“Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit” von Mai Thi NGUYEN-KIM

Bewertung: 5 von 5.

Aus gutem Grund gibt es seit einiger Zeit eine Reihe von Artikeln und Büchern, die sich mit dem Phänomen der “alternative Fakten” befassen. Darin wird insbesondere die Frage gestellt, wie es dazu kommen konnte, dass uns scheinbar die gemeinsame Grundlage für das verloren geht, worüber man dann verschiedener Meinung sein könnte. Es ist der Eindruck entstanden, dass es zunehmend an einer gemeinsam akzeptierten Ausgangslage – einer unbezweifelbaren Realität – mangelt.

Statt diese Entwicklung nur zu beschreiben und zu beklagen, hat sich die – inzwischen durch ihre mediale Präsenz bekannte – Autorin das Ziel gesetzt, der Erosion der geteilten Wirklichkeit etwas entgegenzusetzen.
Sie tut das auf zwei Ebenen, die sie permanent miteinander verbindet: Sie schildert die Erkenntnis- bzw. Faktenlage zu einer Reihe von kontrovers diskutierten Themen und erklärt gleichzeitig die Grundzüge wissenschaftlichen Arbeitens.
Das Erstaunliche: Sie geht dabei richtig tief unter die Oberfläche!

Fangen wir mit den Themen an, die NGUYEN-KIM einer ausführlichen Faktenanalyse unterzieht: Schädlichkeit von Drogen, Videospiele und Gewalt, Gender Pay Gap, Schul- vs. Alternativmedizin, Impfungen, Erblichkeit von Intelligenz, Geschlechtsunterschiede.
Als Auftakt stellte die Autorin jeweils ein paar “Fangfragen”, die übliche Voreingenommenheiten verdeutlichen sollen. Dann geht’s an die Befunde: Welche Untersuchungen gibt es? Welche methodische Qualität haben sie? Welche Schlussfolgerungen lassen sie zu? Wie eindeutig lässt sich die Ausgangsfrage beantworten?

Ich war sehr überrascht von der Informationsdichte und -tiefe der Ausführungen. Hier geht es nicht um schnelle Meinungsmache, die mit ein paar peppigen pseudowissenschaftlichen Schlagzeilen unterfüttert werden. NGUYEN-KIM arbeitet sich sorgfältig und gründlich ab an den Themen, sie mutet dem Leser (auch der Leserin) Details und Widersprüchlichkeiten zu. Es wird geradezu unerbittlich darauf geachtet, dass jeder einzelne argumentative Schritt nachvollzogen werden kann. Ausruhen iss nicht – Mitdenken ist angesagt!
Die Autorin wendet sich vorrangig an ein eher junges Publikum, das sie auch über ihre anderen Medienkanäle erreicht. Man duzt sich – was aber der Seriosität ihrer Aussagen keinen Schaden zufügt.

Es wäre wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass man hier gleich zwei Bücher auf einmal bekommt: Denn neben den o.g. Themen steht – mindestens gleichberechtigt – eine umfangreiche Einführung in die Grundprinzipien des wissenschaftlichen Arbeitens auf dem Stundenplan. Und auch diese Inhalte sind nicht ohne: Hypothesenbildung, experimentelle Forschungsdesigns, statistische Prüfung von Signifikanzen, Tricks bei der Interpretation von Befunden, usw.
Das Ziel: Die Autorin will nicht nur einen (tiefen) Einblick in die Innereien der wissenschaftlichen Methodik geben, sondern auch gleich das Basis-Rüstzeug vermitteln, Untersuchungsbefunde kritisch einzuordnen.

Ohne Zweifel: NGUYEN-KIM ist Wissenschaftlerin mit Leidenschaft. Sie lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass es kein alternatives System zur Gewinnung von Erkenntnissen über die Welt gibt. Sie will aber keine blinde Wissenschaftsgläubigkeit, sondern sie will den aufgeklärten Bürger, der auch Fragen stellen und Schwächen erkennen kann.

Die größte Stärke der Autorin liegt sicher darin, dass man ihr abnimmt, dass sie im Zweifelsfall den Fakten mehr Gewicht geben würde als ihren Überzeugungen.
Sie scheut es auch nicht, Dinge beim Namen zu nennen, die viele sicher nicht gerne hören (z.B. die eklatanten Missstände bei der Bewertung von Homöopathie und der Ausbildung von Heilpraktikern).

Manchmal beißt sich NGUYEN-KIM geradezu fest bei einem Thema: Da ich selbst vom Fach bin, kann ich ganz gut beurteilen, dass z.B. die Auseinandersetzung mit der Erblichkeit von Intelligenz jedem Uni-Seminar zur Ehre gereichen würde. Da wird so manche/r interessierte Laie irgendwann aussteigen…

Insgesamt kann ich mir kaum ein informativeres Buch über die Möglichkeiten und Grenzen von Wissenschaft vorstellen. Ehrlicherweise muss man aber einräumen, dass der Text eine Grundbildung voraussetzt (eine gewisse Nähe zum Abi wäre sicher nicht verkehrt).

Für mich bestand der größte Mangel dieses Buches darin, dass es irgendwann zu Ende war.
Ich würde mir sehr gerne auch die restliche Welt von NGUYEN-KIM erklären lassen (und erhoffe mir daher Nachfolge-Bände).

Das Hörbuch hat die Autorin übrigens selbst eingelesen. Absolut professionell! Es ist ein Vergnügen, ihr zuzuhören.

Gendersprache und Diskriminierung

Die aktuell diskutierte und bereits stattfindende Veränderung unserer Sprache betrifft uns alle: als Lesende, als Schreibende, als TV-Konsumenten, usw.
Viele lassen es einfach geschehen und warten ab – so wie man es ja auch mit anderen zeitgeschichtlichen Phänomenen letztlich gewohnt ist.
Manche regt es aber auch sehr auf: weil sie die Schönheit oder die Verständlichkeit der Sprache bedroht sehen, weil Sie sich nicht das “richtige” Schreiben bzw. Sprechen vorschreiben lassen wollen oder weil ihnen die ganze Richtung nicht passt (mit all den Diskussionen um Diskriminierung, political correctness und Diversitäten).
Kenn ich eigentlich meinen eigenen Standpunkt? Könnte ich ihn formulieren?
Nachdem ZEIT und SPIEGEL durch sind, wird es Zeit für einen Post.

Natürlich will ich hier nicht die ganze Breite der Diskussion aufspannen. Das können andere besser. Mir geht es um die Sprache, um die Verabsolutierung der Geschlechtszugehörigkeit und um das Verhältnis von Minderheiten und Mehrheiten.
Mir geht es ganz sicher nicht darum, traditionelle Machtpositionen von Männern zu verteidigen oder einen allgemeinen konservativen Rollback zu befördern.

Zur Sprache
Ich schreibe gerne und viel. Ich mag es, wenn Texte gut lesbar, leicht verständlich und so unkompliziert wie möglich (und damit auch irgendwie “elegant”) sind. Als Schreibender hätte ich gerne relativ große Freiheiten, um mich und meinen Stil ausleben zu können. Gerne unterwerfe ich mich dabei orthografischen und grammatikalischen Konventionen. Diese zu beherrschen, ist ein Teil von Schreibkompetenz.
Was ich nicht möchte, sind Vorgaben, die mir aus (meinetwegen gut gemeinten) ideologischen Motiven und als Ergebnis einer gesellschaftlichen Lobbyarbeit vorgegeben werden. Auch wenn man nicht gezwungen wird: Ab sofort ist mit Art und Umfang des sprachlichen Genderns ein weltanschauliche Selbstoffenbarung verbunden.
Ich will aber einfach bestimmte Veränderungen vermeiden, die ich als Beschädigung der Sprache erlebe; ich will nicht gleichzeitig eine Botschaft vermitteln, dass ich offenbar AFD-affin wäre.
Übrigens: Einen nachträglichen Eingriff in frühere oder gar historische Texte aus Gründen von Gender- oder sonstigen Gerechtigkeiten halte ich für völlig unakzeptabel.

Zur Geschlechtszugehörigkeit
Mich sprechen Stellungnahmen von Frauen an, die es als Zumutung erleben, dass durch das exzessive Gendern nicht die (gesellschaftliche) Gleichheit der Geschlechter befördert würde, sondern – ganz im Gegenteil – das Frau- oder Mannsein (und alle möglichen Zwischenformen) immer und überall mitgedacht und betont würde.
Warum muss dieses eine Merkmal unaufhörlich markiert werden? Wem nützt das eigentlich? Muss man Geschlechterzugehörigkeit (mit sprachlicher Hilfe) zu der zentralen Frage machen, mit dem Ziel sie – eigentlich – bedeutungslos werden zu lassen?
Ja, ich kenne all die Argumente über den Zusammenhang von Sprache und Machtverteilung in einer Gesellschaft. Ich glaube nur, dass die reale Macht der wichtigere Punkt ist und dass Sprache dann ganz von alleine hinterherkommt.

Sprachliche Diskriminierung von Minderheiten
Jetzt wird es noch schwieriger – ich bewege mich in vermintem Gelände. Man macht sich nicht nur Freunde, wenn man Meinungen kundtut. Zum Glück mögen meine Leser/innen (auch hässlich; am liebsten hätte ich “Leser” geschrieben) auch offenen und kontroversen Austausch.
Ich finde, dass jede Minderheit, die Recht und Freiheit der Mehrheit nicht einschränkt, Anspruch darauf hat, nicht wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe benachteiligt zu werden.
Was ich nicht finde: dass jede Minderheit den Anspruch darauf hat, dass die Mehrheit ihre Traditionen, Gewohnheiten und alltäglichen Abläufe auf die jeweiligen Bedürfnisse und Wünsche ausrichtet. Ich halte es beispielsweise nicht für notwendig, dass in jedem Text, der sich an Mädchen oder Jungen wendet, der Hinweis enthalten sein müsste, dass man sich ja vielleicht durch beide Begriffe nicht angesprochen fühlen könnte (vor einigen Tagen selbst gelesen!).
Es ist sicherlich gut gemeint, wenn Sprache das Selbsterleben von Minderheiten berücksichtigen will. Aber: Gibt es nicht auch sowas wie das Selbsterleben von vielleicht 99 Prozent der Gesellschaft? (Wikipedia schätzt den Anteil von “intergeschlechtlichen” Personen auf 0,2% der Bevölkerung). Ist es wirklich sinnvoll, wenn 99,8% der jungen Menschen, die sich gerade mühsam in ihre Identität als Mädchen oder Junge hineinarbeiten, permanent darauf gestoßen werden, dass es ja auch viel komplizierter sein könnte? Was ist an diesem Punkt mit der “Macht der Sprache”? Hat da schon jemand drüber nachgedacht?

Resümee
Sprache entwickelt sich weiter. Das kann man als Einzelner nicht aufhalten.
Vermutlich werde auch ich in drei oder fünf Jahren ganz selbstverständlich sprachlich gendern – weil es einfach zum neuen Regelkanon gehören wird (wie die Rechtschreibung).
Ich wollte nur mal meine Meinung vom März 2021 sagen. Und ich weiß, dass das Ganze komplexer ist, als meine paar Anmerkungen hier. Auch ich habe einige Sympathien für die andere Seite.
Freue mich über Zustimmung und Widerspruch.

“Der neunte Arm des Oktopus” von Dirk ROSSMANN

Bewertung: 4 von 5.

Auch sehr reiche Menschen können von einer Mission getrieben werden, die über ihr persönliches Wohlergehen weit hinausreicht. Das trifft sicherlich in besonderem Maße für das Ehepaar Gates in den USA zu. Hier in Deutschland tut sich der Unternehmer ROSSMANN damit hervor, für eine große Sache einzutreten: die Verhinderung der Klimakatastrophe.
Während er Ende 2019 noch 25 000 Exemplare von “Wir sind das Klima” (Jonathan Foer) verschenkte, schreibt er jetzt das Buch mit seiner Botschaft gleich selbst. Das ist mal ein Einsatz!

ROSSMANN kleckert nicht; er will an das große Massenpublikum heran.
Was wollen die Leute? Spannende Unterhaltung!
Also muss ein Thriller her.

Erzählt wird in zwei Zeitebenen: in einer etwas erweiterten Gegenwart (bis 2025) und aus einer rückblickenden Perspektive des Jahres 2100. Mit solchen Sprüngen kann man gut spielen; kaum etwas ist so erhellend wie ein Nachbetrachtung aus der Zukunft. Aber das ist erzähltechnisch noch nichts Besonderes.
Eine Art Alleinstellungsmerkmal bringt der Autor mit seiner sehr engen Anlehnung an die realen und aktuellen (welt)politischen Personen und Themen. So werden Putin, Jinping und Harris (Biden wurde zuzusagen übersprungen) zu handelnden Protagonisten, die sich tatsächlich zur Rettung der Welt zusammentun.
(Noch ein bisschen weiter treibt der etwas schelmische Autor, wenn er am Ende des Buches auch seine (real vorhandene) Freundschaft mit Gerhard Schröder ins Gespräch bringt).

Und dann ist da noch die Sache mit dem Oktopus.
Er dient offenbar als eine Art Gegengewicht zu der rationalen Logik von Macht und Wissenschaft und symbolisiert die organische, sich einer totalen Kontrolle entziehenden Kraft der lebendigen Natur.

Die zentrale – politische, moralische und philosophische – Frage, wie weit Macht (auch militärische) benutzt und Freiheit anderer (Staaten und Menschen) eingeschränkt werden darf, um ein höheres Ziel zu erreichen, sollte in ihrer Bedeutung nicht unterschätzt werden.
Die Dinge werden sich zwar nicht so entwickeln wie in dieser Fiktion – aber über die Notwendigkeit einer irgendwie gearteten “Öko-Diktatur” wird man mit absoluter Sicherheit in den nächsten Jahrzehnten immer mal wieder sprechen und streiten.
Dafür ist es sicher eine gute Übung, sich beim Lesen dieses Buches schonmal selbst dabei zu beobachten, auf welcher Seite man den stehen würde (ich wusste sehr schnell).

Auch wenn man an einigen Stellen im Buch deutlich spürt, dass die Handlung nur der Container für die Message ist: Das Buch ist handwerklich gut gemacht, enthält ausreichend Spannungsbogen und bietet ein weites Panorama, das von den Mächtigen und Reichen der Welt bis zu einfachen Menschen reicht, die nur zufällig in das Getriebe geraten sind.

Für mich ein wichtiges Buch und eine tolle Initiative eines Menschen mit einem persönlichen Sendungsbewusstsein.