04.04.2020

Wie sich die Maßstäbe verschieben…

Man stelle sich mal vor, was vor einigen Wochen los gewesen wäre, wenn ein Vertreter der Führungsriege der AfD laut über eine Teilung der Partei nachgedacht hätte.
Die Talk-Show-Themen für mindestens eine Woche wären gesetzt gewesen. Jetzt bleibt es bei einem kurzen Aufhorchen…

Der Gedanke von Meuthen ist ja durchaus nachvollziehbar: Würde der rechte Rand der AfD eine separate Partei bilden, könnte sich der Rest als “bürgerlich-konservative” Ergänzung am rechten Rand der CDU etablieren und käme demnächst für Koalitionen in Frage. Die rechtsradikalen “Schmuddelkinder” wäre man auf eine elegante Weise los.
Wenn die AfD wirklich diese – selbst behauptete – “Bürgerlichkeit” hätte, müsste dieser Weg eigentlich sehr attraktiv sein.

So einfach ist es aber nicht:
Die ganz Rechten werden sich mit Zähnen und Klauen dagegen wehren, durch diese Trennung in die Bedeutungslosigkeit abzurutschen.
Die halbwegs seriösen Konservativen müssten wohl damit rechnen, von der CDU/CSU aufgesogen zu werden. Sie könnten wohl ihren Wählern nur schwer vermitteln, warum man die Union schwächen sollte, um nur ein “bisschen” konsequenter konservativ zu sein.
Dazwischen vermute ich noch eine dritte, keineswegs kleine Gruppierung: Es sind genau die AfD-ler, die sich ganz bewusst nicht von den rechten Rändern distanzieren möchten – weil sie mit ihrer Ideologie sympathisieren und deren Polemik bzw. Demagogie für die Mobilisierung von Wählern weiter nutzen wollen.

Und deshalb – so vermute ich – wird es diesen möglichen “Beweis” für den bürgerlichen Kern dieser Partei (in Form einer Spaltung) nicht geben.

Aber das alles wird im Moment kaum jemanden interessieren.
Es gelten eben andere Maßstäbe…

02.04.2020

Ein echter Aufreger: Wer soll demnächst bevorzugt (bzw. benachteiligt) werden, wenn die Beatmungsgeräte knapp werden?

In der Theorie ist diese Frage eine tolle Spielwiese für Theologen, Moral-Philosophen, Medizin-Ethiker oder Verfassungsjuristen. Ich der Praxis geht es schlichtweg um Leben und Tod – durchaus mit einiger Wahrscheinlichkeit demnächst auch in Deutschlands Kliniken.

Was man nicht alles ins Feld führen könnte: Abstrakte Prinzipien (die sich durchaus widersprechen können), medizinischer Pragmatismus (der im Einzelfall als willkürlich hinterfragt werden könnte), den gesunden Menschenverstand (der oft hilfreich, manchmal aber auch gefährlich sein kann)…

Weil man sich vor lauter Widersprüchen, einem Ethik-Fundamentalismus und einer (potentiellen) juristischen Angreifbarkeit letztlich nicht traut, überhaupt eine Position zu beziehen, wird von einigen das Losverfahren vorgeschlagen.
Kann das richtig sein?!

Was würde das bedeuten? Weil man z.B. das Kriterium „Alter“ nicht anwenden dürfte (grundgesetzwidrig?), könnte der Konflikt zwischen zwei Patienten mit „vergleichbarer Prognose“ durchaus zu Gunsten eines 80-jährigen und zu Ungunsten eines 50-jährigen ausgehen – weil das Los so entschieden hat. Will man das? Will das eine Gesellschaft? Will das der 85-jährige?

Natürlich hoffen wir alle, dass es so weit nicht kommen wird. Aber das ist wirklich nur eine Hoffnung.
Habe ich denn einen Vorschlag, der besser ist als das Los?

Nun, ich bin absolut dafür, den Heilungschancen eine große Bedeutung einzuräumen. Es wäre unverantwortlich, wenn aus Angst vor Entscheidungen letztlich mit intensivmedizinischem Aufwand das Sterben von schwerkranken und sehr betagten Menschen verlängert würde und gleichzeitig Menschen mit Aussichten auf ein langes gesundes Leben dafür den Preis bezahlen müssten.

Meine Hoffnung: Vielleicht wird es ja überraschend viele Menschen geben, die bei einem dramatischen Engpass von Behandlungsmöglichkeiten selbst eine Entscheidung fällen. Was  spräche dagegen, dass diejenigen, die zu solchen Überlegungen noch fähig sind, ihre Patientenverfügungen in diesem Sinne aktualisieren? Will wirklich jeder vorerkrankte Mensch 80+, der das Pech einer Corona-Infektion und dadurch eine schwere Lungenentzündung hat, um jeden Preis eine extrem belastende mehrwöchige intensivmedizinische Beatmung in Anspruch nehmen? Selbst wenn im Zweifelsfall z.B. ein 20 Jahre jüngerer Mensch dafür sterben müsste? Sollte man sie nicht vorher fragen, Ihnen Selbstbestimmung zutrauen?

Darüber wird unsere Gesellschaft vielleicht in einigen Wochen (oder Monaten) sprechen müssen. Ich hoffe, das passiert auch. Besser Tabus brechen als unvorbereitet auf eine Tragödie zulaufen.

(Falls jemand denkt, ich weiß nicht wovon ich rede und stelle mir grundsätzlich das Leben von alten Menschen als nicht lebenswert vor: Meine Mutter ist 94 geworden und hat die überwiegende Zeit jenseits der 80 noch genossen).

01.04.2020

Heute war wieder einer dieser Tage, an denen ich Corona fast vergessen konnte, so ganz persönlich. Dann lade ich mir abends die neue ZEIT herunter und bekomme wieder die volle Dröhnung.

Was für ein Wechselbad!

Irgendwie schleichen wir uns alle durch eine Katastrophe, von der wir immer noch nicht wissen, wie dramatisch sie ausfallen wird und ob wir selbst betroffen sein werden (vermutlich etwa mit 50% Wahrscheinlich).

Was wir zumindest ahnen: Andere Teile dieser Welt werden sehr viel stärker leiden. Und es wird völlig unrealistisch sein, dort auch nur einen Bruchteil der Maßnahmen zu ergreifen, die hier doch vieles abfedern.

Es werden sich noch viele Fragen stellen, in den nächsten Monaten und Jahren. Auch nach der Verteilung von Reichtum und Ressourcen. Fragen, die schon immer ihre Berechtigung hatten, jetzt aber eine unüberhörbare Aktualität bekommen werden.

Vielleicht sind wir urplötzlich in die dynamischte Phase der jüngeren Geschichte geraten. Anders als erwartet weder wegen der Klimakrise (die man ja so gut verdrängen konnte) noch wegen der Digitalisierung. Es wird der Virus sein, der alles kräftig durcheinander schüttelt.

Wir erleben Geschichte – live und in Farbe. Und wir spielen alle mit. Die Rollen sind noch nicht alle verteilt. Aber eins ist klar: Wir sind alle Statisten!