Systemsprenger

Ein ganz anderer Film. Eher eine Fortbildung als ein normaler Spielfilm.

Strukturell betrachtet geht es um das schwierige und oft leidvolle Dreieck von Familie, Jugendhilfe und Psychiatrie. Es geht um die mehr oder weniger hilflosen Versuche, die “passsende” Maßnahme für ein Kind zu finden, das nicht zu Hause leben kann. In einer Situation, in der kein Angebot wirklich passen kann.
Auf individueller Ebene wird eindrucksvoll die verzweifelte Suche eines neunjährigen Mädchens nach Liebe, Bindung und Halt in aufrüttelnde Bilder übersetzt. Das lässt niemanden kalt.

Dieses Mädchen sprengt alle Systeme, weil die zuständigen Systeme (Jugendhilfe und Psychiatrie) nur Pseudo-Lösungen anbieten; zumindest für dieses Mädchen.
Bei ihr kommen mehrere Faktoren zusammen: Die abgrundtiefe Enttäuschung über eine Mutter, die für sie nicht Mutter sein kann; eine untherapierte Traumatisierung, die immer wieder zu unkontrollierbaren Impulsdurchbrüchen führt und eine unbändige Lebensenergie, die tragischer Weise immer wieder destruktive Ausdrucksformen findet.
Gemeinsam halten diese Bedingungen eine Dynamik aufrecht, die alle beteiligten Institutionen und Personen überfordert. So werden dann in Hilfeplangesprächen immer wieder neue Lösungen gesucht – wo doch alle Beteiligten wissen, dass jedes Scheitern die Möglichkeiten einer Verbesserung erschweren. Hilflose Helfer in einem hilflosen System.
Die einzige Erfahrung von Macht und Kontrolle, die dieses Mädchen in diesem Leben erleben kann, ist das kompromisslose Aufbegehren: Wenn ihr schon die Erfahrung zeigt, dass niemand sie wirklich auf Dauer aushalten kann, dann sich wenigstens als die fühlen, die Auslöser und Zeitpunkt bestimmt!

Der Film versucht zu zeigen, was so ein Kind wirklich sucht und braucht; welche Not und welche ungestillten Bedürfnisse und Sehnsüchte hinter dem hemmungslosen Ausagieren von Wut und Enttäuschung stecken.
Dabei geht es einmal um die endlosen Versuche, doch noch zur mütterlichen Liebe zu finden, sie letztlich zu erzwingen. Ohne Erfolg.
Es gibt aber einen Lichtblick: Ein cooler, tougher Schulbegleiter lässt sich von dem Mädchen anrühren und schlägt eine Individualmaßnahme vor, die er sonst nur für die harten Jungs anbietet: ein paar Tage in einer abgeschiedenen Hütte im Wald.
Hier entsteht sie dann doch: die wirkliche Beziehung, das bedingungslose Aushalten in einer Begegnung ohne Ausweichmöglichkeit. Das Mädchen spürt Halt, wird weich, kann sich fallen und tragen lassen.
Letztlich scheitert auch dieser Hoffnungsschimmer an den Grenzen der beteiligten Personen unter den gegebenen Bedingungen.

Genug zur Handlung.
Hat dieser aufrüttelnde Film besondere Stärken oder Schwächen?
Eigentlich steht diese Frage angesichts der dramatischen Inhalte eher im Hintergrund.
Um es kurz zu sagen: Der Film ist ohne Zweifel sehr gut gemacht. Die kindliche Darstellerin spielt absolut faszinierend. Passend, aber glücklicherweise relativ sparsam, werden filmische Effekte eingesetzt, um bestimmte Bewusstseinszustände des Mädchens darzustellen. Ansonsten spricht die Handlung für sich.
Natürlich findet man nicht jede einzelne Szene stimmig: So ist es schon ein wenig klischeehaft, dass nach einem Scheitern einer Maßnahme das Mädchen ihre in Tränen zusammengebrochene Sozialarbeiterin tröstet. Auch die Tatsche, dass das weggelaufene Mädchen ohne weitere Suchmaßnahmen eine Nacht im winterlichen Wald verbringt, ist vielleicht nicht ganz realistisch.
Aber auf solche Details kommt es letztlich nicht an.

Und die Systemfrage? Können Jugendhilfe und Psychiatrie einpacken, wenn das Urbedürfnis nach bedingungsloser Annahme durch die Eltern oder Ersatz-Bezugspersonen nicht erfüllbar ist?
Sicher nicht. Aber der Film zeigt, dass in bestimmten Konstellationen wirklich alle therapeutischen und pädagogischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden müssen, wenn es eine Chance auf eine gute Entwicklung geben soll. Wird ein Baustein – hier die Traumatherapie – weggelassen, kracht die Hilfskonstruktion vielleicht immer wieder ein.
Der Grundbotschaft des Filmes kann man sicher nicht widersprechen: Nur ein auf Dauer verlässliches Beziehungsangebot kann so ein Kind ansatzweise “heilen” – und allzu oft scheitert dies an den Systemgrenzen.

Der Film weckt keine Hoffnungen. Das ist vielleicht insgesamt eine realistische Sichtweise.
Trotzdem ist es natürlich ein wenig schade, dass es kein Beispiel für ein Gelingen gibt. Natürlich gibt es auch positive Verläufe, in denen hoch-engagierte Fachkräfte in Therapie, Individualbetreuungen, professionellen Pflegestellen oder Auslandsmaßnahmen eine tolle Arbeit machen.
Aber das wäre dann vielleicht ein anderer Film….


Danke, AfD!

Die AFD hat sich gerade vorgenommen, ihre zukünftige Politik auf die Unsinnigkeit des Klimaschutzes zu konzentrieren, also auf den Kampf gegen den Versuch, die (sich bereits entwickelnde) Klimakatastrophe noch irgendwie zu begrenzen.

Das ein wertvoller Beitrag zur politischen Kultur.

Wer sich noch unklar darüber war, in welchem Ausmaß diese politische Strömung eine sinnvolle Erweiterung des bürgerlichen Parteien-Spektrums sein könnte, hat jetzt eine klare Orientierung.

Es ist die Partei des Irrationalismus und des grenzenlosen Egoismus.

Auf der rationalen Ebene ist das Leugnen des menschengemachten Klimawandels inzwischen eine völlig haltlose Extrem-Haltung, die geradezu im Wochentakt durch immer besser abgesicherte Erkenntnisse ad absurdum geführt wird.
Dagegen immun zu sein, setzt schon fast eine Neigung zu Verschwörungstheorien voraus; zumindest aber ein klares Bekenntnis gegen Wissenschaft und beobachtbare Fakten als Erkenntnisquellen.
Damit dürfte es halbwegs vernunftbegabten Menschen tatsächlich deutlich schwerer fallen, sich zu dieser Partei zu bekennen. Gleichzeitig könnte es einen Hinweis darauf geben, dass vielleicht auch andere Überzeugungen dieser Partei  nicht eine wackelige Grundlage haben, sondern vielleicht auch besorgniserregende Folgen in sich tragen könnten..

In Bezug auf den Egoismus bietet diese Programmatik keine neue, aber eine bestätigende Botschaft.
Während sich anfangs in der Euro-Bekämpfung die Haltung ausdrückte, dass man den deutschen Reichtum nicht mit anderen europäischen Ländern teilen wollte, wurde beim Migrations-Thema diese Haltung noch einmal verschärft: Wie können unsere Politiker nur unseren deutschen Wohlstand zugunsten von Asylanten oder Flüchtlingen nutzen?!
Die die Haltung zur Klimafrage verlagert jetzt diesen Egoismus auf die Generation-Ebene: Was haben wir heute mit den Katastrophen in 30 oder 50 Jahren zu tun?!
Auch mit dieser Haltung wird man all die Menschen abschrecken, die inzwischen ernsthaft mit dem Zustand der Welt beschäftigt sind, den wir unseren Kindern und Enkel überlassen.

Das alles wird nicht dazu führen, dass es keine AfD-Wähler mehr geben wird. Es wird aber dazu führen, dass sich die Dinge noch klarer konturieren. In der AfD werden sich immer eindeutiger die Menschen sammeln, die man tatsächlich mit logischen oder moralischen Argumenten kaum noch erreichen kann.

Diese Menschen gab und gibt es immer, leider. Aber vielleicht muss man dann nicht mehr der Idee unterliegen, fast die gesamte Politik der anderen Parteien immer wieder auf diese Zielgruppe auszurichten.
Vielleicht kann man dann endlich etwas mutiger voranschreiten mit dem großen “Rest” der Bevölkerung, der bereit wäre, auch ambitionierte  Schritte in Richtung Nachhaltigkeit und Solidarität mitzugehen.
Vielleicht kann man dann endlich ein mutiges und positiv konnotiertes Leitbild entwickeln, für das sich eine gemeinsame Anstrengung lohnt. Von mir aus auch begründet mit wirtschaftlicher Vernunft (obwohl es nicht mein Hauptargument wäre).

Der Distelfink (nach einem Roman von Donna Tartt)

Es ist ein aktueller Film; er läuft noch in den Kinos (Stand 30.09.19).
Ich rate: Schaut ihn euch an!

Ist es sinnvoll – so könnte man sich fragen -, einen Film zu sehen, dessen Handlung man schon zweimal als Hörbuch genossen hat?

Ja, es ist sinnvoll. Literaturverfilmungen leben davon, sich an einer Vorlage zu orientieren. Für viele Menschen entsteht die Motivation zum Kinobesuch genau aufgrund der vorherigen Leseerfahrung. Man weiß, was kommt und wie es ausgeht. Aber man ist gespannt auf die filmische Umsetzung und darauf, wie eigene Fantasien mit den realen Kinobildern korrespondieren.
Aber natürlich haben auch diese Filme den Anspruch, für sich selbst zu stehen und einen Genuss auch für diejenigen zu schaffen, die unvorbereitet kommen.

Ich fand das Buch “Distelfink” grandios und habe das an anderer Stelle auch begründet. Auf den Film war ich entsprechend gespannt, habe aber versucht meine Erwartung in Grenzen zu halten. Man will ja allzu großen Enttäuschungen vorbeugen. Nach wenigen Minuten war klar, dass es nicht darum gehen würde, Frustration zu managen, sondern Begeisterung und Ergriffenheit.

An diesen Film stimmt (fast) alles. Die Atmosphäre, die Figuren, die emotionale Dichte, die Botschaft.
Und obwohl das Buch so unglaublich treffend wiedergegeben wird, hat man das Gefühl, dass das Medium Film voll zur Geltung kommt. Statt “nur” einen abgefilmter Roman zu betrachten, darf man eine eigene Kunstform genießen. Das gelingt insbesondere dadurch, dass der Aufbau der Geschichte in stark veränderter Form dargeboten wird: Aus der weitgehenden Chronologie der literarischen Vorlage wird ein durch Zeitsprünge kunstvoll aufgebautes Puzzle. So wird aus dem vermeintlichen Nachteil des Mediums (der Verkürzung und Komprimierung) ein geniales Stilmittel, mit dem man schrittweise in die inhaltlichen Zusammenhänge eingeführt wird.

Distelfink ist ein leiser Film. Es geht darum, die emotionale Dynamik der Figuren sichtbar und verstehbar zu machen.
Da ich die Versuchung des Mediums kenne, visuelle Effekte zu nutzen und zu zelebrieren, habe ich mit einiger Sorge den Handlungssequenzen entgegen gesehen, die sich dafür angeboten hätten.
Volle Punktzahl! Alles, was hätte Action-Kino werden können, wurde auf das zum Verständnis notwendige Minimalmaß reduziert. Sehr beeindruckend!

Ich bin kein Fachmann für Schauspieler oder Regie-Details. Mein Maßstab ist die Gesamt-Wirkung.
Ich kann nur sagen: Wer das Buch liebt (oder lieben würde), der/die wird auch diesen Film mögen. Sie sind aus gleichem Holz geschnitzt.

Leider kann ich nicht beurteilen, was dieser Film auslöst, wenn man nicht schon vorher so tief in die Distelfink-Welt eingetaucht war.
Ich würde es aber gerne von euch erfahren (z.B. durch einen Kommentar an dieser Stelle).
 

Warum es die SPD nicht schafft

Das Problem der SPD ist, dass sie schon so etwas wie ihre eigene Koalition ist. Sie versucht – nach dem alten Schema der Volkspartei – verschiedene Themen und Strömungen in sich zu vereinen. Sie will den Kompromiss schaffen zwischen Ökonomie, Ökologie, sozialer Gerechtigkeit, nationalen Interessen und internationaler Solidarität, usw. Das berühmte “sowohl-als-auch”.

Das ist vom Prinzip her gar nicht dumm und hat eine Weile funktioniert.

Aber: Die Gesellschaft hat sich polarisiert! Die Klimabewussten wollen grüne Politik, die Umverteiler wollen die Linken, die Wirtschaftsnahen wählen FDP oder CDU. Und die Frustrierten, Unzufriedenen, Nationalisten, Nörgler und Dummen sind schon bei der AfD gelandet.
Die Leute wollen ihre Überzeugung “pur” wählen.
Der Ausgleich der Interessen wird dann auf die Regierungsbildung, also auf Koalitionsverhandlungen verlagert.
Eine Partei, die den Ausgleich und den Kompromiss vorwegnimmt, ist wegen der eingebauten Konturlosigkeit nicht mehr attraktiv.

Das gilt vor allem, wenn diese Partei, die ja schon alles miteinander abgewogen und verbunden hat, dann selbst noch in eine Koalition eintreten muss – womöglich dann als Juniorpartner.
Das kann dann eigentlich nur noch schief gehen! Den eingebauten Kompromiss von allem mit allem dann noch in einer Koalition abgeschliffen zu bekommen – daraus ist nur noch schwer ein großes Versprechen an die Wähler zu machen.

Das ist irgendwie ungerecht. Aber schwer zu ändern!

Schade, Jens Spahn!

Ich bin ja nun im Allgemeinen kein CDU-Anhänger. Aber ich mag Politiker, die “heiße Eisen” anpacken. So wie es Jens Spahn mit seinen Vorschlägen zum Organ-Spenden getan hat.
Dafür habe ich ihm schon Respekt gezollt.

Auch die Finanzierung der Homöopathie hat der Minister öffentlich in Frage gestellt, ob wohl das alles andere als populär ist.
Jetzt ist er eingeknickt. Es lohne sich – wegen der vergleichsweise “geringen” Millionensumme – nicht, einen Grundsatzstreit vom Zaum zu brechen.

Schade. In einer Zeit des Durchlavierens hätte man gerne mal jemanden erlebt, dem die Sache um des Prinzips willen so wichtig wäre, dass er Konflikte mit Lobby-Gruppen eingeht und einen Teil der Wählerschaft verärgert.
So gewönne man Glaubwürdigkeit!

Also dürfen die Kasse weiter Mittelchen finanzieren, für die es – trotz aller Bemühungen – keinen Wirksamkeitsnachweis gibt (über den Placebo-Effekt hinaus).
Die einschlägigen Firmen dürfen ihren unwissenschaftlichen Humbug weiter ganz offiziell im Rahmen des Gesundheitssystems vertreiben – schließlich zahlen es ja auch die Krankenkassen (zumindest viele).

Klimaschutz-Paket

Es gab in den letzten Tagen eine Menge sehr treffender Analysen und Kommentare zum Gesetzes-Paket der GroKo auf den von mir bevorzugten Plattformen (ZEIT-online und SPIEGEL-online). So entstand bei mir zunächst der Eindruck, als ob sich eine eigene Stellungnahme erübrigen könnte.
Alles war so eindeutig.
Dann wurde mir klar, dass ich über den vielleicht naheliegensten Aspekt dort noch nichts gelesen hatte. Vielleicht ist die größte Absurdität tatsächlich niemandem aufgefallen.
Also habe ich jetzt doch einen Grund, ein paar Zeilen zu schreiben.

Beginnen wir mit der weichgespülten und auf Selbstkritik getrimmten Öffentlichkeitsarbeit.
Die beteiligten Politiker übertrafen sich in ihren Erklärungen mit der Wertschätzung gegenüber den Klima-Aktivisten von Fridays for Future (FfF). Diese hätten durch ihr nachdrückliches Engagement den entscheidenden Anstoß dazu gegeben, dass jetzt ein solch umfangreicher – geradezu historisch zu nennender – Maßnahmenkatalog auf den Weg gebracht werden konnte.
Was ist nochmal genau das – sehr wahrscheinlich so nicht zu erreichende – Ziel der Gesetzesentwürfe?
Ach ja – es ging um ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen zur Begrenzung der Erderwärmung durch Reduktion der CO2-Emissionen (Paris, 2015).

Heißt das etwa – man vermag es sich kaum vorzustellen – dass ohne die Massenproteste davon auszugehen gewesen wäre, dass man auch die Klimaziele für 2030 einfach ignoriert hätte? Kalt lächelnd?
Mussten Zigtausende tatsächlich auf die Straße gehen, um so etwas Revolutionäres zu erreichen, dass man sich jetzt zumindest überhaupt mal der eigentlich unverhandelbaren Herausforderung stellt?
Bedeutet das ernsthaft, dass es ohne FfF gar keine ernsthafte Absicht gegeben hätte, den selbst gesetzten Zielen gerecht zu werden?
Trauen sich unsere Politiker wirklich, uns das selbst vor laufenden Fersehkameras zu sagen und sich damit auch noch auf die Schultern zu klopfen – weil sie doch so einsichtig und lernfähig waren?

Ich weiß wirklich nicht, ob ich so etwas Selbstentlarvendes schon mal gehört habe.
Man lobt eine Protestbewegung dafür, dass sie so viel Druck aufgebaut hat, dass man irgendwann beginnen musste, sich selbst ernst zu nehmen.
Wozu genau braucht man dann eigentlich noch eine Regierung?
(Ich weiß, das ist polemisch).

Über die mutlose Halbherzigkeit der Vorschläge selbst ist schon alles gesagt/geschrieben worden…

Ich habe in meinen politischen Haltungen bisher immer Kompromiss und Augenmaß verteidigt, wollte auch dieser GroKo noch eine ernsthafte Chance geben.
Im Moment habe ich das Gefühl, dass diese Art Politik nicht nur den engagierten Teil der jungen Leute verliert…

AfD und ihre Wähler von SILVIA

(Dieser Beitrag war ursprünglich ein Kommentar hierzu)

Ein Viertel der ostdeutschen Brüder und Schwestern wählen die AFD. Und dies, nachdem sie mehr oder minder mutig vor 30 Jahren laut verkündend Freiheit, Demokratie und Menschenwürde eingefordert haben. Ich könnte mich aus Verzweiflung in Sarkasmen verlieren und mich daran abarbeiten, dass das Bedürfnis nach Westwaschmittel, amerikanischen Jeans und französischem Parfüm die eigentliche Motivation war, um zu sagen: „Schluss mit Manipulation, Unterdrückung, Bespitzelung und Toten, die versucht haben zu fliehen.
“Ich bin überzeugt davon, dass Reisefreiheit der intensivste Wunsch war, der die Menschen bewegt hat. Ansonsten hätte vielleicht alles so bleiben können, wie es war. Eine unrealistische Vorstellung, aber das soll ja nicht das Thema sein.

Wenn ich über den (Ost-) deutschen Tellerrand hinausblicke, dann begegnet mir gerade überall auf der Welt das Problem, dass rechtes und verachtendes Gedankengut Macht und Erfolg verspricht.
Betrachte ich die Geschichte der Menschheit, sehe ich Gewalt, Neid, Besitzstreben, Respektlosigkeit und Leid. Wir haben es also nicht mit einem neuen Phänomen zu tun. Aber wir sind die Generation, die das unglaubliche Geschenk von Frieden und Wohlstand mit in die Wiege gelegt bekommen haben. Somit sind wir auch die Generation, die erfahren hat, dass es möglich zu sein scheint, in einem demokratischen, diplomatischen und um Versöhnung bemühtem System zu leben. Wohlgemerkt, wir in Europa. Wohlgemerkt, wir in Deutschland. Es war uns zu einer Selbstverständlichkeit geworden und die Unachtsamkeit und Bequemlichkeit, die dies zur Folge hatte, die fliegt uns gerade um die Ohren und vergiftet das Miteinander.

Die Frage, wie wir mit den Bürgern umgehen sollen, die unsere bisher anscheinend stabilen Werte ins Klo hinunterspülen, beschäftigt viele, die dies nicht hinnehmen wollen. Ich habe viele Jahre meines Lebens damit verbracht, im Kontakt mit den „Abgehängten“ neue Wege aufzuzeigen und diese gemeinsam mit ihnen zu beschreiten. Für mich gab es sie schon immer, die irrationalen, egoistischen, gewaltbereiten und inhumanen Zeitgenossen, die „denen da oben“ die Verantwortung für ihr vermeintliches Elend gegeben haben.
Nur jetzt beschränkt sich diese Opferwelt nicht mehr auf ein Stadtviertel, nicht mehr auf eine Kneipe, auf den Platz vor dem Sozialamt. Sie bewegt sich im Netz. Sie bewegt sich in einer Welt, in der sie kotzen, pöbeln, unreflektiert Dummheiten verbreiten kann und wie ein Krebsgeschwür wachsen kann. Wir haben da keinen Zugang mehr.

Die Afd bedient dieses Bedürfnis nach Macht ohne Wissen, nach Macht ohne Ansprüche. Also was tun? Den Stecker ziehen und das Netz ausschalten. Unrealistisch. Im Gespräch bleiben? Da stoßen wir auf Abwehr und Desinteresse, logischer Weise.
Was uns bleibt ist aber, sich zu positionieren, keine Angst vor Klarheit, Konfrontation und deutlichem Engagement zu zeigen, uns gegenseitig zu stärken und den bisher gemütlich auf dem Sofa sitzenden Mut zu machen, für ihre eigentlichen Werte aufzustehen. Wir müssen sofort in den Schulen und Kitas dafür sorgen, dass sich der Wert einer demokratischen Gesellschaft in den Köpfen und Herzen unserer Kinder positiv verankert, dass sie lernen, dass Kommunikation und Empathie mindestens ebenso wichtig sind wie Mathematik und Grammatik.
Lasst eure Mitmenschen wissen, was dieses Leben in einer friedlichen Welt uns bedeutet, lasst sie wissen, dass ihr euch um das Klima sorgt und um die Zukunft eurer Kinder. Bietet der Dummheit die Stirn und zeigt, wieviel Spaß das Denken macht. Vor kurzem hat ein alter Freund mir gesagt: „Ich habe keine Lust auf Politik!“ „Es gibt keine Gesellschaft ohne einen politischen Hintergrund und es ist keine Frage der Lust. Sich nicht zu positionieren, keine Verantwortung übernehmen zu wollen, ist ebenfalls eine politische Reaktion und Aktion!“ habe ich geantwortet.

Ich denke, also bin ich. Lass ich andere denken, bin ich ein Wesen, das letztendlich in der Bedeutungslosigkeit verharrt.
Motivieren wir die Anhänger der Afd zu denken, heute und jetzt. Auch wenn dies zugegebenermaßen schwierig ist. Aber dafür können wir uns ja stärken, gemeinsam

HERBERT GRÖNEMEYER in der Arena Gelsenkirchen (07.09.19)

Das Ruhrgebiet feiert HERBERT und sich selbst!

Wenn ich über dieses Konzert schreibe, dann will ich zwischen drei Aspekten unterscheiden: Einmal geht es um das Phänomen “HG” bzw. das Zelebrieren desselben, dann geht es um die Qualität eines Pop-Konzertes und schließlich – ich kann das nicht ganz vermeiden – soll auch ein kurzer Vergleich mit dem kürzlich besuchten LINDENBERG-Konzert erfolgen.

Der erste Punkt erklärt sich fast von selbst: Was sollte ein Auftritt mitten im Ruhrgebiet für HG und seine Fans anderes sein als eine riesige  Party unter guten Freunden?! Man kennt sich, man mag sich, man weiß, wie man denkt und man singt zusammen die allseits bekannten Lieder.
Was könnte da schief gehen? HG zeigt sich erwartungsgemäß ergriffen; in zunehmendem Maße gewinnt man den Eindruck, dass aus der zunächst eher formelhaft wirkenden Begeisterung über die Resonanz aus dem Publikum eine echte Emotionalität entsteht. Gut zu verstehen, wenn einem Zigtausende zu Füßen “liegen” und sie die eigenen Texte auch ohne Begleitung intonieren können.
So wird dann nach dem ersten – rein theoretischen – Konzertende die Sache dann endgültig zu einem echten Fest: Das Publikum will nicht gehen und der Künstler will nicht aufhören. Man weiß zwar im Grunde, dass das Programm bis zur letzten Minute so konzipiert wurde, aber es fühlt sich so an, als ob die letzte Stunde sich aus der perfekten Interaktion zwischen HG und seinem Publikum ergeben hätte. In ein paar Momenten war es tatsächlich auch so, weil HG Impulse aus dem Publikum aufgreift; das sind die ganz warmen Momente der großen Gemeinschaft.

Und war es – nüchtern betrachtet – auch ein “gutes” Konzert?
Ich begebe mich schon mit dieser Frage auf dünnes Eis. Es waren doch ganz offensichtlich alle begeistert – was soll dann die Frage überhaupt?! Ist das nicht schon fast Gotteslästerung?
Ich sage es trotzdem ganz ehrlich: Ich habe auch schon in sehr großen Hallen deutlich besser ausgesteuerte Sounds gehört. Die Klangqualität – sowohl bzgl. Musik als auch stimmlich – war maximal durchschnittlich. Ein klarer, transparenter Sound war – wenigstens in meinem Sitzplatzbereich – nur in den leisen, sparsamer intrumentalisierten Stücken zu genießen. Sobald es komplexer und lauter wurde, war der Klang etwas breiig, manchmal auch eher dumpf. Das tat zwar der Stimmung offensichtlich keinen Abbruch, ist aber angesichts der Eintrittspreise eigentlich nicht angemessen.
HG war insgesamt deutlich angeheisert; bei einzelnen Stücken führte das – in Kombination mit den Soundschwächen – dazu, dass man die Texte wirklich nicht mehr verstand.
Eher sympathisch (weil menschlich) waren kleine Schnitzer, die man bei den durchperfektionierten Mammutkonzerten gar nicht mehr gewohnt ist (ein verpatzter Liedbeginn und eine falsche Ansage; geschenkt!).

Und der Vergleich zwischen zwei der ganz großen, seit Jahrzehnten erfolgreichen deutschen Sangeskünstlern?
Mein Punkt ginge an UDO. Aber – ich gebe es zu – die Bewertung ist nicht gerecht. UDO (und sein optisches Spektakel) konnte ich in einer deutlich kleineren Halle und dann noch recht dicht an der Bühnenrampe genießen.
Sehr wahrscheinlich hätte HERBERT unter diesen Bedingungen auch noch wesentlich dichter und präsenter gewirkt als durch das Filter der räumlichen Distanz.

Also: Toll, dabei gewesen zu sein! HG und Ruhrgebiet waren – wie immer – eine perfekte Paarung.
Möglicherweise werde ich aber in Zukunft noch etwas zurückhaltender bzgl. Konzerten in Groß-Arenen sein. Ich mag es einfach, wenn man dem Schlagzeuger beim Spielen zugucken kann…

Wie umgehen mit AfD-Wählern?

Ich bin am Beginn dieser Ausführungen etwas unsicher, ob ich meine Gedanken so formulieren kann, dass sie sich für eine Veröffentlichung eignen. Ich will es versuchen.

Etwa ein Viertel der ostdeutschen Wähler steht hinter der AfD. Das kann man nicht mehr ignorieren. Was bedeutet das für einen links-liberal-grünen Akademiker aus der Psycho-Szene, der davon überzeugt ist, dass sein aufgeklärtes Weltbild den meisten anderen Sichtweisen überlegen ist, weil es sich auf Humanismus, Wissenschaft und Rationalität gründet?

Am Anfang eine grundsätzliche Frage: Darf man wirklich bedauern, dass durch die AfD jetzt eine Gruppe von Menschen ein Sprachrohr bekommen hat, die sich vorher kaum politisch artikuliert hat? Ist es nicht ein Zugewinn an Demokratie, wenn diese Meinungen und Haltungen jetzt sichtbar werden und dadurch ein (legitimes) Gewicht bekommen?

Mir fällt eine Antwort auf diese Frage nicht leicht. Ganz persönlich (emotional) empfinde ich es geradezu als eine Zumutung, jetzt permanent (insbesondere in den Medien) mit Aussagen und Einstellungen konfrontiert zu werden, die ich (aus meiner Perspektive) nur mit mangelnder Informiertheit, fehlender (kognitiver) Differenziertheit und/oder einem kaum tolerierbaren (rechten) Menschenbild zu erklären sind.
Ich gebe es zu: Am liebsten hätte ich, dass es diese Meinungen/Haltungen gar nicht geben würde. Weil alle Menschen über ausreichende Bildung, “echte” Informationen und ein menschenfreundliches (empathisches, solidarisches) Grundempfinden verfügen würden. Am liebsten hätte ich nur solche Menschen um mich, in diesem Staat, auf der ganzen Welt.
Es quält mich geradezu, dass das nicht so ist. Und ich erwische mich bei dem Gedanken, dass  – wenn es diese “anderen” Menschen schon so zahlreich gibt – sie dann wenigsten unsichtbar und ohne Einfluss bleiben sollten.

Meine ich wirklich alle Menschen, die andere politische Einstellungen und Ziele haben als ich?
Natürlich nicht!
Ich habe nichts gegen Mitbürger, die einem konservativ-traditionellem Familienbild nachhängen, die z.B. die Ehe nur als Verbindung von Mann und Frau betrachten und weiterhin zwei Geschlechter für ausreichend halten. Ich verstehe Menschen, die das mit der Gender-Sprache für übertrieben halten und es als störend erleben, dass Deutsch immer stärker verenglischt wird (ich spreche bewusst nicht von Anglizismen). Von mir aus dürfen Menschen sich für Traditionen und Gewohnheiten einsetzen, die mir mehr als überholt vorkommen.
Ich kann auch verstehen, dass Menschen ein hohes Sicherheitsbedürfnis haben; dass sie es aufregt, wenn ganze Straßenzüge zu (scheinbar?) rechtsfreien Räumen werden und blutjunge Migranten (vermutlich Drogendealer oder Zuhälter?) mit ihren aufgemotzten BMWs den Mini-Rentner von der Straße scheuchen.
Ich kann sogar nachvollziehen, dass Bezieher von Hartz 4, die sich vom Sozialamt gegängelt fühlen, sich maßlos darüber ärgern, das Flüchtlinge ohne Bleiberecht oft jahrelang aus öffentlichen Kassen finanziert werden, weil man sie (nach geltenden Regeln) nicht abschieben kann.

Genug der Beispiele.
Ich will sagen: Es geht mir nicht darum, eher “ungeliebte” Einstellungen (möglicherweise auch Vorurteile) zu entsorgen oder zu pathologisieren.
Ich kann nur nicht begreifen und tolerieren, dass solche (und ähnliche) konservative Sichtweisen scheinbar so problemlos ausfransen und sich mit einem rechts-ideologischen Welt- und Menschenbild vermischen, das einem manchmal den Atem raubt.
Wie kann es sein, dass der Weg scheinbar so kurz ist von dem “Bewahren” (traditioneller Werte) zu einer wut- und hasserfüllten Menschenfeindlichkeit gegenüber denen, die vermeintlich nicht dazugehören (wegen Abstammung, Hautfarbe, Religion, usw.)?
Wie kann es sein, dass Menschen ihren ganz persönlichen Anstand verlieren und es sie plötzlich nicht mehr stört, sich bei Rechtsradikalen und Neonazis einzureihen, die selbst vor offenem Rassismus und  einer Relativierung der Nazi-Gräuel nicht zurückschrecken?

Anständige Konservative gehen diesen Weg auch nicht!
Es muss also etwas anderes dazukommen als nur die Abgrenzung vom “grün-liberalen-intellektuellen” Mainstream.
Und das macht es schwierig.  Und so schwer zu bewältigen. Und so schwer auszusprechen.
Es gibt offenbar in unserer Gesellschaft – in einem weit unterschätzen Maße – einen Bodensatz von Haltungen, die zutiefst antidemokratisch, anti-aufklärerisch, autoritär, irrational, wissenschaftsfeindlich, unsolidarisch, extrem egoistisch, ignorant, gewaltbereit und inhuman sind. Die Menschen mit solchen Einstellungsmustern leben unter uns – in der Regel aber nicht in unseren (persönlichen) Kreisen. Wir nehmen sie im Alltag kaum wahr.
Auch (natürlich nicht nur) diese Menschen fühlen sich aber durch die AfD vertreten. Und genau das schmerzt und macht es so schwer, mit der AfD wie mit jeder anderen Partei umzugehen. Weil diese Menschen nicht zufällig oder ungewollt Teil der Wählerschaft sind, sondern sie – zumindest von einem Teil der Partei – nicht nur eingeladen, sondern geradezu ermutigt und hofiert werden.

Ich will nicht, dass diese Gruppe jetzt zum Ziel der Bemühungen der anderen Parteien – und damit letztlich noch bedeutsamer und einflussreicher – wird.
Solange sich die AfD nicht von diesen Menschen (und dem eigenen rechtsextremen Flügel) abgrenzt, muss man sich eben von der ganzen Partei abgrenzen. Das ist nicht die Schuld der ach so arroganten Altparteien, sondern liegt in der Verantwortung der AfD selbst.

Um die Eingangsfrage zu beantworten: Nein, ich möchte nicht, dass eine bestimmte Gruppe dieser “unanständigen” Rechten eine politische Vertretung hat. Sie soll möglichst keine Aufwertung und keinen Zulauf bekommen.
Ich hoffe, dass möglichst viele junge, gebildete, weltoffene und solidarische Menschen nachwachsen und dazu beitragen, dauerhaft ein sicheres Gegengewicht zu bilden.