“Demokratie braucht Religion” von Hartmut ROSA

Bewertung: 2 von 5.

Der Soziologe Hartmut ROSA hat sich in den letzten Jahren mit den Themen “Resonanz”, “Beschleunigung” und “Unverfügbarkeit” einen Namen gemacht. Aus einer unideologischen Perspektive wies er auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen hin, die mit einem Weltzugang verbunden sei, der einseitig auf Naturbeherrschung, Funktionalität, Wohlstandssteigerung, Wachstum und technologische Kontrolle ausgerichtet ist.
Hier legt ROSA ein Büchlein zur Rolle von “Religion in der Demokratie” vor, das aus einem Vortrags-Manuskript und einem (ziemlich irrelevanten) Vorwort von Gregor GYSY besteht. Rein formal (quantitativ) kratzt der Autor damit an der untersten Grenze von dem, was sich sinnvoller Weise in Buchform veröffentlichen lässt (80 “großzügig” bedruckte Seiten für 12 €; ROSA beginnt auf Seite 17).
ROSA hat seinen Vortrag in einem kirchlichen Kontext gehalten (einem Diözesanempfang) und greift in seiner Rede mehrfach das Jahres-Motto “”Gib mir ein hörendes Herz” auf. Es war ganz offensichtlich sein Anliegen, seinen Einladern eine gute Stimmung zu bereiten; so durchforstete er seine wissenschaftlichen Theorien auf alle Aspekte, die sich in einer positiven Schnittmenge mit der (katholisch-)christlichen Lehre und Praxis bringen lassen.
Ganz explizit stellt ROSA am Beginn seiner Ausführungen zwar die Frage, ob Religion für unsere aktuelle gesellschaftliche Situation noch mehr als ein überkommener Anachronismus sein kann. Doch es wird nach wenigen Seiten klar, dass er diese Möglichkeit in keiner Weise ernsthaft betrachten will. Der Autor wägt in diesem Text nicht ab, sondern bietet längst gefundene Antworten an.

ROSA stellt ein geradezu erstaunlich einfaches Gedankenkonstrukt vor:
Religion kann aus seiner Sicht das entscheidende – und sogar alternativlose – Gegenmodell zu all den (letztlich krankmachenden) Entfremdungserfahrungen sein, die mit unserer rastlosen, wachstumsverliebten und beziehungslosen Lebensweise verbunden sind.
Glauben und Religion werden so zu einem Allheilmittel stilisiert, das sich nicht nur dem Beschleunigungs- und Wachstumszwang, sondern auch der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft in feindliche Lager und der allgemeinen Erschöpfung (“Burnout”) entgegenstellen kann. Kurz gesagt: Religionen seien geeignet, sich dem entfremdeten “Aggressionsverhältnis zur Welt” mit einem “hörenden Herz” wirkungsvoll entgegenzustellen.
Wie machen sie das?
ROSA behauptet, die Kirchen verfügten “über Narrationen, über ein kognitives Reservoir, über Riten und Praktiken, über Räume, in denen ein hörendes Herz eingeübt und vielleicht auch erfahren werden kann”. Er sieht die Erfahrung “Anrufbarkeit”, also die Resonanzerfahrung, als die entscheidende Qualität an.

Ausgehend von seiner (kurz zusammengefassten) Resonanztheorie führt ROSA aus, dass das Funktionieren unserer Demokratie auf die Qualitäten einer auf Resonanz basierenden Weltbeziehung angewiesen sei: Es müsse eine Rückbesinnung auf eine “ergebnisoffene Selbstwirksamkeit” stattfinden, in der man sich von Erfahrungen und Meinungen anrühren lasse, ohne gleich nach Zwecken, Funktionalitäten und Rechthaben zu schielen.
Genau solche Erfahrungsräume – so ROSA – stellen die Religionen (mit ihren Traditionen und Riten) bereit – außerhalb von Leistungs- und Konsumzwängen, die Resonanzerfahrungen weitgehend ausschlössen.
Rosa sieht aber auch die Bedeutung der inhaltlichen Botschaften von Religion (und Esoterik), die dem “kalten und gleichgültigem Universum” sinnstiftende und tröstende Antworten entgegensetzten. So könne dann eine Resonanzachse zwischen betendem Mensch und zuhörendem Gott entstehen.
ROSA ist überzeugt: Auf diese Räume und Kräfte kann unsere Demokratie nicht verzichten.

Um es auf den Punkt zu bringen: ROSAs Vortrag nähert sich in einem erstaunlichen Umfang dem Genre einer Predigt!
Dies mag man angesichts des Kontextes eines Vortrages für legitim halten; eine Veröffentlichung in Buchform erscheint mir aber für einen Wissenschaftler mit einem gewissen Renommee ein grenzwertiges Unterfangen zu sein.
ROSA unternimmt keinerlei Versuch, dem – unbestreitbar möglichen – religiösen Resonanzerleben andere, säkulare Resonanzquellen gegenüberzustellen: Er benutzt zwar einmal die Analogie der musikalischen Resonanz, spricht dann aber (anders als in seinem großen Resonanz-Buch) nicht über Kunst, Kreativität, Naturerleben, Liebe, Altruismus, Welterkundung, politisches Engagement, usw. In diesen und vielen anderen Feldern bzw. Tätigkeiten sind “Anrufungen” und “ergebnisoffene Selbstwirksamkeit” möglich, lassen sich persönliche Sinnerfahrungen, Zugehörigkeit und Gemeinschaftsgefühl erleben.
Und das alles ohne den Preis, sich bestimmten Glaubenssystemen mit z.T. abstrusen Dogmen zu unterwerfen.

ROSA enthält dem Auditorium (und damit leider auch den Lesern/Leserinnen) nämlich nicht nur mögliche Alternativen vor, sondern versäumt es auch, auf die Nebenwirkungen und Risiken hinzuweisen, die mit einer (zu) starken Hinwendung zu irrationalen Weltzugängen verbunden sein können. In einer Zeit, in der wir existentielle planetare Herausforderungen nur unter Berücksichtigung alle faktenorientierten Erkenntnisse meistern können, sind zumindest die wissenschaftsfeindlichen Auswüchse von Irrationalität, Mystik, magischem Denken und Empirie-Verweigerung keine harmlosen Privatangelegenheiten. Darauf macht nicht zuletzt die toxische Gemengelage zwischen fanatischen bzw. fundamentalistischen Glaubenshaltungen und -gemeinschaften auf der einen, und rechtspopulistischen und verschwörungstheoretischen Ideologien bzw. Gruppierungen auf der anderen Seite aufmerksam.

ROSAs Streitschrift für die Bedeutung der Religionen ist somit eine extrem einseitige Meinungsäußerung: als Vortrag im kirchlichen Setting sicher akzeptabel, als Veröffentlichung eines renommierten Soziologen ganz eindeutig zu kurz gegriffen – quantitativ und qualitativ.

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