“Der letzte Sessellift” von John IRVING

Bewertung: 3.5 von 5.

Im meiner Generation haben viele ihre ersten intensiven Erfahrungen mit zeitgenössischer Roman-Literatur John IRVING zu verdanken. Verschlungen wurden z.B. “Garp” oder “Gottes Werk und Teufels Beitrag”. Das liegt ca. 40 Jahre zurück.
Mit seinem aktuellen Roman will es Irving, der vermutlich mit 81 Jahren am Ende seiner Schaffenskraft steht, noch einmal wissen: “Bin ich noch der Meister der weiten Spannungsbogen, der skurrilen Figuren und der absurd-verschachtelten Handlungsverläufe?”

Insgesamt kann man sagen: IRVING gibt nochmal richtig Gas, Schonung ist nicht angesagt. Ein Mainstream-Roman ist es nicht geworden und  ein Wälzer (von fast 1100 Seiten bzw. 34 Std. Hörbuch).

Das Meta-Thema ist erotische Vielfalt, sexuelle Diversität. IRVING wirkt geradezu besessen von der Vision, dass Nähe, Intimität und Liebe am besten gedeihen, wenn sie sich über alle Normalitätsvorstellungen hinweg entfalten können. So lebt der Protagonist (Adam) – überraschender Weise ein Schriftsteller – in einem stabilen Kosmos von Personen, die entweder lesbisch werden oder schon immer waren, zu einer Transfrau geworden sind oder – wie der Schriftsteller und seine zwischenzeitliche Ehefrau – ausnahmsweise heterosexuell sind und bleiben.
Auch die Generationsgrenzen sind ziemlich durchlässig: Seine Mutter hat sich einst von einem Jugendlichen schwängern lassen und ihre Gefühle zu ihrem Sohn kratzt auch an den Grenzen der Mutterliebe. Doch – obwohl immer wieder von spektakulären Orgasmen und den Vor- und Nachteilen von Penissen die Rede ist – geht es letztlich um unlösbare Bindung und bedingungslose Loyalität.

IRVINGs Figuren sind – wie gewohnt  – exzentrisch und schräg bis zum Anschlag, aber sie sind liebenswert und vor allem grenzenlos liebesfähig.
Wir begleiten die Gruppe einige Jahrzehnte durch ihr gemeinsames Leben.  Diese Oase der Zuneigung, Solidarität, Intellektualität und künstlerischer Kreativität ist dabei umgeben von einer ignoranten und feindlichen Umwelt: Da sind die Spießer, die Schwulenhasser und die Transphoben.  Die, die Aids als Strafe Gottes für Unmoral betrachten. Und natürlich die Rechten, die Reagans und später die Trumps.
Als Leser/in muss man damit leben, dass da wenig Raum für Differenzierung bleibt. Eine sympathische Normalität ist nicht IRVINGs Sache. Schrägsein ist Charakter und Modell – Mainstream ist im besten Falle uninteressant.

Der Handlungsfaden wird in zahllosen Zeitsprüngen entwickelt. Das Thema der sexuellen Identitäten ist auf mehreren Ebenen dominant. Letztlich bestimmt das Sein nicht nur die privaten Geschicke, sondern sichert den Lebensunterhalt der meisten Beteiligten. Zwei Autoren werden sogar mit der Vermarktung ihrer biografischen Erfahrungen richtig erfolgreich und reich.
Leicht zynisch könnte man also formulieren: Man dreht sich ziemlich stark um sich selbst und sein Anderssein. Letztlich sichert so – etwas zugespitzt formuliert – die Diskriminierung durch andere sogar die eigene Karriere. So wird die Identität zum zentralen Lebensinhalt.

Der Roman bewegt sich auf mehrere Erzähl- und Realitätsebenen und gewinnt dadurch an zusätzlicher Komplexität.
Da der Vater des Ich-Erzählers (Adam) ein bekannter Schauspieler geworden ist, werden immer wieder bestimmte charakteristische Szenen aus seinen Filmen einbezogen. Als Zugabe gibt es dann noch ein ganzes Arsenal an Gespenstern, die für einige der Figuren sichtbar sind. Nachdem diese zunächst eher historische Bezüge haben, werden nach und nach verstorbene Roman-Figuren selbst zu Gespenstern.
Im letzten Drittel des Buches wird sogar zwischendurch das Genre gewechselt: Weite Teile des Geschehens sind als Drehbuch verfasst.  

Warum nun der Sessellift im Titel?
Wir befinden uns in einer Szene von Skilehrerinnen, Schneeschuh-Läufern und Pisten-Wächterinnen. Entscheidende und besonders dramatische Momente finden in oder in der Nähe von Skiliften statt.

Anstrengend wird das Buch durch die Maßlosigkeit der Wiederholungen: von Szenen, von Dialogen,  von Betrachtungen.
Die Figuren und ihre Botschaften werden der Leserschaft regelrecht eingemeißelt. Es gibt nicht nur erzählerische Rückblicke, zusätzlich schauen auch die Figuren in ihren Dialogen gerne mal auf die erlebten Situationen zurück. Selbst die Filmzitate tauchen mehrfach auf. IRVING lässt nichts unversucht, um die Leserschaft an die entworfene Welt zu fesseln.

IRVINGs Buch ist das Gegenteil von einem leisen Roman: Es ist ein lauter, intensiver Roman. Es gibt von allem ziemlich viel. Oft auch zu viel (selbst von Zuneigung und Kontakt).
Wer noch einmal eine volle Dröhnung IRVING möchte, wird hier sicher nicht enttäuscht.
Gut vorstellbar ist aber auch, dass manche irgendwo auf der Strecke aussteigen – ich könnte es jedenfalls verstehen (auch wenn ich letztlich durchgehalten habe – das ist man dem “alten Meister” ja dann doch schuldig).

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