“Free Agents” von Kevin J. MITCHELL

Bewertung: 5 von 5.

Noch vor wenigen Tagen habe ich ein anderes Buch mit 5 Sternen bewertet, das bei dieser Fragestellung zu einer deutlich anderen Schlussfolgerung kommt (“Determined” von Robert SAPOLSKY).
Wie kann das sein? Es können doch schließlich nicht beide Recht haben…

Nun – unabhängig vom Ergebnis seiner Betrachtungen hat MITCHELL schlichtweg ein herausragendes Buch geschrieben: extrem informativ, didaktisch geradezu vorbildlich aufgebaut bzw. ausgearbeitet und in einem klaren, einladenden Stil geschrieben.
Darüber hinaus bringt der Autor inhaltlich eine bemerkenswerte Vielfalt von eigenen Sichtweisen und kreativen Konzepten ein.
Dafür gebührt ihm uneingeschränkte Anerkennung!

Der Autor möchte seine Leserschaft davon überzeugen, dass lebende Systeme in unserem Universum einen Sonderstatus haben. Mögen auch die physikalischen Objekte durch das Wirken der Naturkonstanten und -gesetze weitestgehend determiniert sein – Lebewesen (im Buch ist überwiegend von Tieren die Rede) – schaffen sich eine eigene kleine Welt.
In diesem abgegrenzten Raum werden zwar die Regeln der Teilchenphysik nicht außer Kraft gesetzt, aber die Dynamik der Evolution schafft eine neue Dimension: Organismen haben ein eigenes Ziel (Überleben bzw. Fortpflanzen), werden von inneren Prozessen bestimmt (Energie aufnehmen; Reste entsorgen), entwickeln interne Kontroll- und Steuerungsmechanismen und entwickeln sich damit zu Wesen mit einer eigenen kausalen Kraft. Dieses Handeln auf der Basis von Gründen lässt sich – da ist der Autor sicher – nicht auf die rein mechanischen physikalischen Regeln auf der untersten Ebene reduzieren.

Auf der Grundlage dieser Logik traut sich MITCHELL jetzt an das verminte Thema der Willensfreiheit heran. Wenn einfachste Lebewesen schon ihr basales Verhalten auf der Basis eigener Bewertungen (“was nützt gerade meinem Weiterleben?”) steuern – warum sollte es dann einen Zweifel daran geben, dass Tiere mit komplexen, zentralen und hierarchisch gegliederten Kontrollzentren (Gehirnen) ihre Entscheidungen nicht “frei” von einer vorgegebenen, rein physikalisch begründeten Determiniertheit treffen?
So weit, so klar.

MITCHELL will aber mehr! Für ihn setzt die Freiheit des Willens voraus, dass auch die jeweiligen biologischen Strukturen des Systems und die in ihnen gespeicherten bisherigen Erfahrungen zwar die potentiellen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten beschränken, aber diese nicht festlegen. Auch die Prinzipien einer biologischen oder psychologischen Determiniertheit lehnt der Autor also ab.
Damit rettet er nicht nur die Willensfreiheit, sondern auch die uns vertrauten Konzepte von Verantwortung und Schuld.

Was ich hier so lapidar komprimiert und vereinfacht dargestellt habe, wird in diesem Buch in einer faszinierenden Breite und Tiefe aufbereitet. MITCHELL bietet so ganz nebenbei ein nahrhaftes und gut verträgliches Einführungs-Menü in die Entstehung des Lebens, die Zellbiologie, die Logik der Evolution und die neurowissenschaftlichen Grundlagen. Was jedoch nicht heißt, dass man nicht auch noch eine Portion Quantenphysik zum Nachtisch bekäme und eine philosophische Einbettung als Aperitif. Gut verdauliches Wissen im Überfluss!

Und der freie Wille? Wird er jetzt endgültig bewiesen – statt philosophisch nun eben biologisch? So einfach ist das dann doch nicht…
Man kann MITCHELL an keiner Stelle nachsagen, dass er die naturwissenschaftliche Argumentationslinie verlassen hätte; er grenzt sich zuverlässig von allen metaphysischen Zusatzannahmen ab. Er will den freien Willen innerhalb des Systems – nicht von außen eingeflogen. Und er gibt sich viel Mühe, eine “realistische und alltagstaugliche” Definition der Willensfreiheit zu finden (die sich deutlich von einer “absoluten”, von vorherigen Einflüssen unabhängigen Auslegung unterscheidet.
Aber er nimmt sich die “Freiheit”, bestimmte Zusammenhänge so zu bewerten, dass es für seine Position gut aussieht. Zwar beschreibt er durchaus – gewohnt sorgfältig und sprachlich gewandt – zahlreiche Faktoren, die eine Person (und ihr Gehirn) im Laufe einer Biografie prägen und damit Einfluss auf Art und Ausmaß der “bewussten und rationalen Kontrolle” nehmen. Er hält aber die kausale Kraft dieser Prägungen – bis auf wenige extreme Ausnahmen – für nicht ausreichend, um die Entscheidungsfreiheit in Frage zu stellen. Dabei übergeht er insbesondere jeden Gedanken an mögliche kumulierten Effekte, die z.B. durch das überzufällige Zusammentreffen mehrerer ungünstiger Lebensumstände entstehen könnte.

Man hat an diesen Stellen das Gefühl, dass der Autor einfach (bewusst oder unbewusst) “beschlossen” hat, dass es keinen Grund dafür geben soll, an traditionellen Alltagskonzepten von Autonomie und Selbstverantwortung zu rütteln.
Hier hätte man mehr (wissenschaftliches) Abwägen erwartet! Statt dessen äußert sich MITCHELL sogar eher kritisch zu neueren juristischen Tendenzen, psychische und neuronale Besonderheiten auch jenseits der klassischen psychiatrischen Erkrankungen bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen. Möglicherweise hat der exzellente Biologe MITCHELL auch einfach ein etwas begrenztes Einfühlungs- und Vorstellungsvermögen hinsichtlich biografischer Hypotheken und Verletzungen.

Trotz aller spannenden Zusatzbetrachtungen zur Rolle von quantenmechanischen Unschärfen als Grundlage für die Freiheit im Gehirn und trotz der wirklich kreativen Ausflüge in bestimmte philosophische Gedankengebäude: Letztlich hängt auch am Ende dieses bemerkenswerten Buches die Frage des freien Willens davon ab, wie groß man die kausale Lücke einschätzt, die sich nach Berücksichtigung wirklich aller (nicht selbst beeinflussbaren) Vorbedingungen in einer Entscheidungssituation ergeben könnte: Konnte ich als die Person, die zu diesem Zeitpunkt so geworden und gewesen ist, tatsächlich anders handeln? Während SAPOLSKY an dieser Erklärungs-Lücke grundsätzlich zweifelt, liegt hier für MITCHELL die Begründung für die Freiheit.
Das kann man so sehen! Die Eindeutigkeit und Begründung dieses Urteils passt aber nicht zu der ansonsten brillanten Argumentationsführung von MITCHELL.

Ein tolles und ohne Zweifel lesenswertes Buch (bisher nur auf Englisch verfügbar), das zu einer insgesamt “bequemen” und beruhigenden Schlussfolgerung kommt, deren Gültigkeit aber zumindest sehr fraglich erscheint.

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