Systemsprenger

Ein ganz anderer Film. Eher eine Fortbildung als ein normaler Spielfilm.

Strukturell betrachtet geht es um das schwierige und oft leidvolle Dreieck von Familie, Jugendhilfe und Psychiatrie. Es geht um die mehr oder weniger hilflosen Versuche, die “passsende” Maßnahme für ein Kind zu finden, das nicht zu Hause leben kann. In einer Situation, in der kein Angebot wirklich passen kann.
Auf individueller Ebene wird eindrucksvoll die verzweifelte Suche eines neunjährigen Mädchens nach Liebe, Bindung und Halt in aufrüttelnde Bilder übersetzt. Das lässt niemanden kalt.

Dieses Mädchen sprengt alle Systeme, weil die zuständigen Systeme (Jugendhilfe und Psychiatrie) nur Pseudo-Lösungen anbieten; zumindest für dieses Mädchen.
Bei ihr kommen mehrere Faktoren zusammen: Die abgrundtiefe Enttäuschung über eine Mutter, die für sie nicht Mutter sein kann; eine untherapierte Traumatisierung, die immer wieder zu unkontrollierbaren Impulsdurchbrüchen führt und eine unbändige Lebensenergie, die tragischer Weise immer wieder destruktive Ausdrucksformen findet.
Gemeinsam halten diese Bedingungen eine Dynamik aufrecht, die alle beteiligten Institutionen und Personen überfordert. So werden dann in Hilfeplangesprächen immer wieder neue Lösungen gesucht – wo doch alle Beteiligten wissen, dass jedes Scheitern die Möglichkeiten einer Verbesserung erschweren. Hilflose Helfer in einem hilflosen System.
Die einzige Erfahrung von Macht und Kontrolle, die dieses Mädchen in diesem Leben erleben kann, ist das kompromisslose Aufbegehren: Wenn ihr schon die Erfahrung zeigt, dass niemand sie wirklich auf Dauer aushalten kann, dann sich wenigstens als die fühlen, die Auslöser und Zeitpunkt bestimmt!

Der Film versucht zu zeigen, was so ein Kind wirklich sucht und braucht; welche Not und welche ungestillten Bedürfnisse und Sehnsüchte hinter dem hemmungslosen Ausagieren von Wut und Enttäuschung stecken.
Dabei geht es einmal um die endlosen Versuche, doch noch zur mütterlichen Liebe zu finden, sie letztlich zu erzwingen. Ohne Erfolg.
Es gibt aber einen Lichtblick: Ein cooler, tougher Schulbegleiter lässt sich von dem Mädchen anrühren und schlägt eine Individualmaßnahme vor, die er sonst nur für die harten Jungs anbietet: ein paar Tage in einer abgeschiedenen Hütte im Wald.
Hier entsteht sie dann doch: die wirkliche Beziehung, das bedingungslose Aushalten in einer Begegnung ohne Ausweichmöglichkeit. Das Mädchen spürt Halt, wird weich, kann sich fallen und tragen lassen.
Letztlich scheitert auch dieser Hoffnungsschimmer an den Grenzen der beteiligten Personen unter den gegebenen Bedingungen.

Genug zur Handlung.
Hat dieser aufrüttelnde Film besondere Stärken oder Schwächen?
Eigentlich steht diese Frage angesichts der dramatischen Inhalte eher im Hintergrund.
Um es kurz zu sagen: Der Film ist ohne Zweifel sehr gut gemacht. Die kindliche Darstellerin spielt absolut faszinierend. Passend, aber glücklicherweise relativ sparsam, werden filmische Effekte eingesetzt, um bestimmte Bewusstseinszustände des Mädchens darzustellen. Ansonsten spricht die Handlung für sich.
Natürlich findet man nicht jede einzelne Szene stimmig: So ist es schon ein wenig klischeehaft, dass nach einem Scheitern einer Maßnahme das Mädchen ihre in Tränen zusammengebrochene Sozialarbeiterin tröstet. Auch die Tatsche, dass das weggelaufene Mädchen ohne weitere Suchmaßnahmen eine Nacht im winterlichen Wald verbringt, ist vielleicht nicht ganz realistisch.
Aber auf solche Details kommt es letztlich nicht an.

Und die Systemfrage? Können Jugendhilfe und Psychiatrie einpacken, wenn das Urbedürfnis nach bedingungsloser Annahme durch die Eltern oder Ersatz-Bezugspersonen nicht erfüllbar ist?
Sicher nicht. Aber der Film zeigt, dass in bestimmten Konstellationen wirklich alle therapeutischen und pädagogischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden müssen, wenn es eine Chance auf eine gute Entwicklung geben soll. Wird ein Baustein – hier die Traumatherapie – weggelassen, kracht die Hilfskonstruktion vielleicht immer wieder ein.
Der Grundbotschaft des Filmes kann man sicher nicht widersprechen: Nur ein auf Dauer verlässliches Beziehungsangebot kann so ein Kind ansatzweise “heilen” – und allzu oft scheitert dies an den Systemgrenzen.

Der Film weckt keine Hoffnungen. Das ist vielleicht insgesamt eine realistische Sichtweise.
Trotzdem ist es natürlich ein wenig schade, dass es kein Beispiel für ein Gelingen gibt. Natürlich gibt es auch positive Verläufe, in denen hoch-engagierte Fachkräfte in Therapie, Individualbetreuungen, professionellen Pflegestellen oder Auslandsmaßnahmen eine tolle Arbeit machen.
Aber das wäre dann vielleicht ein anderer Film….


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