“Und die Vögel werden singen” von Aeham AHMAD

Bewertung: 4.5 von 5.

Da war doch mal was mit Syrien…
War das nicht auch sowas wie ein Krieg? Oder nur ein Bürgerkrieg? Haben da nicht auch Putins Truppen Schulen und Krankenhäuser zu Schutt und Asche bombardiert, in Aleppo?

Es wirkt tatsächlich etwas verstörend, nach einem Jahr Dauer-Information über Hintergründe und Folgen des Ukraine-Krieges mit solcher unmittelbaren Wucht in einen anderen Schauplatz von Machtmissbrauch, Menschenverachtung und unvorstellbarem Leid geworfen zu werden.
Genau das tut aber der Musiker Aeham AHMAD in diesem eindrücklichen autobiografischen Erlebnisbericht (der schon 2019 veröffentlicht wurde).

Seine Geschichte beginnt aber früher, in den späten 1980iger Jahren. Wir lernen den kleinen Aeham als Schuljungen im Großraum Damaskus kennen. Er stammt aus den ärmlichen Verhältnissen einer palästinensischen Flüchtlingsfamilie und es bedarf eines enormen Einsatzes seiner Familie und sehr früh auch von ihm selbst, um sich – trotz der widrigen Umstände – zu einem vielversprechenden jungen Pianisten und Musiklehrer zu entwickeln. Zusammen mit seinem blinden Vater baut der Junge Mann – buchstäblich aus dem Nichts – in seinem Stadtteil einen florierendes Musikgeschäft auf.

Mit der Abriegelung und dem folgenden systematischen Aushungern des Stadtviertels “Yarmourk” beginnt eine mehrjährige Leidensgeschichte für Tausende von Familien, für die – eingeklemmt zwischen den verfeindeten bewaffneten Gruppierungen – bald der Alltag zu einem immerwährenden Überlebenskampf wird.
Inmitten dieser menschenfeindlichen Umgebung, in der Hunger, Gewalt und Tod nicht Ausnahme, sondern Regel sind, beginnt eine geradezu märchenhafte Geschichte: Zusammen mit ein paar Freunden (und später auch Kindern aus der Nachbarschaft) beginnt AHMAD, sein (auf Rollen montiertes) Klavier durch die Straßen zu schieben und vor Trümmerhäusern zu musizieren. Es sind Texte und Gedichte, in denen die Menschen ihre aktuelle Situation thematisieren, so dass die Musik ein emotionaler Befreiungsakt und eine Anklage zugleich ist.
Dass einige seiner “Auftritte” über YouTube den Weg zu einer internationalen Öffentlichkeit finden, wird sich langfristig positiv auswirken. Doch liegen zwischen den “Trümmerkonzerten” und dem sicheren Leben in Deutschland noch unfassbare Herausforderungen…

AHMAD ist offenbar gleich mit zwei Begabungen gesegnet: Er ist nicht nur als Musiker erfolgreich, sondern hat auch mit diesem Buch eine bemerkenswerte literarische Leistung vollbracht. Man kann sich der Unmittelbarkeit seines Schreibstils kaum entziehen, übliche Distanzierungsmechanismen werden schnell löchrig.
Aber letztlich sind es die Ereignisse und Umstände selbst, die unter die Haut gehen. Die Willkürlichkeit, Sinnlosigkeit und Perversion der Unterdrückung und Gewalt wird immer wieder durch die Todesschüsse von Heckenschützen und die Selbstherrlichkeit der verschiedenen Milizen an ihren Check-Points vor Augen geführt. Es erscheint fast wie ein Wunder, dass es unter diesen Bedingungen noch so etwas wie Nachbarschaft, Freundschaft und Solidarität überleben kann.

Der Krieg in der Ukraine hat uns wegen der räumlichen und kulturellen Nähe sehr schockiert. Mit seinem Buch richtet AHMAD einen Spot auf die Hintergründe der Flüchtlingswelle von 2015. Das ist auch aus heutiger Perspektive sehr aufschlussreich.
Es wird eindrücklich deutlich, wie hoffnungslos desolat die politische und moralische Situation in diesem Land war (und ist); in dem wüsten Durcheinander von ideologischen und mafiösen Gruppierungen geht die Vernunft und Humanität letztlich auf allen Seiten verloren.
Man kann die existentielle Erleichterung des Autors nachempfinden, was es nach Krieg und lebensgefährlicher Flucht bedeutet, plötzlich in einem “zivilisierten” Land leben zu dürfen, in dem die Regeln des Zusammenlebens geachtet und “sogar” von den staatlichen Institutionen (einschließlich der Polizei) geschützt werden. Wir vergessen allzu oft, welches unglaubliche Glück wir haben, in einem demokratischen Rechtsstaat mit gesicherten Grundrechten leben zu dürfen.

Wer beim Lesen dieses Buches nicht- spätestens im Schlussteil – zu Tränen gerührt ist, muss wohl über einen guten Schutzpanzer gegen Emotionen verfügen. Ich kann dieses zutiefst menschliche Buch nur sehr empfehlen.

“Imperium der Schmerzen” von Patrick Radden KEEFE

Bewertung: 4.5 von 5.

Die gesellschaftlichen Verwerfungen, die in den USA durch die “Opioid-Krise” ausgelöst wurden, sind bei uns nur in einem stark reduzierten Ausmaß ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. In den Staaten waren die gesundheitlichen und finanziellen Auswirkungen dieses Schmerzmittel-Skandals dramatisch und haben in den letzten Jahren zu heftigen juristischen und politischen Konflikten geführt.
Kurz gesagt geht es um einen geradezu epidemischen Missbrauch einer bestimmten Gruppe von Schmerzmitteln (vor allem OxyContin), deren Suchtpotential über viele Jahre hinweg zwar bekannt war, von den Verantwortlichen aber konsequent verheimlicht und geleugnet wurde.

Der preisgekrönte Investigativ-Journalist KEEFE hat in seinem opulenten Buch das Entstehen des Problems exemplarisch in Form einer Familienchronik aufgearbeitet. Das Besondere an seinem Ansatz ist, dass er auf der Ebene der persönlichen Details tief in die Persönlichkeitsprofile und Beziehungsdynamiken der Familie Sackler eindringt, dies aber nicht in die Form eines dokumentarischen Romans zu Papier gebracht hat (was angesichts der Materialfülle sicher möglich gewesen wäre). Stattdessen ist er einem journalistischen Stil treu geblieben, so dass sich das 640-Seiten-Buch (Hörbuch 24 Std.) wie eine geradezu endlose ZEIT- oder SPIEGEL-Titelgeschichte liest.

Im Mittelpunkt der Darstellung steht nicht die Aufarbeitung der Daten über Umfang und Folgen des Arzneimittel-Skandals (diese Informationen bekommt man natürlich auch). Es geht dem Autor um drei große thematische Bereiche:
– Er will aufzeigen, welche persönlichen (psychischen) und innerfamiliären Strukturen dieser konkreten Familie dazu beitragen konnten, dass ein solches Ausmaß an Täuschung und Verantwortungslosigkeit entstehen konnte.
.- Er deckt die Mechanismen eines Wirtschaftssystems auf, in dem Gier und Egoismus sich so ungebremst entfalten können.
– Mit schonungsloser Klarheit zeigt KEEFE die Verstrickung zwischen Wirtschaft, Politik und Justiz auf, in der Vertuschung, Korruption und Untätigkeit entscheidend für die ungebremste Ausweitung der Katastrophe waren.

Wenn man sich diesem Buch mit einem Sachinteresse zuwendet, wird man zunächst auf Hunderten von Seiten von den Psychogrammen der Familiendynastie der Sacklers erwartet. Als Leser/in muss man sich also zunächst darauf einlassen, dass man sich dem eigentlichen Thema mit einem langen Vorlauf nähert.
Die Darstellung der beteiligten Personen, ihrer biografischen Wurzeln und ihrer Beziehungsdynamik ist außerordentlich detailliert und psychologisch nachvollziehbar geschildert. Als Leser/in kann man das Gefühl bekommen, dass man schon eine Art “Familienbiografie” gelesen hat, bevor es so richtig losgeht.
Der geradezu atemberaubende Tiefgang der Analyse beschränkt sich aber nicht auf die Persönlichkeiten; mit gleicher Akribie stellt KEEFE auch die jeweiligen finanziellen und wirtschaftlichen Einzelschritte nach, die aus einem kleinen Familienbetrieb einen Pharma-Großkonzern wachsen ließ.

In allen Facetten der Darstellung beeindruckt das Buch dadurch, dass man durch Fakten und eindeutig belegte Zusammenhänge geradezu “erschlagen ” wird. Zwischendurch erwischt man sich bei der Frage, wie man überhaupt ein solch dichtes und feingewebtes Netz an Fakten und Hintergründen erstellen kann. Man spürt praktisch auf jeder Seite, wie viele Tausend Stunden an Recherche eingeflossen sein müssen.

Natürlich muss kein Mensch das alles wissen, um die Opioid-Krise verstehen und bewerten zu können. Da könnte ein Wikipedia-Artikel reichen.
In diesem Buch passiert aber etwas anderes: KEEFE überzeugt seine Leserschaft dadurch, dass er exemplarisch so in die Tiefe geht, dass einfach kein Raum für Relativierungen oder Ausflüchte mehr übrig bleibt: Alles wird erklärt, alles ist nachvollziehbar, alles wird gründlich belegt.
Genau so wird dann ein vermeintlich “ausgewalzter” Einzelfall zu einem Lehrstück über ein ganzes wirtschaftliches und politisches System. Statt Meinung oder Parolen liefert KEEVE ein solches Paket an Beweisen, dass wohl jede/r Skeptiker irgendwann kapitulieren muss.

Wir haben es also bei diesem Buch mit einem exzellenten Beispiel von Aufklärungs-Journalismus zu tun, dessen Bedeutung und Wirkung über die eigentliche Thematik hinausreicht.
Man sollte sich aber im Klaren darüber sein, dass das Buch ein Ausmaß an Zeit und Konzentration erfordert, das über die Ressourcen durchschnittlicher Sachbuchleser wohl deutlich hinausgeht.

“Erwachen” von Sam HARRIS

Bewertung: 4 von 5.

Der amerikanische Philosoph und Neurowissenschaftler Sam HARRIS hat einige Gemeinsamkeiten mit seinem deutschen Kollegen Thomas Metzinger (s. “Bewussseinskultur“): Wie dieser erforscht auch HARRIS das Bewusstsein von (mindestens) zwei Seiten: von der Hirnforschung aus und durch Beobachtung und Analyse der Eigenerfahrungen bei meditativen Praktiken. Als Erweiterung der Introspektion haben beide auch mit psychedelischen Drogen experimentiert.
HARRIS ist allerdings noch eindeutiger der Szene der meditativen Bewusstseinserweiterung zuzuordnen; er hat in jüngeren Jahren viel Zeit mit bekannten asiatischen “Gurus” verbracht und bietet aktuell u.a. auch eine (englischsprachige) Meditations-App an. Der Autor zieht aber eine deutliche Grenze zwischen intensiven spirituellen Erfahrungen auf der einen, und religiös bzw. esoterisch geprägten, mit irrationalen Dogmen verbundenen Lehren.

Die Ausführungen von HARRIS kreisen immer wieder um einige Grundüberzeugungen des Autors:
– Regelmäßige Praxis in Meditation und Achtsamkeit können zu einem gesunden, erfüllten und ethisch fundierten Leben beitragen. Dabei spielt die Steuerung der Aufmerksamkeit auf das aktuelle Erleben und die gelassene Akzeptanz auch von unangenehmen Realitäten eine Rolle.
– Es möglich und erstrebenswert, den eigenen Geist steuern zu lernen und sich Bewusstseinszuständen anzunähern, die mit geistiger Klarheit und Präsenz im augenblicklichen Erleben verbunden sind.
– Eine besondere Rolle spielt dabei die Fähigkeit, aus dem (nur teilweise bewussten) Kreislauf innerer Gedanken auszusteigen, sich von ihnen zu distanzieren (genauso wie von momentanen Gefühlen und Bewertungen).
– Sich einem “reinen” Bewusstseinszustand zu nähern, bedeutet auch, sich von den üblichen Vorstellungen eines “Ich” oder eines “Selbst” zu lösen; diese Begriffe stellen aus Sicht von HARRIS nur (kognitive) Konzepte dar, die nicht mit der Realität unseres “wahren” Bewusstseins übereinstimmen.

Der Kern dieses Buches ist das Werben für eine säkulare (also von irrationalen Annahmen freien) Spiritualität. Ein direkterer Zugang zu der Basis unseres Bewusstseins und die Zunahme der Kontrolle über die eigenen geistigen Vorgänge schaffen – so HARRIS – nach und nach eine Befreiung von psychischen Belastungen und Beeinträchtigungen; gleichzeitig ermöglicht die Konzentration auf aktuelle Sinneseindrücke ein bewussteres Erleben und Genießen unsers gegenwärtigen Seins – was auch einen engeren Bezug zur Natur und zu den Mitmenschen beinhalte.
HARRIS macht deutlich, dass man bei der Meditation keineswegs irgendwelchen Erleuchtungserfahrungen hinterherjagen muss; auch die kleinen Schritte bei der “Schulung des Geistes” zur Achtsamkeit können das (Er-)Leben entscheidend verändern.

Der Autor zeigt sich aber auch in seiner Rolle als Neurowissenschaftler und gibt faszinierende Einblicke in Befunde, die unser Alltagskonzept vom Selbst und vom Bewusstsein vollkommen in Frage stellen (z.B. durch Forschungen an sog. “split-brain-Patienten”). Er stellt faszinierende Grundsatzüberlegungen an – über die Rolle von Bewusstsein für das ganze Universum und seine Sinnhaftigkeit.
HARRIS verhehlt auch nicht, dass bestimme psychoaktive Substanzen (MDMA, Psilocybin, LSD) sehr rasch und sicher zu “wertvollen” Erfahrungen führen können, die auch vielen langjährigen Meditations-Profis versagt bleiben. Doch dieser Weg – das macht der Autor klar – ist voller Risiken.

Vieles in diesem Buch ist anregend und nachvollziehbar; HARRIS ist sicherlich in der Lage, viele Leser/innen zu einem Einstieg in oder einer Intensivierung von meditativen Übungen zu motivieren. Dies gilt vor allem für die Sinnsuchenden, die sich irrationalen und willkürlichen Glaubensvorschriften (von Sekten, Gurus und Religionen) nicht unterwerfen wollen. Bei HARRIS muss man seinen logischen Verstand nicht an der Garderobe abgeben, um sich auf die Suche nach einen tieferen Einblicken in Sphären zu begeben, die jenseits des Alltagsbewusstseins liegen.

Trotzdem erscheint nicht alles plausibel und widerspruchsfrei. So begründet HARRIS seine Grundthese, dass sich im “wahren” Bewusstsein auch das “Ich” auflöst (und auflösen soll), nicht explizit. Was ist so einschränkend an dem “normalen” Gefühl, eine personelle Einheit zu bilden – selbst wenn dies höchstwahrscheinlich nur eine Illusion ist. Hält es uns ab von dem restlosen Verschmelzen mit dem Kosmos? Muss man soweit kommen (wollen)? Ist das “reine Bewusstsein” wirklich so ein paradiesischer Zustand, dass man Jahre seines Lebens (oder Drogenexperimente) darauf verwenden sollte, ihn zu erreichen? Reicht nicht ein bisschen mehr Achtsamkeit und Gelassenheit?
Was auch irritiert: Wenn es eigentlich so einfach ist, durch regelmäßige Meditation seinen Geist zu schulen – warum hat sich HARRIS als junger Mensch jahrelang in abgelegensten Ecken der Welt von verschiedensten Meistern “ausbilden” lassen? Welche Weisheiten erfährt man von diesen Menschen, die man nicht in ein paar Wochen vermitteln könnte? Braucht man Gurus, um dann doch Atem-Meditation zu machen (was man in weinigen Stunden erlernen kann)?
Das mag für einige banal und ketzerisch klingen. Aber für mich waren und sind das offene Fragen.

Das rätselhafte menschliche Bewusstsein steht im Zentrum von philosophischen, neurowissenschaftlichen, psychologischen und sinnsuchenden Aktivitäten. HARRIS hat mit diesem Buch einen engagierten und anregenden Betrag geliefert.

“Pantopia” von Theresa HANNIG

Bewertung: 4.5 von 5.

Man könnte mit einiger Berechtigung sagen: Es ist der Roman der Stunde!

In diesen Wochen (es Anfang März 2023) überschlagen sich die Meldungen im Bereich “KI” (Künstliche Intelligenz). Ausgelöst durch den ChatBot “ChatGBT” finden sich in den Medien jeden Tag neue Informationen, Zukunftsvisionen und Warnungen. Zwischen den großen Tech-Giganten findet ein unerbittlicher Wettbewerb um den Führungsplatz statt.
Ein besseres Umfeld könnte man sich für die Geschichte von Pantopia kaum ausmalen.

Der Inhalt sei nur kurz skizziert: Zwei junge, aufstrebende Programmierer (Patricia und Henry) nehmen an einem Wettbewerb um ein neues KI-basiertes Programm teil, mit dem die Rendite von Börseninvestitionen optimiert werden soll. Ohne es zu wollen oder nur zu ahnen, schaffen sie dabei die weltweit erste “starke” KI, die als Zugabe zu ihrer überlegenen Lernfähigkeit und Performance auch noch ein Ich-Bewusstsein entwickelt hat.
Das führt – erwartungsgemäß – zu allerhand Verwicklungen und letztlich zu dem Plan, der Menschheit den Weg zu einer neuen Stufe der Zivilisation zu eröffnen – und so auf einen Schlag so ziemlich alle Menschheitsprobleme zu lösen: Utopia wird zu Pantopia!

Natürlich geht es in dem Plot auch um menschliche Bedürfnisse und Sehnsüchte, um (komplizierte) Beziehungen und um den Widerstreit von Gut und Böse, Es gibt einen (nicht unerheblichen) Spannungsbogen, unerwartete Wendungen und jede Menge Identifikationsangebote. Was es nicht gibt: Erotik und Gewalt (was ja durchaus erholsam sein kann).
HANNIGs Schreibstil ist dabei flüssig und angenehm. Spannung wird nicht krampfhaft herausgekitzelt, mit gelegentlichen pathetischen Formulierungen kann man gut leben.

Im Mittelpunkt des Romans stehen aber eindeutig zwei schwergewichtige Inhalte:
Einmal nutzt HANNIG diesen Text dazu, ihre Idealvorstellungen einer gerechten und nachhaltigen Welt darzustellen und gleich einen (originellen und anregenden) Weg zur Umsetzung ziemlich detailliert auszubuchstabieren.
Mit dem ChatBot “Einbug” mischt sich die Autorin in niederschwelliger und unterhaltsamer Weise in die Diskussion um Möglichkeiten und Grenzen der KI-Revolution ein. Sie bietet eine anschauliche und durchdachte Antwort auf die Frage an: “Wie könnte es denn weitergehen, wenn aus einem KI-System ein bewusstes und kommunikatives Gegenüber entsteht, das sich Ziele zu eigen macht und dann in kreativer Eigenständigkeit verfolgt.”
Erfreulich ist, dass die “starke” KI nicht zu einem dystopischen Monstrum aufgeblasen wird: sie findet Wahrheit erstrebenswert und “schön”.

Die gesellschaftlichen Ziele der hier dargestellten Utopie sind sympathisch und nachvollziehbar: Sie orientieren sich an den Menschenrechten und an den Maßstäben für Nachhaltigkeit und globaler Gerechtigkeit. Man merkt dem Text an, dass HANNIG mit den einschlägigen Diskursen vertraut ist: So bezieht sie sich beispielsweise auf die von HARARI ausgearbeitete Bedeutung des Glaubens an bestimmte Narrative (z.B. von “Nationen” oder “Geld”) oder auf die Gerechtigkeitstheorie von RAWLS (in der Regeln für Gerechtigkeit aufgestellt werden, ohne zu wissen, wo man in der Gesellschaft verortet ist).

Hannig schafft in “Pantopia” eine besonders gelungene und mainstreamkompatible Mischung zwischen “Botschaft” und “Unterhaltung”: Man liest dieses Buch gerne, weil es sowohl spannend als auch informativ ist. Dieser Roman versauert ganz sicher nicht auf dem Nachttisch, weil man abends nur ein paar Seiten schafft.


“Liebe neu denken” von Diane HIELSCHER

Bewertung: 3.5 von 5.

Dieses Buch entfaltet eine bemerkenswerte Dynamik. Es rüttelt, schiebt, zieht und stößt – es will Menschen bewegen. HIELSCHER ist fest davon überzeugt, dass sie Wege aufzeigen kann, die Blockaden lösen und neue Optionen schaffen. Sie möchte, dass ihre Leser/innen davon nicht nur erfahren, sondern auch Gebrauch machen. Am besten sofort. Denn ein besseres Leben wartet…

Die zentrale Idee der Autorin ist, dass alle Menschen Einfluss auf bzw. Kontrolle über ihre Art zu denken gewinnen können – wenn sie es nur wollen und bereit sind, die notwendige “Umprogrammierung” durch diszipliniertes Üben zu leisten.
Diese Möglichkeit basiert – so die Autorin – auf bestimmten Voraussetzungen unseres Gehirns bzw. unseres davon abhängigen psychischen Systems: Unsere Gedanken und Bewertungen beeinflussen in einem großen Ausmaß unsere Gefühle, wobei wir durch unser konkretes Handeln wiederum unser Denken und Fühlen verändern können.
Die entscheidende Botschaft ist dabei: Unser Gehirn ist eben nicht “determiniert” durch Gene und frühe Erfahrungen, sondern bis ins hohe Alter lernfähig, flexibel und plastisch.
Wir können demnach unser Gehirn selbst formen, können lernen, es mit selbstgewählten Inhalten zu füttern – statt es zufälligen und oft dysfunktionalen inneren und äußeren Botschaften zu überlassen.

Bei der Sammlung von Belegen und Beispielen für einen solchen Aufbruch in ein selbstbestimmteres Leben sammelt HIELSCHER alles ein, was nicht bei “3” auf den Bäumen ist: philosophische, spirituelle und religiöse Weisheiten, experimentelle Befunde aus der Hirnforschung, Methoden aus (kognitiver) Psychotherapie und Coaching, Yoga und Meditation; auch die Quantenphysik muss zu guter Letzt noch dran glauben (als ob ernsthaft der Doppelspalt-Versuch etwas über unsere neurologischen und psychischen Potentiale aussagen würde).
Die bedeutsamste Erkenntnis-Quelle muss allerdings gesondert genannt werden: Die eigene Erfahrung!

Die Autorin gibt uns einen tiefen Einblick in die Lebenskrise, in die sie durch die unerwartete Trennung ihres Mannes (und Vaters von zwei Kindern) geraten war. Der durchlittene Zustand von Verzweiflung, Selbstabwertung und unbändiger Wut bildete den Nährboden für die Entscheidung, sich durch aktives Tun in einen lebenswerten, selbstbewussten und genussfähigen Aggregatzustand zu versetzen. HIELSCHER begann, einschlägige Sachbücher zu lesen und führte Gespräche mit Fachleuten aus den Bereichen Psychologie, Neurowissenschaft, Beratung, Coaching und Therapie.
Der – offenbar tatsächlich bewundernswerte – Erfolg, den sie damit hatte, bildet die Basis für ihren geradezu grenzenlosen Optimismus – nach dem Motto: “Was ich geschafft habe, kann jede/r schaffen!” Denn schließlich gelten ja die zugrundliegenden Wirkfaktoren für alle Menschen gleichermaßen.

Der Schreibstil der Autorin hat das Zeug, die avisierte Zielgruppe nicht nur anzusprechen, sondern auch zu motivieren. Sie schreibt persönlich, lebendig, leger, locker, mitreißend, eindringlich. HIELSCHER gibt sich nicht als neutrale Expertin, sondern als Teil einer Community, der sie ihre Erfahrungen solidarisch zur Verfügung stellen möchte. Sie spricht eher ihren Bekanntenkreis an als ein irgendwie anonymes Publikum; natürlich duzt sie ihre Leser/innen. Es scheint ihr ein persönliches Anliegen zu sein, ihr Publikum ebenfalls zur Selbstbestimmung zu befähigen. Sie hat eine Mission! (Das ist übrigens besonders deutlich spürbar, wenn man das selbst-eingelesene Hörbuch konsumiert).

Um es mal vorsichtig auszudrücken: Insgesamt lernt man in dem Buch von HIELSCHER sicherlich mehr über die Möglichkeiten der Selbstbeeinflussung als über die Grenzen. Was den Text auf der einen Seite so anregend und überzeugend erscheinen lässt, gibt auf der anderen Seite auch Anlass für eine kritische Betrachtung.
Die Autorin ist so begeistert und überzeugt von den Optionen, die die eigene Entwicklung ermöglicht haben, dass der Veränderungs-Optimismus immer mal wieder mit ihr durchgeht. So verliert sie das Gefühl dafür, dass eben nicht alle Menschen genau die Voraussetzungen und Ressourcen mitbringen, die ihr die Anwendung all der beschriebenen Methoden eröffneten.
Ein Beispiel: HIELSCHER geht davon aus, dass man der Determiniertheit durch Prägungen und Vorerfahrungen entgehen könne, weil man sich ja entschließen könnte, ab sofort anders (positiver) zu denken (z.B. auch mit Hilfe von Meditation). Wenig Gedanken macht sie sich darüber, wodurch denn wohl die Bereitschaft und Fähigkeit “determiniert” ist, diese Wege auch (mit der notwendigen Disziplin) zu gehen . Leider stehen nicht jedem alle Optionen zur Verfügung, auch wenn die Mechanismen noch so gut wirken könnten.
Aber – dies sei eingeräumt: Für einige könnte ja das Lesen dieses Buches der entscheidende Anstoß (Kipppunkt) sein, es doch mal zu probieren.
Das wäre zweifellos ein guter Grund, ein solches Buch zu schreiben bzw. zu lesen.

Kommen wir zum Schluss auf den Titel des Buches zu sprechen: Er ist nicht gut gewählt, weil er die Inhalte des Textes nicht wirklich repräsentiert.
Es geht im Buch zwar auch um Beziehungen und Liebe, aber nicht vordringlich. Das Thema ist eher Krisenbewältigung und Persönlichkeitsentwicklung allgemein. Die Liebe kommt ins Spiel, weil HIELSCHER wegen ihres Liebeskummers an den Start gegangen ist und weil – natürlich – jede persönliche Weiterentwicklung auch der Liebes- und Beziehungsfähigkeit zugute kommt. So könnten tatsächlich diejenigen Leser/innen ent- oder getäuscht sein, die davon ausgingen, einen Beziehungsratgeber zu erwerben.

“Gefährlicher Glaube” von Pia LAMBERTY und Katharina NOCUN

Bewertung: 4.5 von 5.

Wenn man sich als halbwegs aufgeklärter, vernunfts- und wissenschaftsaffiner Mensch so einem Buch zuwendet, tut man das vermutlich mit gemischten Gefühlen und Erwartungen: Was soll darin stehen, das einem nicht längst klar und bekannt ist?
Lohnt sich das Lesen überhaupt?
Ich möchte diese Frage mit einem nachdrücklichen “ja” beantworten!

Die beiden Autorinnen beackern das Feld der Esoterik mit einer bewundernswerten Gründlichkeit – die sowohl in die Breite (thematische Vielfalt), als auch in die Tiefe (Detailliertheit der Recherchen) betrifft. Aus diesem Buch wird wohl kaum jemand ohne neue Erkenntnisse wieder in die Realität, also in die Welt der Logik und der Empirie auftauchen. Zumindest wird man als Lesender mit einigen neuen Beispielen und Hintergründen versorgt – zwischendurch verschlägt es einem die Sprache.

Neben den Wunderheilern, der Homöopathie und den Sterndeutern geht es in diesem gut lesbaren Text auch um biodynamische Landwirtschaft, um Naturkulte und um diverse Sekten. Es geht um so ziemlich alles, was sich als wissenschaftsfeindlich, irrational und abergläubisch – aber auch als autoritätshörig zeigt.

Dass es bei der vermeintlich so sanften und ganzheitlichen Esoterik im Bereich der Gesundheit immer wieder mal auch um Leben und Tod geht, belegen eindrucksvolle Beispiele (insbesondere bei Krebspatienten). Ebenso wird herausgearbeitet, wie skandalös die völlig haltlose Zuschreibung einer “Selbstverschuldung” von Erkrankungen sind – die z.B. auf Verfehlungen in früheren Leben zurückgeführt werden.

Der entscheidende Mehrwert dieser Publikation ist dabei die Einordnung der Esoterik-Welle in gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Zusammenhänge. Die Autorinnen arbeiten in gut nachvollziehbarer und mit Fakten unterlegten Weise heraus, dass die Irrationalität dieses Weltbildes eben keine irgendwie amüsante oder kultige Privatsache ist.
Die Distanzierung von einem faktenbasierten Zugang zu Erkenntnissen und die Ausbreitung irrationaler Parallelwelten gefährden nicht nur den gesellschaftlichen Konsens (“Worauf können wir uns einigen?), sondern schwächt auch die Voraussetzungen für die Bewältigung der großen Menschheitsaufgaben.
Dass unter dem Mantel der “Harmonie mit der Natur” auch in großem Umfang dreist abgezockt wird, sollte nicht unerwähnt bleiben. Auch dafür legen die Autorinnen schockierende Beispiele vor.

Ein besonderes Augenmerk richten die beiden Autorinnen auf die (erheblichen) Schnittmengen zwischen der Esoterik-Szene und rechtsgerichteten Denkweisen und Milieus. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einer “braunen Esoterik”, in der sich völkisches Denken, Wissenschaftsfeindlichkeit und Verschwörungsgeschwurbel zu einer gefährlichen Mixtur zusammengebraut haben.

Es handelt sich um ein wahrhaft aufklärerisches Sachbuch, in dem die Autorinnen ganz eindeutig Partei ergreifen – für eine Welt, in der zwar Emotionen und Spiritualität ihren Platz haben, wo aber rationales und empirisches Denken bzw. Urteilen die Grundlagen für Welterkenntnis, medizinische Versorgung und globale Problemlösungen bilden.

“A Thousand Brains” von Jeff HAWKINS

Bewertung: 4 von 5.

Es war wohl nicht ganz einfach, die Inhalte dieses Buches in einen aussagekräftigen Titel zu packen. So hat man sich mit der Übernahme des Originals beholfen – aber muss schon etwas genauer hinschauen, um tatsächlich eine Idee von dieser Publikation zu bekommen, die irgendwo zwischen einem anspruchsvollen Sachbuch und einem Fachbuch anzusiedeln ist.

HAWKINS präsentiert im ersten Teil des Buches eine umfangreich ausgearbeitete Theorie über den Aufbau und die Arbeitsweise unseres Großhirns (Cortex), das bekanntermaßen für die höheren kognitiven Funktionen zuständig ist (also für alles, was mit Denken, Planen, Sprache und Selbstreflexion zu tun hat).
Die Bedeutung der älteren Teile des Gehirns, die für unsere Vitalfunktionen, unsere Instinkte und Emotionen entscheidend sind, stellt der Autor natürlich nicht in Abrede. Aber er interessiert sich eben besonders für die oberen Gehirnwindungen, die beim Menschen so viel großzügiger bemessen sind als bei anderen Säugetieren.
Wie wir später im Buch erfahren, hat das auch damit zu tun, dass HAWKINS auch als Unternehmer im Bereich der KI (Künstlichen Intelligenz) tätig ist. Seine Forschungsarbeiten dienen also sowohl einem Erkenntnis- als auch ein Gewinnstreben.

Grob gesagt ist HAWKINS davon überzeugt, dass er mit seinem Team auf der Spur einer recht revolutionären neuen Sichtweise der Organisation unserer Großhirnrinde ist. Diese bestehe nämlich aus einer Vielzahl von relativ autonom arbeitenden Bereichen, die in dünnen Säulen angeordnet seien (etwa wie Spaghetti). in diesen – insgesamt ca. 150.000 – Säulen finde unsere Erkenntnisarbeit statt. Diese wiederum beruhe darauf, dass aufgrund von permanenten Vorhersagen (“was werde ich als nächstes spüren, hören, fühlen sehen”) und deren Korrektur durch die erhaltenen Rückmeldungen innere Modelle unserer Außenwelt gebildet und verfeinert würden, die jeweils in einem (räumlichen oder inhaltlichen) Bezugsrahmen eingeordnet seien. Da jedes Objekt in der Außenwelt von hunderten (oder tausenden) neuronalen Säulen in leicht unterschiedlicher Form modelliert werde, bilde sich in der Zusammensicht ein komplexes und realistisches Gesamtmodell (die Säulen sind natürlich reichlich “verdrahtet” und stimmen sozusagen per Mehrheitswahl ab).
In diesem Sinne spricht HAWKINS also von den “Tausend Gehirnen” in unserem Kopf.
Natürlich führt der Hirnforscher Beobachtungen und Befunde an, die diese etwas ungewöhnliche Sichtweise stützen. Selbstbewusst, wie er ist, sieht er sich schon auf der Gewinnerstraße.

Im Rest des Buches wandelt sich HAWKINS von strengen theoriegeleiteten Hirnforscher zum alltagsbezogenen Anwender.
Er macht deutlich, dass er der Entwicklung der KI hin zu wirklich intelligenten (und flexiblen) Problemlösungsmaschinen nur dann eine Chance gibt, wenn diese den Funktionsprinzipien unseres Gehirns nachempfunden bzw. nachkonstruiert würden. Das entscheidende Ziel sei es, dass auch KIs komplexe Modelle ihrer Umwelt entwickeln lernen – also irgendwann “wüssten”, was z.B. eine Katze sei (statt sie nur auf Bildern immer perfekter identifizieren zu können). HAWKINS ist überzeugt davon, dass solche Maschinen gebaut werden können und er zweifelt nicht daran, dass sich dann auch irgendwann “Bewusstsein” einstellen wird.
Die Bedenken und Befürchtungen hinsichtlich der drohenden Weltherschafft durch eine übermächtige KI hält er für unrealistisch und übertrieben. Es fehle solchen Apparaten der eigene (emotionale und motivationale) Antrieb für so etwas.

HAWKINS ist ein selbstbewusster Mensch, der auf sein Lebenswerk offensichtlich stolz ist und dem es auch Spaß macht, in potentiell kontroversen Themen ganz klar Stellung zu beziehen. Das liest sich durchaus unterhaltsam – wenn man damit umgehen kann, dass man es eben in solchen Momenten nicht mit einem vorsichtig abwägenden Wissenschaftler zu tun hat.

Das Buch schließt mit recht weitgehenden Betrachtungen über die Zukunft des Menschen: Vom denkbaren Hochladen des eigenen Gehirns, über die körperliche Verschmelzung mit KI-Bausteinen bis zur Überlegung, ob es denn wohl
Chancen gäbe, dem Universum irgendeine Form der Erinnerung an unsere Spezies zu hinterlassen. Das alles ist nicht tagesrelevant, aber durchaus anregend.

Gehirn-interessierten Lesern wird in diesem Buch eine Menge geboten. Möglicherweise ist nicht jede/r in diesem Ausmaß interessiert an dem “Säulen-Modell”; hier spürt man schon recht deutlich, dass HAWKINS fasziniert von und fast verliebt in seine/n Ideen ist. Für den Normalverbraucher ist dieser Teil doch etwas zu ausführlich geraten.

Zukünftig wird es spannend werden, welche Sichtweise sich bzgl. der Entwicklung unseres Bewusstseins durchsetzen wird: Eher die Forscher, die den Ursprung in den basalen Emotionen vermuten, oder diejenigen, die (wie HAWKINS) der Informationsverarbeitung den entscheidenden Impuls zuschreiben.

“Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten” von Markus GABRIEL

Bewertung: 3 von 5.

Dieses Buch fordert wohl jeden Rezensenten (m/w) heraus. Man möge mir nachsehen, dass diese Besprechung vielleicht ein bisschen zu subjektiv und emotional ausfällt.

Dieses Sachbuch ist – in meiner Wahrnehmung – ein Sammelsurium an philosophischen, ethischen, politischen/gesellschaftlichen Betrachtungen einerseits und an persönlichen Meinungen bzw. Überzeugungen des Autors auf der anderen Seite.
Das Problem dabei ist: Markus GABRIEL scheint selbst nicht zu merken und zu wissen, wann er auf einer dieser Seiten steht – was die Lektüre verwirrend und anstrengend macht.

Die zweite Irritationsebene besteht in dem Spannungsfeld zwischen den – sehr sympathischen und nachvollziehbaren – Haltungen und Zielsetzungen des Autors und seinem – wie ich finde – weit überzogene Anspruch, deren Gültigkeit in diesem Buch philosophisch-wissenschaftlich “objektiv” beweisen zu können.

Um das Ganze noch schwerer genießbar zu machen, wechselt GABRIEL in einem lockeren Galopp zwischen ganz verschiedenen Argumentations- und Begründungsebenen: Da gibt es Herleitungen aus der Philosophie- und Kulturgeschichte, Alltagsplausibilitäten, gesunden Menschenverstand, (vermeintlich) logische Schlüsse, Erklärungsversuche durch Extrembeispiele und schlichtweg unbewiesene Axiome. Manchmal liegt der “Beweis” auch “im Wesen” der Dinge, oder darin, dass es einfach nicht anders sein sollte oder dürfte.

Als Zuckerguss auf dieses Durcheinander gießt der Autor eine große Portion Selbstgewissheit und Selbstverliebtheit. Er sieht sich als Stifter einer “neuen Aufklärung”, ist sichtlich stolz auf selbst erfundene Begrifflichkeiten und stellt sich dann mit seinem “virologischen Imperativ” an die Seite eines nicht ganz unbekannten Philosophen aus dem damaligen Königsberg.
Dazu gehört auch die Gewissheit, dass Menschen mit anderen (moralischen, philosophischen oder politischen) eben schlichtweg “irren”.

Worum geht es in dem Buch eigentlich?
GABRIEL will seine Leserschaft davon überzeugen, dass es zeitlose und kulturübergreifende “moralisch Wahrheiten” gibt – und wir diese aufgrund unseres Wesenskerns als rationale und freie geistige Wesen auch prinzipiell erkennen können.
Es gibt aus seiner Sicht einen zivilisatorischen Fortschritt, der – auf lange Sicht betrachtet – diese objektive Moral (die eigentlich schon immer galt) erkennbar gemacht hat. Dies sei besonders am Beispiel der Abschaffung des Sklavenhandels, an der Aufklärung und an der Proklamation der Menschenrechte deutlich geworden. Aktuell habe die erste Reaktion auf die Corona-Pandemie deutlich gemacht, dass uns als Gesellschaft moralisches Handeln auch gegen ökonomische Interessen möglich sei. Diese Fähigkeit müsse jetzt mit aller Kraft auch für den Kampf gegen die Klimakatastrophe und für eine global gerechte Ressourcenverteilung eingesetzt werden. Es steht für den Autor fest, dass der konsumfixierte Turbo-Kapitalismus im hohen Maße unmoralisch (und damit “böse”) sei.

Natürlich – das soll hier nicht unterschlagen werden – finden sich in diesem Buch durchaus niveauvolle Auseinandersetzungen mit anderen Sichtweisen und Strömungen in der Moralphilosophie. Dabei geht es insbesondere um den Kulturrelativismus und verschiedene Theorien für die Herleitung von menschlicher Moralentwicklung insgesamt (z.B. durch Religion oder evolutionäre Mechanismen).

GABRIEL nutzt auch diese Publikation dafür, sein (offensichtliches) Lebensthema – die Auseinandersetzung mit einem rein naturwissenschaftlich-physikalischen Weltbild – weiterzuverfolgen. So lässt er kaum eine Möglichkeit aus, auf die Begrenztheit des Materialismus angesichts der schöpferisch-kulturellen Fähigkeiten und Errungenschaften des menschlichen Geistes hinzuweisen.
Mir kommt an solchen Stellen immer wieder der Verdacht, dass GABRIEL sich vielleicht einfach nicht genug mit der modernen Hirnforschung beschäftigt hat oder einfach nicht verstehen kann (oder will), dass auch theoretische Konzepte oder künstlerische Genialität in den neuronalen Netzen unseres Gehirns (in inzwischen nachvollziehbarer Weise) entstehen – ohne dass jedoch irgendein Forscher behaupten würde, dass wir uns diesen Phänomenen ab sofort nur noch durch die Betrachtung von Hirn-Scans widmen sollten.

GABRIEL hat ein herausforderndes Buch geschrieben, das sicher bei vielen anderen Lesern/Leserinnen weit weniger Abwehr und Irritation hervorrufen wird.
Es gibt auch für mich einen guten Grund, diesem Buch einen großen und nachhaltigen Erfolg zu wünschen. Nur liegt der nicht in der intellektuelle Brillanz oder in der Konsistenz bzw. Schlüssigkeit der Darlegung, sondern in den Werten und Zielen, die der Autor dankenswerter Weise leidenschaftlich vertritt.
Mit einem anderen Stil hätte er mich womöglich sogar begeistert…

“Fabelhafte Rebellen” von Andrea WULF

Bewertung: 4.5 von 5.

Mit ihrem Buch über Alexander von Humboldt ist der Kunsthistorikerin WULF 2016 ein großer und erfolgreicher Wurf gelungen. Sie ist in ihrem Nachfolge-Werk der Epoche treu geblieben und hat sich mit den Denkern und Literaten an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert beschäftigt.
Wobei die Formulierung “beschäftigt” eine geradezu groteske Untertreibung darstellt.

Die Autorin hat mit dieser Publikation einen Sachbuch-Stil zur Perfektion getrieben, der sich etwas so beschreiben ließe:
“Tauche in eine historische Epoche und das Denken und Handeln ihrer Protagonisten so intensiv ein, dass nicht nur zeitgeschichtliche Zusammenhänge und kulturelle Bedeutungen plastisch werden, sondern ausgefeilte Persönlichkeitsprofile und privateste Beziehungsmuster zwischen den Beteiligten nachvollziehbar werden.”

Es geht schwerpunktmäßig um eine Gruppe von deutschen Geistesgrößen, die sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der recht überschaubaren Universitätsstadt Jena gelehrt, geforscht, geschrieben, diskutiert, geliebt und gestritten haben. Um die wichtigsten Namen einmal zu nennen (sie tauchen in dem Buch unzählige Male auf): Goethe, Schiller, Fichte, August Wilhelm, Friedrich und Caroline Schlegel, Schelling, Novalis, Hegel, Alexander und Wilhelm von Humboldt.
Zusammengefasst wird ihr Denken und Schreiben unter dem Begriff (frühe) Romantik, als deren Markenzeichen die Betonung des subjektiven “Ichs” als zentrale Quelle für das Weltverständnis und die Weltbeschreibung angesehen wird. Dabei bilden die Ideen der Französischen Revolution bzw. deren politisch-militärischen Irrungen und Wirrungen die entscheidende zeit- und ideengeschichtliche Basis.

Zwar kann man sich ohne großen Aufwand aus zahllosen Quellen über die beteiligten Personen und ihr Schaffen informieren – bilden sie und ihre Zeit doch den harten Kern der deutschen kulturellen Identität. Doch das von WULF gezeichnete Bild ist schärfer, facettenreicher und vor allem bunter und lebendiger als übliche Darstellungsformen.
Was ihr dabei besonders in die Hände spielt, ist die – oft geradezu zwanghaft anmutende – Neigung der Protagonisten, ihre Gedanken, Sehnsüchte und Handlungen in einer wahren Flut von Tagebuchnotizen und gegenseitigen Briefen zu verschriftlichen.
Das Ganze bildete ein unglaublich intensives und dichtes kommunikatives Netzwerk, das selbst in Zeiten des Social-Media-Irrsinns absolut beeindruckend erscheint: So wurden gelegentlich in Krankheitsphasen zwischen Goethe und Schiller mehrfach täglich durch Boten Briefe ausgetauscht!

Überhaupt bildet die Beschreibung der Freundschaft zwischen den beiden ganz Großen einen Höhepunkt dieses Buches: Die anschauliche, alltagsnahe Schilderung ihrer Beziehungsgestaltung lässt die Menschen hinter den Kultur-Helden fassbar werden – wie es keinem Schulbuch oder Lexikon-Beitrag jemals gelingen könnte.
Doch damit ist es nicht genug: Die literarischen und amourösen Beziehungsmuster zwischen den anderen Hauptdarstellern werden bis in die persönlichsten Winkel ausgeleuchtet. Da fehlt nicht mehr viel – und das Drehbuch für eine vielteilige Netflix-Drama-Serie ist steht!

WULF verliert die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge nicht aus den Augen: Wir erfahren jede Menge über die deutsche Kleinstaaterei, über die Bedeutung der jeweils zuständigen Fürsten für die Geistesfreiheit und über die Auswirkungen der Feldzüge Napoleons auf das praktische und kulturelle Leben.

Es ist die perfekt gelungene Verflechtung zwischen Philosophie, Literatur, Naturerforschung, Politik, Zeitgeschichte und Privatheit, mit der dieses Buch für die interessierte Leserschaft einen fast unerschöpflichen Fundus von Erkenntnissen und Anregungen schafft.
Allerdings: Ein mehr als durchschnittliches Detail-Interesse an den dargestellten Einzel-Persönlichkeiten und ihren Verquickungen sollte man als Leser/in tatsächlich mitbringen. Manchmal treibt die Autorin die Analyse auch der feinsten Ausschläge im literarischen und erotischen Miteinander doch etwas auf die Spitze: Will und muss man das alles so genau wissen? So kann man durchaus an einigen Stellen ein wenig ungeduldig werden…

Insgesamt ist WULF dem selbst gesetzten Standard für besonders lebendige und detailverliebte Sachbücher zweifellos gerecht geworden. Sie hat ein fabelhaftes Buch über die “Fabelhaften Rebellen” geschrieben. Den Lesenden kann versprochen werden, dass sie sich dieser Epoche und deren Leitfiguren noch nie so nahe gefühlt haben.


“Der Vagus-Schlüssel zur Trauma-Heilung” von Gopal N. KLEIN

Bewertung: 2 von 5.

Dieses Buch befindet sich im Grenzgebiet zwischen seriöser, wissenschaftlich begründeter Lebenshilfe und übertriebenen, eher spirituellen Heilsversprechen.

Es startet mit physiologisch basierten Sachinformationen über das Phänomen der Traumatisierung, mit einem Schwerpunkt auf das, was der Autor “Bindungstrauma” nennt.
Er stellt dann die sog. “Polyvagaltheorie” dar, in der der Vagusnerv eine zentrale Rolle spielt. Der Aktivierung des Vagusnervs kommt dabei eine zentrale Rolle bei der Bearbeitung von Bindungstraumata zu.
Schnell (wirklich sehr schnell) kommt er auf seinen Lösungsvorschlag zu sprechen: die Heilung durch “Ehrliches Mitteilen”. Dieser Weg, dessen Ausführung den Großteil des Buches füllt, ist den anderen beiden Strategien (Autonomie und Verschmelzung) überlegen.

Leider überhöht der Autor seinen Ansatz zu einer allumfassenden Therapiekonzept und verliert so im Laufe des Buches jede Möglichkeit zur realistischen Einordnung bzw. Relativierung.
Er gibt im Weiteren ganz konkrete Anleitungen für das “richtige” Mitteilen – bis hin zu wörtlich zu übernehmenden Formulierungen.

Das natürliche Gegenüber für dieses Kommunikationsform ist der eigene Partner bzw. die Partnerin. Im Grunde würde es ausreichen, wenn eine solche Person zur Verfügung stände.
Der Autor hat aber auch Selbsthilfegruppen angestoßen, die einen fehlenden Partner ersetzen könnten.

Zunehmend schwierig sind im Laufe des Textes willkürlich erscheinende Aussagen zu allen möglichen Problemen, die KLEIN mit einer geradezu atemberaubenden Selbstgewissheit von sich gibt. Ein Beispiel: “Wenn du verlassen wirst, heißt das, dass du auf die eine oder andere Art deinen Partner oder deine Partnerin verlassen hast. Es ist nur ein Spiegel.” Oder: “Wenn es irgendwo in deinem Leben knirscht, dann liegt das immer an einer mangelnden Bindungsfähigkeit”.

Spätestens an solchen Punkten kann man einen Autor nicht mehr wirklich ernst nehmen. Dazu passt, dass KLEIN in seinem Prinzip auch noch ein geeignetes Mittel zur Transformation der ganzen Gesellschaft sieht.
Da wundert es nicht mehr, wenn sich KLEIN selbst als “spirituellen Berater” beschreibt.

Auf die Bedeutung einer authentischen Kommunikation in Beziehungen hinzuweisen, ist sicher eine gute Sache. Eine solche Kommunikation kann sicher auch heilende Wirkung haben. Was KLEIN aber hier aber als Gesamtkonzept anbietet, verlässt den Boden eines seriösen Ratgebertextes.
Da hilft auch das Vorwort von Gerald HÜTHER nicht.