“Gegen Wahlen” von David Van REYBROUCK

Bewertung: 4 von 5.

Das Buch des holländischen Historikers ist zuerst 2013 erschienen. Da ich bei Sachbüchern sehr auf die Aktualität achte, hat mich das bei dieser Buchempfehlung zunächst etwas irritiert. Diese Bedenken wurden weitgehend zerstreut.
Man kann sogar feststellen, dass die momentane Diskussion um sog. “Bürgerräte” – gefordert z.B. von der “Letzten Generation” – dem Buch eine brandaktuelle Note gibt.

Van REYBROUCK stellt in diesem überschaubaren Buch (170 Textseiten) eine kleine, aber feine Geschichte der demokratischen Auswahlverfahren dar. Dabei geht es um zwei Grunddimensionen, die sozusagen das Skelett dieses Textes ausmachen:
– Einmal geht es auf der Bewertungsebene um das Spannungsfeld zwischen Effizienz eines Regierungssystems und der Legitimität, die es gegenüber den Regierten geltend machen kann. Hier punktet die Demokratie allgemein erstmal bei dem Anspruch, die verliehene Macht rechtfertigen zu können; trotzdem wird schon eine Weile auch von einer Legitimationskrise der repräsentativen Demokratie gesprochen. Bei der Effizienz lassen gerade nicht nur die aktuellen Rückschläge in der Klimapolitik sowieso ernsthafte Zweifel aufkommen.
– Auf der Ebene der Organisation demokratischer Spielregeln diskutiert der Autor die Auswahl der “Volksvertreter/innen”: Dem für uns so selbstverständlich erscheinenden System der Wahlen stellt er ganz unterschiedlich strukturierte Losverfahren gegenüber. Nicht als abstraktes Gedankenspiel, sondern als ernsthafte und gut begründbare Alternative (oder doch zumindest Ergänzung). Natürlich werden auch auf diese Fragestellung die Kriterien der Effizienz und Legitimität angewandt.

Der Autor führt uns durch die Geschichte der Demokratie und öffnet die Augen dafür, dass Wahlen keineswegs von Beginn an die natürliche Basis demokratischer Prozesse waren. Ganz im Gegenteil: In der zufälligen Zuteilung von zeitlich begrenzten Mandaten wurden in der Antike und der Renaissance die Ursprünge demokratischer Vertretungssysteme gebildet. Die historische Analyse des Autors ist geradezu vernichtend: Wahlen seien anfangs gar nicht als echter Weg in die Volksherrschaft gedacht gewesen; sie sollten vielmehr die Macht bestimmter privilegierter Gruppen zementieren.
Zwar hätte sich das “elektoral-repräsentative” System weiterentwickelt, sei aber aktuell (Stand 2013) an kritische Grenzen gestoßen.

Auf den letzten 50 Seiten stellt Van REYBROUCK in einem international orientierten Überblick neue Ansätze von losbasierten Auswahlverfahren für ganz unterschiedliche Verfassungs- bzw. Regierungsorgane dar. In einer “Blaupause” wird ein ausgefeiltes Modell des Zusammenspiels unterschiedlicher Entscheidungsinstanzen vorgestellt.
Für den Autor steht ohne Zweifel fest: Unsere Demokratien würden enorm davon profitieren, wenn “normale” Bürger in einem begleiteten Prozess die Möglichkeit zur direkten Einflussnahme und Mitbestimmung bekämen.

Van REYBROECK hat ein gut recherchiertes und didaktisch vorbildlich aufbereitetes Buch über ein extrem relevantes Thema geschrieben. Den hier zusammengestellten Informationen, Analysen und den daraus abgeleiteten Vorschlägen wäre eine große Verbreitung und Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs zu wünschen.
Dazu wäre es sicherlich nützlich, eine aktualisierte Neuausgabe herauszubringen, die dann auch die Entwicklungen des letzten Jahrzehnts berücksichtigen könnte. Zusätzlich sollte man bedenken, ob wirklich der extrem provokative Titel (inkl. Untertitel und Zitat auf der Buchrückseite) die optimale Verkaufsstrategie darstellt.
Dieses Buch hat erheblich mehr zu bieten als pure Provokation.

(Ob angesichts der ungelösten Menschheitsthemen tatsächlich demokratische Strukturen gegenüber “Expertokratien” – die in schnell steigendem Umfang auf Analysen und Prognosen der Künstlichen Intelligenz basieren werden -Bestand haben können, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls ist nicht auszuschließen, dass wir in naher Zukunft gezwungen sein werden, dem Kriterium der Effizienz ganz eindeutigen Vorrang einzuräumen.)

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