieses Werk übertragen. Man möge es mir nachsehen….



“Das wundersame Leben des Edgar Mint” von Brady UDALL

Auf diesen Roman aus dem Jahre 2001 ist eine gute Freundin zufällig gestoßen. Da er nur doch antiquarisch verfügbar ist, gebe ich hier nur eine kurze Bewertung ab. Der Vollständigkeit halber.

Es ist ein wahrhaft wundersames Leben, über das in diesem Entwicklungsroman – wechselnd zwischen einem Ich-Erzähler und einem “Er-Erzähler” – berichtet wird. Es geht um das Leben eines halb-indianischen Jungen, der “eigentlich” als Kind zu Tode kommt (sein Kopf gerät unter die Räder eines Jeeps). Es gleicht einem medizinischen Wunder, dass er trotzdem überlebt und so die Gelegenheit bekommt, in der Rückschau sein Leben zu erzählen. Sinnvoller Weise hat er schon sehr früh eine Affinität zum Tippen auf einer Schreibmaschine entwickelt, so dass er auf ein riesiges Archiv von Aufzeichnungen zurückblicken kann.
(Es ist immer wieder erstaunlich, wie viele Bücher von Menschen handeln, die selbst auch schreiben….).

Um es kurz zu machen: Da seine Herkunftsfamilie völlig desolat ist, landet Edgar nach einem langen Krankenhausaufenthalt in einer Art Internat, später in einer Pflegefamilie, um dann doch noch den Kreis zu schließen und an die Auslösesituation des Geschehens zurückzukehren. In einer wahrhaft überraschenden Wendung.

Was Edgar auf seinen Stationen erlebt, ist in mehrfacher Hinsicht unfassbar: hinsichtlich der armseligen Rahmenbedingungen, der erlittenen Grausamkeiten, der abstrusen Situationen und der überwiegend völlig abgedrehten Menschen, die seinen Weg säumen. Man kann sich mit den heutigen europäischen Kindeswohl-Maßstäben überhaupt nicht vorstellen, dass ein Kind all dies auch nur ansatzweise überleben könnte.

Wie ging es mir nun mit dem Roman?
Ehrlich gesagt: Es war mir zwischenzeitlich etwas zu dolle. Ich hätte all die Details nicht in dieser überbordenden Beschreibungstiefe gebraucht. Mir hätte vermutlich nichts gefehlt, wenn der Roman statt 470 nur 320 Seiten umfasst hätte.
Trotzdem bin ich froh, dass ich durchgehalten habe. Nicht nur wegen dem wirklich originellen Ende. Ich fand es tatsächlich anregend, einmal auf diese Weise und am Beispiel dieser fremden kulturellen Umgebung damit konfrontiert zu werden, was Menschen (Kinder) so alles aushalten können und wie unglaublich weit weg von unseren “Selbstverständlichkeiten” sich Leben gestalten kann. Das gilt unabhängig davon, wie viel reine Fiktion in diesem Buch steckt. Beim Lesen wird einem einfach bewusst, wie verrückt, extrem und gefährlich Leben auch sein kann, immer war und außerhalb unser geordneten Welt sicher auch weiter ist.
Ich glaube, dass dieses Buch speziell auch Menschen gut tun kann, die selbst ein Leben voller Belastungen und Brüchen hatten oder haben. Die Botschaft ist: Selbst wenn alles noch schlimmer kommt – irgendwie kann es trotzdem weitergehen – und irgendwo wartet vielleicht doch noch eine unerwartete Wendung…

(Sollte sich tatsächlich jemand ernsthaft für das Buch interessieren, kann ich sicherlich ein Ausleihen organisieren).

“Ausgebrannt” von Andreas ESCHBACH

Ich schätze diesen Autor. Er nimmt sich aktuelle und gesellschaftlich bedeutsame Themen vor und bereitet sie mit Hilfe aufwändiger Recherchen und viel Fantasie zu spannenden Geschichten auf. Dabei taucht er mit großer Akribie in technische (wirtschaftliche, historische) Welten ein, nimmt reale Entwicklungen auf und denkt sie mit einer dezenten, aber sehr anregenden  Portion an Science-Fiktion konsequent weiter.

Auch der Thriller “Ausgebrannt” ist so gestrickt: Alles in diesem Roman dreht sich um das Erdöl und um die auf dessen preiswerter Verfügbarkeit basierende Weltwirtschaft.
Es geht zunächst um Menschen und Erfindungen, die das Ziel haben, das Erdöl-Zeitalter möglichst grenzenlos zu verlängern. Dabei bilden reale wirtschaftliche und politische Zusammenhänge den Hintergrund für die agierenden Protagonisten, die ihren privaten Reichtumsträumen nachjagen . Eine besondere Rolle kommt dabei  – wenig überraschend – den Saudis und ihrer Rolle im globalen Poker um das Schwarze Gold zu.
In der zweiten Hälfte der Story ändert sich das Szenario grundsätzlich: Für die Hauptpersonen – aber auch für die ganze Welt – geht das goldene Überfluss-Zeitalter ziemlich unvermittelt zu Ende, so dass jetzt andere Kompetenzen und Erfindungen relevant werden. Dieser weitgehende Zusammenbruch der bisherigen Strukturen wird von ESCHBACH in vielen Facetten anschaulich beschrieben – natürlich wiederum unter Beteiligung der bekannten Figuren.

Meine Meinung:
Die Story selbst hat für mich im ersten Teil einige Längen, hat mich später dann mehr gepackt.
Für mich liegt der Gewinn für den Leser aber an einem anderen Punkt:
Dieser Roman öffnet tatsächlich recht wirkungsvoll den Blick auf die große Verletzlichkeit unseres gesamten realen Wirtschaftssystems, die nicht zuletzt  in der geradezu unfassbaren Abhängigkeit vom billigen Erdöl begründet liegt.
Auch wenn sich für einzelne Annahmen und Schlussfolgerungen sicher handfeste Gegenargumente finden lassen: Die Gedankenlosigkeit, mit der wir mit den Schätzen unseres Planeten umgehen, wird von ESCHBACH am Beispiel Erdöl wirkungsvoll vorgeführt.

Für mich ist das Ganze intelligente Unterhaltung – mit einem Mehrwert an Weltverständnis. Dafür nehme ich ein paar Schwächen in der Story gerne in Kauf.

“Gefühle & Emotionen – Eine Gebrauchsanweisung” von Vivian DITTMAR

Das Buch war ein Geschenk. Ich wäre von mir aus nicht darauf gestoßen und habe es gerade daher mit besonderer Neugier gelesen.

Mein  erster Eindruck war: Ein mutiges Unterfangen! Will doch die Autorin mit ihrem selbstgestrickten Gefühlskompass nicht mehr und nicht weniger, als einen erklärenden und handlungsbezogenen Leitfaden für den Umgang mit dem gesamten menschlichen Gefühlsleben schaffen. Das haben sich bestimmt schon bekanntere Geister mal vorgenommen – und dann auf knapp über 200 Seiten doch nicht hinbekommen…
Aber vielleicht schafft es ja Frau Dittmar.

Zunächst mal eine Entwarnung: Das Buch tritt nicht mit dem Anspruch auf, sich an komplexen psychologischen oder physiologischen Forschungsbefunden oder wissenschaftlich begründeter Theoriebildung abzuarbeiten. Ziel ist ein Ratgeber für den Alltag, der sich an eher an Plausibilität als an dem gesammelten Wissen der Emotionsgelehrten orientiert.
Die Autorin stellt auch klar, dass es neben den von ihr betrachteten “Gefühlen als soziale Kräfte” auch benachbarte Phänomene gibt, die am Beginn und am Ende des Buches nur ganz kurz behandelt werden (körperliche Empfindungen, biologische Programmierungen und Fähigkeiten bzw. Bewusstseinszustände).
Auch für die hier so klar vollzogenen Abgrenzungen reicht es der Autorin, ihre eigene Definition und Systematik heranzuziehen.

Genau dieser Ansatz  – Plausibilität und Klarheit statt wissenschaftlicher Komplexität – schafft eine große Freiheit (ich hätte fast “dichterische Freiheit” geschrieben). Die Autorin kann ein in sich stimmiges und geschlossenes Modell präsentieren, das einen zentralen Bezugspunkt für alle gemachten Aussagen schafft. Lässt man sich einmal auf ihre Definitionen ein (was z.B. bei der ungewöhnlichen Unterscheidung zwischen “Gefühl” und “Emotion” eine gewisse innere Entschlusskraft voraussetzt), dann erschließt sich eine geordnete Welt von fünf Grundgefühlen (Wut, Trauer, Angst, Freude und Scham), die in ihrem Charakter, ihren Funktionen und ihrer Wechselwirkung betrachtet werden können. Wir erfahren, welche (nützlichen) Kräfte in diesen Gefühlen wohnen, welche Konsequenzen es hat, wenn man sie nicht situationsadäquat spürt und zivilisiert zum Ausdruck bringt und sie statt dessen unterdrückt, vertauscht oder zu globalen und eher problematischen inneren Gebilden wachsen lässt (die dann hier “Emotionen” genannt werden).

Das alles macht in großen Teilen Sinn und lässt sich mit den Erfahrungen und Weisheiten aus westlicher Psychotherapie und östlichen Heilslehren recht gut vereinbaren. Es ist zweifellos sinnvoll und hilfreich, im Kontakt zu seinen inneren Zuständen zu stehen, Gefühle nicht zu verdrängen oder umzudefinieren, keine Scheu auch vor vermeintlich negativen Gefühlsqualitäten zu haben, die durch Gefühle mobilisierte Kräfte zu nutzen und sich vor einem überschäumenden Ausagieren von Gefühlen zu hüten.

Ist das schon die ganze Botschaft?
Nein, das wäre ungerecht.  An zwei Stellen wird zusätzlich das Wechselspiel zwischen Gedanken (Kognitionen) und Gefühlen betrachtet: Einmal wird deutlich gemacht, dass beim Entstehen der Gefühle gedankliche Bewertungen der Umweltgegebenheiten eine entscheidende Rolle spielen. Dies ist eine Erkenntnis, die im Rahmen der kognitiven Verhaltenstherapie eine zentrale Stellung einnimmt.
Später wird darauf hingewiesen, dass “Absolutheitsansprüche” dazu führen können, dass aus dem berechtigten Eintreten für persönliche Interessen und Überzeugungen verzweifelte und verbissene Kämpfe um universell gültige Prinzipien werden können. Auch hier lassen sich Bezüge zu kognitiv-orientierten Therapien ausmachen.
Dem Charakter eines Selbsthilfebuches entspricht es, dass insgesamt 12 Übungen eingestreut werden; dabei geht es meistens um  – jeweils auf die Inhalte der Kapitel bezogenen – Selbstbeobachtungs- und Selbstreflexions-Aufgaben. In dem Kapitel über den Umgang mit den in “Emotionen” verfestigten Altlasten gehen diese Übungen in eine Art Eigentherapie über.

Wie sieht nun meine persönliche Bewertung aus?

–  Für mich ist es grundsätzlich legitim, plausible und übersichtliche Modelle zu kreieren und zu benutzten, um in einer solchen komplexitätsreduzierten Welt psychische Prozesse besser zugänglich und handhabbarer zu machen.  Dittmar könnte vielleicht etwas stärker deutlich machen, dass sie nicht die “Wahrheit” über Gefühle schreibt, sondern einen sehr individuellen (und damit auch in gewisser Weise willkürlichen) Zugangsweg erschafft.

– Ich maße mir kein abschließendes Urteil darüber an, welchen Nutzen dieses Selbsthilfe-Buch für Menschen haben kann, die – ohne besondere Vorbildung und Vorerfahrung – Klarheit und Ordnung in ihr Gefühlsleben bringen wollen. Ich gehe aber davon aus, dass es in einer bestimmten Bandbreite von Fragestellungen und Klärungsbedarfen hilfreiche Anregungen zur persönlichen Weiterentwicklung geben kann.

– Der im Kapitel “Von der Emotion zum Gefühl” formulierte Anspruch, auch dem mit emotionalen Altlasten verbundenen Leid mit Hilfe dieses Buches (und einem vertrauten Menschen) zu Leibe rücken zu können, geht mir in einigen Aspekten schon etwas zu weit. Hier wäre vielleicht eine therapeutische Unterstützung schon die bessere und sicherere Wahl.

– Bezüge zu Begrifflichkeiten aus dem spirituellen bzw. esoterischen Bereich sprechen ein anderes Publikum vielleicht an; mich schrecken sie eher ab. Ich weiß nicht, welchen zusätzlichen Erkenntnisgewinn es bringen soll, die fünf Grund-Gefühle mit der “Elementen-Lehre” in Verbindung zu bringen und der Scham dem Äther zuzuordnen.

Also: Ein durchaus für Laien anregendes Buch mit einer gewissen Spur von dem Absolutheitsanspruch, der offenbar jedem in sich geschlossenem Erklärungssystem eigen ist.

“Neustart im Kopf” von Norman DOIDGE

Untertitel: “Wie sich unser Gehirn selbst repariert”

Damit ist schon mal geklärt, dass es sich nicht um einen Psycho-Thriller handelt, sondern um ein wissenschaftliches Sachbuch. Genaugenommen um ein Buch, das auf dem oberen Level eines populär-wissenschaftlichen Textes angesiedelt ist. Als Zielgruppe sind wohl in erster Linie interessierte Laien angesprochen, aber auch für medizinisch oder psychologisch vorgebildete Menschen hält das Buch eine Menge Hintergrund-Informationen bereit.

Sich mit den Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Gehirns zu befassen, ist seit einigen Jahren schwer in Mode gekommen. Die Frage, wie sich in dem Spannungsfeld zwischen Psychologie, Philosophie und Neurowissenschaft die uralten Fragen nach Geist und Bewusstsein beantworten lassen, hat mit der technischen Weiterentwicklung eine neue Dynamik bekommen. Mit modernen bildgebenden Verfahren kann man mittlerweile dem Gehirn beim Denken zugucken – und damit haben sich frühere Zweifel an dem biologischen Fundament unserer Geistigkeit endgültig in die Mottenkiste zurückgezogen. Alles, was unser Ich ausmacht, passiert im Gehirn (ja, der Bauch und die Hormone sind auch wichtig…).

Der Autor dieses Buches hat sich nun einer speziellen Mission verschrieben – und man kann ihm wirklich nicht vorwerfen, dass er diese Zielsetzung halbherzig verfolgen würde. Im Gegenteil: Es scheint tatsächlich sein Lebensthema zu sein, die (Fach-)Welt darüber aufzuklären, dass und in welchem Ausmaß das Gehirn veränderungsfähig, also plastisch ist. Und zwar bis ins hohe Alter.

DOIDGE zeichnet die Entwicklung der Gehirnforschung der letzten ca. 50 Jahre nach, akribisch und mit vielen Beispielen unterlegt. Seine Methode besteht darin, möglichst viele Spitzenforscher in diesem Bereich persönlich aufzusuchen, Gespräche zu führen und ihnen in ihren Laboren über die Schultern zu schauen bzw. ihre klassischen Experimente ausführlich zu schildern.

Seine Kernbotschaft könnte man so zusammenfassen:
Früher glaubte man, dass Gehirn wäre eine klar geordnete und stabile Welt, in der bestimmte Bereiche für bestimmte Aufgaben zuständig wären. Eine “Kartographie” des Gehirns wäre somit sowohl interindividuell (also zwischen Personen) und intraindividuell (also im zeitlichen Verlauf) zuverlässig und unveränderlich. Werden Nervenzellen bzw. ganze Gehirnbereich durch Krankheit oder Unfall zerstört, dann gehen auch die entsprechenden Funktionen dauerhaft und unwiederbringlich verloren.
Heute weiß man, dass das Gehirn eine enorme Plastizität besitzt und bestimmte Areale bei Bedarf sowohl schrumpfen und wachsen können bzw. ganz neue Funktionen übernehmen können – ohne zeitliche Begrenzung auf bestimmte sensible Phasen oder Altersbereiche.  

Der Autor gibt sich unendlich viel Mühe, diese Kernthese – die er übrigens in einer manchmal kaum zu ertragenden Redundanz wiederholt – zu untermauern. Dazu werden – wie schon angedeutet – sehr viele Experimente herangezogen. Das ist durchaus beeindruckend – wenn man vielleicht auch manchmal irritiert ist, wie wenig der Autor und seine Gesprächspartner auf die ethischen Konflikte bei Tierversuchen eingeht.
Ein zweiter Blick geht auf die Anwendungsmöglichkeiten der neuen Erkenntnisse für Medizin und Rehabilitation – aber auch für Pädagogik und Psychotherapie.

Das Besondere an diesem Buch ist für mich die Breite des Blicks. Irgendwann geht es nicht mehr darum, ob die gängigen “Gehirnlandkarten” wirklich so allgemeingültig und stabil sind bzw. ob verlorene Bereiche ersetzt werden können. Stattdessen wird immer deutlicher, dass jede Form von Erfahrung und Lernen zu Veränderungen im Gehirn führen und so letztlich die Plastizität eine Grundvoraussetzung für jede Entwicklung ist.
Ein wenig ist dieser unterschiedliche Umgang mit dem Plastizitätsbegriff zwischendurch irritierend.

Letztlich überzeugt hat mich dieses Buch dadurch, dass wirklich interessante und kreative Bezüge zwischen den Grundlagen-Erkenntnissen und unterschiedlichsten Anwendungsbereichen herausgearbeitet werden.
So hätte ich z.B. nie gedacht, dass die Technik der “Freien Assoziation” in der Psychoanalyse mal eine hirnphysiologische Interpretation erfährt. Oder dass ein gezieltes Gehirn-Training im Bereich der Lernbehinderung viel mehr erreichen kann als eine normale Förderbeschulung. Oder dass ein Mensch mit einem halben Gehirn (nur rechte Gehirnhälfte ist funktionsfähig) ein halbwegs normales Leben führen könnte. Oder dass sich für die Behandlung von Zwangspatienten neue Schlussfolgerungen ergeben könnten.Usw.
Das Buch ist eine Fundgrube für solche Beispiele und dadurch wirklich sehr informativ und anregend.

Fazit: Wenn man sich daran gewöhnen kann, dass manches nicht nur zwei- oder dreimal sondern 30-mal gesagt wird, bietet das Buch sowohl einen lebendigen Eindruck hinter die Kulissen der Hirnforschung als auch einen faszinierenden Ausblick in  – erst ansatzweise genutzte – Potentiale einer auf den Ergebnissen basierenden Reha, Psychotherapie, Förderung und in eine gehirnkompatible Gestaltung von Lernprozessen überhaupt.
Dass der Autor ein Überzeugungstäter ist, muss man nicht als Nachteil bewerten. Ohne eine große Portion Enthusiasmus würde man sicher so ein Projekt nicht angehen.

MTV unplugged 2 von UDO LINDENBERG

Bewertung: 4.5 von 5.

Nachdem ich kürzlich den Lebensrückblick von UDO  recht kritisch besprochen habe, geht es jetzt um sein neues musikalisches Werk. Nach dem sensationellen Erfolg seines ersten Unplugged-Albums (2011) wollte er es nochmal wissen: Gleiches Konzept, andere Lieder, andere Gast-Künstler.

Dies wird eine sehr persönlicher Blick auf diese Veröffentlichung. Sie ist geprägt davon, dass ich den Morgen des 4. Adventsonntags zur Verfügung hatte, um mich mit voller Aufmerksamkeit und hoher emotionaler Ansprechbarkeit dem kompletten Konzert in Blue-Ray-Qualität und in Dolby-Surround-Sound zu widmen.
Das Ergebnis: Ich war begeistert und angerührt. Und das will ich kurz erklären.

Zunächst zu den Rahmenbedingungen:
Das Ambiente ist aufwändig und liebevoll gestaltet. Das Thema: Seefahrer-Romantik. Es geht um Aufbrüche, um Abenteuer, um Unterwegs-Sein. UDO und seine Gäste bewegen sich in einer maritimen Bühnenlandschaft, ein Teil der Musiker ist in den Aufbauten eines großen Segelschiffes
untergebracht, die Schiffs-Bar darf natürlich nicht fehlen. Das ganze strahlt eine warme Atmosphäre aus.
Die musikalische Qualität der Darbietung ist wirklich über jeden Zweifel erhaben: Da sitzen und stehen ausnahmslos Spitzen-Musiker, denen die Unplugged-Arrangements wie auf den Leib geschnitten erscheinen. Es ist eine Freude, ihnen beim Spielen zuschauen und man hat durchweg den Eindruck, dass sie alle dieses besondere Ereignis genießen.
Das gilt übrigens auch für die Musiker vom Elbphilharmonischen Orchester, die sich ganz offensichtlich in diesem Moment als Teil der großen Lindenberg-Familie fühlen.

Da sind wir schon bei der Emotionalität:
UDO und sein Team schaffen es mal wieder, ein Grundgefühl von Herzlichkeit und Zusammengehörigkeit zu schaffen – eben die berühmte “Panik-Familie”. Wobei es inzwischen natürlich viel mehr ruhige und nachdenkliche Lieder gibt als den alten “Panik-Rock”.
Es sind nicht nur die Botschaften in und zwischen den Liedern, die auf Solidarität und Menschlichkeit setzen, es ist auch der demonstrativ liebevolle Umgang miteinander. Man mag sich und man zeigt es auch. Selbst wenn ein Teil davon Show-Business sein sollte – es ist ein liebenswerter Aspekt.
Auch die Einblendungen aus dem Publikum spiegeln mehr als nur die Begeisterung für einen verehrten Star wieder: Es ist zu spüren, dass man ein Lebensgefühl und eine Lebenshaltung teilt.

Die Grundthemen sind lindenbergisch klar: Es ist die Ambivalenz zwischen “großer Liebe” und dem Vagabunden-Dasein, es geht um empfundene Enge des Spießbürger-Daseins und die Flucht daraus, es geht um euphorischen Genuss und tiefen Absturz (im Alkohol-Exzess), es geht um den nie endenden Kampf gegen die zerstörerischen Kräfte: das gierige Kapital, das machthungrige Militär und die korrupten Politiker.
Ja – UDO hält seine Botschaft gegen jede Zeitgeist-Strömung aufrecht. Und er lässt wieder die Kinder auf der Bühne mitsingen, wenn er “in den Frieden zieht”. Das mag kitschig und naiv sein – aber es ist trotzdem um ein Vielfaches wertvoller als ein Großteil der inhaltslosen Konsum- und Promi-Welt, die sonst die Bildschirme vermüllt.

UDO hat sich mit diesem Album mal wieder selbst ein Denkmal gesetzt. Wirklich bemerkenswert. Und – das sei auch nicht unterschlagen – er selbst singt so gut und sauber wie niemals zuvor.
Hier tritt kein abgehalfterter Polit-Clown auf, um noch mal die schnelle Mark zu machen. Hier wird niveauvolle Unterhaltung auf allerhöchstem technischen und musikalischen Niveau geboten.

Wer in sich eine “UDO-Affinität” spürt, sollte sich dieses Konzert vielleicht mal gönnen. Ich würde stark dazu raten, es nicht beim bloßen Hören zu belassen, sondern auch optisch in die UDO-Welt einzutauchen.
Mir hat es einen intensiven und anrührenden Vormittag geschenkt. Was kann man von einer Silberscheibe mehr erwarten?!

(Übrigens: Wer wissen will, welche Künstler UDO diesmal um sich versammelt hat, kann das ganz schnell aus anderen Quellen erfahren).

“deutsch, nicht dumpf” von Thea DORN

Ein ganzes Buch über die die richtige Art „deutsch“ zu sein!
Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir diese Aufgabe nicht wirklich selbst ausgesucht: Diese Rezension ist eine Art Auftragsarbeit für einen guten Freund. Wie sollte ich mich dem Interesse an meiner Meinung zu einem Buch entziehen?!

Dieses Buch ist ein Buch einer „klassischen“ Intellektuellen – geschrieben für genau die Sorte von intellektuellen Mitstreitern, die mit Vorliebe den Feuilleton-Teil der ZEIT, der FAZ oder der Süddeutschen studieren, um sich über die aktuellen gesellschaftlichen Diskurse auf dem Laufenden zu halten.

So zu schreiben bedeutet, dass Frau Dorn gerne zeigt, wie groß und tief der kulturelle Fundus ist, aus dem sie schöpfen kann. Es ist in erster Linie der Fundus des traditionellen humanistisch-gymnasialen Bildungsbürgers, der sich in den Geistesgrößen der deutschen Klassik verankert sieht und sich ganz selbstverständlich und souverän in den historischen, literarischen, philosophischen und musikalischen Strömungen der letzten 250 Jahren bewegt – wie ein Fisch im Wasser.

Den Text zu lesen bedeutet, dass man sich einlassen muss – auf eine komplexe Sprache, auf einen – manchmal fast schwindelerregenden – Parforceritt durch Zitate und Argumentationslinien. Man fühlt sich gefordert – aber lohnt sich diese Anstrengung auch?

Zunächst aber zum Inhalt: Das Buch arbeitet sich in acht aufeinander aufbauenden Kapiteln durch die Themen Leitkultur, Identität, Heimat, Europa, Weltbürgertum, Nation und schließlich Patriotismus.
Frau Dorn gibt sich dabei durchaus Mühe, ihre Leser mitzunehmen: Sie erklärt immer mal wieder, wo sie gerade ist, wie sie die Bezüge sieht und wo sie hin will. Das ist hilfreich und sympathisch.

Der Autorin gelingt es ganz offensichtlich, unter diesen Oberbegriffen ihr gesamtes kulturelles und politisches Weltbild unterzubringen. Sie hat klare Meinungen und eine Botschaft (der Begriff „Message“ verbietet sich in diesen Kreisen – ebenso wie andere Anglizismen).

Was will sie uns nun sagen? Ich versuche es mal exemplarisch in ein paar kurzen und einfachen Thesen:

  • Wir Deutschen dürfen stolz sein auf unsere Kulturnation.
  • Eine heimatliche Einbettung in sich zu tragen ist erstrebenswert und unverzichtbar; erst auf dieser Grundlage kann man im guten Sinne „Weltbürger“ sein.
  • Die Nation ist immer noch die beste Basis für die verlässliche und schützende Einbindung in ein Gemeinschaftssystem (auch wenn man langfristig größere Einheiten anstreben darf).
  • Ein aufgeklärter und unaufgeregter Patriotismus ist nicht nur erlaubt, sondern erstrebenswert. Dabei dürfen – über den „Verfassungs-Patriotismus“ hinaus, auch eher emotional besetzte „Wesenszüge“ des Deutschseins eine Rolle spielen.
  • Man darf sich der eigenen Nation stärker verbunden und verantwortlich fühlen als dem Rest der Welt und darf nach realistischen Kompromissen suchen zwischen solidarischer Nothilfe und Eigeninteressen.
  • Moralische Prinzipien und die universelle Gültigkeit der Menschenrechte schließen einen pragmatischen Umgang mit „schwierigen“ Partnern auf der Weltbühne nicht aus.
  • Die größte Bedrohung für die Menschheit geht von den technikberauschten Weltveränderern des Silicon-Valleys aus, die den Wesenskern des Menschen auf dem Altar des Transhumanismus opfern.

Was vielleicht deutlich geworden ist: Dorn ist eine Frau der Mäßigung, des Abwägens, des Sowohl-als auch. Extreme Haltungen und Antworten sind ihr suspekt. Sie mag die Differenzierungen. Gerne stellt sie immer wieder sich widersprechende Textstellen von mehr oder weniger bekannten Autoren gegenüber, um dann die Synthese zu präsentieren – entweder in Form eines noch schlaueren Zitats oder gerne auch selbstdefiniert.

Brauch man nun all das oder erlebt man es eher als intellektuelle Selbstbeweihräucherung?

Nun, ich habe mich auf den ersten Seiten tatsächlich gefragt, ob mir diese ganze Welt der Frau Dorn nicht doch zu fremd ist. Nicht nur deshalb, weil ich einfach nicht so verwoben bin mit der „Deutschen Klassik“ und ich meine Haltungen und Antworten im Allgemeinen mit deutlich weniger historischem Tiefgang ausbilde.

Tatsächlich war mir die geradezu missionarische Konzentration auf die „Hochkultur“ der Goethes, Kleists, Bachs und Wagners ein bisschen zu dominant und rückwärtsgerichtet. Ich verstehe ja, dass man Opern als ein wertvolles Kulturgut betrachten kann – aber muss das der notwendige Bezugspunkt im 21. Jahrhundert sein? Ganz sicher nicht! War Frau Dorn mal in einem Pink Floyd-Konzert? Ganz sicher nicht!
Sie sollte mit ihrem einseitigen Kultur-Begriff den Ball vielleicht ein wenig flacher halten.

Doch es gab beim Lesen auch die anderen Momente: Man wollte spontan den gut geführten Argumentationslinien folgen und fühlte sich angeregt und inspiriert von Ausführungen, die schon ein oder zwei Jahrhunderte auf dem Buckel haben. Manchmal ist es einfach überzeugend und klug, was da zusammengetragen und geschlussfolgert wird.

Ich habe kein Problem damit, dass jemand, der ein Buch schreibt, seine Weltsicht verbreiten will. Welche Motivation sollte naheliegender sein?! Dabei darf man gerne auch mal polemisch zuspitzen. Geschenkt!

Letztlich ist es ein Buch für eine eher begrenzte, speziell motivierte Leserschaft. Es wird nicht in den Mainstream vordringen. Aber es war keine verlorene Zeit. Wenn man denn Menschen um sich hat, mit denen man sich auf diesem Niveau austauschen kann…

“NSA – Nationales Sicherheitsamt” von Andreas ESCHBACH

Ich empfehle dieses aktuelle Buch sehr. Es lohnt sich also vielleicht doch, hier mal weiterzulesen.

Historische oder zeitgeschichtliche Romane sind überaus beliebt. Science-Fiction-Literatur erreicht eine – zwar begrenzte – aber treue Leserschaft. Liebesromane und Krimis treffen auf lesehungrige Massen.

Warum erwähne ich diese Banalitäten?
Nun: NSA ist ein Buch, das alle diese Genres in sich vereint – in gewisser Weise liest man also mit diesem Roman mindestens vier Bücher gleichzeitig. Dann um die Vermittlung von technisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen geht es nebenbei auch noch.

Am interessantesten erscheint mir die Kombination von zeitgeschichtlichem Rückblick und Zukunftsroman. Der ganz besondere Clou des Autors ist es nämlich, dass eine – inzwischen tatsächlich etablierte – technische Entwicklung (um einige Jahrzehnte) in die Vergangenheit transferiert wird und damit aus dieser (früheren) Perspektive ein mögliches Zukunftsszenario beschrieben wird. Da diese “Zukunft” ja bereits ein Teil unserer Geschichte ist, ergibt sich ein anregendes Spiel mit Eventualitäten.
Um es nochmal anders zu sagen: NSA ist ein “was-wäre-gewesen-wenn-Roman”.

Ich werde mal konkreter: Eschbach schildert die Entwicklung des “Dritten Reiches” unter der Voraussetzung, dass der Computer schon am Anfang des letzten Jahrhunderts erfunden und entwickelt wurde. Also: NS-Regime mit den technischen Möglichkeiten von Google und Co.

Da fällt einem ganz spontan eine Menge ein. Über die Risiken, die entstehen, wenn digitale Überwachungs-Macht von diktatorischen Systemen genutzt werden kann, wurde ja schon reichlich  geschrieben und diskutiert.
Durch den Kniff, dieses Szenario am Beispiel des Hitler-Regimes konkret durchzuspielen, gewinnt dieses Thema eine faszinierende Lebendigkeit.

Da dieses Buch ja nicht für historische Seminare geschrieben wurde, bietet es natürlich sowohl spannende Erzählstränge als auch reichlich Stoff für die emotionale Identifikation mit den dargestellten Einzelschicksalen. Es geht um Liebende, um Hassende, um Böse, um Gute, um Persönlichkeitsgestörte, usw.
Man kann sich das sicher irgendwie vorstellen…

Mich haben insbesondere folgende Aspekte beeindruckt und zu dem Urteil beigetragen, dass es sich wirklich um ein besonders lesenswertes Buch handelt:

  1. Dem Autor hat es offensichtlich großes Vergnügen gemacht, die moderne PC-Technik mit all ihren Facetten in den zeitgeschichtlichen und sprachlichen Kontext zu übertragen. Das ist wirklich durchweg sehr originell gemacht und lädt immer wieder zum Schmunzeln ein.
  2. Eschbach baut auf eine elegante Weise historische Einzel-Ereignisse (Anne Frank, Geschwister Scholl, …) in seinen Plot ein, wodurch sein Spiel mit der “alternativen Realität” nochmal an Ausdruckskraft gewinnt.
  3. Das Spiel mit den Ebenen wird auf eine sehr kreative Weise auf die Spitze getrieben: Ausgerechnet in einem Roman, in dem es um eine historische Alternative geht, tritt eine Figur auf, die sich als Geschichts-Student mit dem Thema beschäftigt, was denn hätte geschehen können, wenn der Computer erst viel später erfunden worden wäre. Toll!
  4. Ich mag Bücher, die nicht erwartungsgemäß enden.
    Dazu sage ich an dieser Stelle selbstverständlich nichts Genaueres.

Natürlich spürt man fast in jeder Zeile die Botschaft – in diesem Fall die Warnung – des Autors vor den Gefahren der aktuellen und drohenden digitalen Totalüberwachung und -kontrolle.
Aber: So intelligent und unterhaltsam bekommt man dieses Thema sicher nur extrem selten dargeboten.
Und wann kann man schon mit einem guten Gefühl sagen: “Ich habe gerade vier gute Bücher gelesen!”