“Realität +” von David J. CHALMERS

Bewertung: 3 von 5.

Der Autor ist im Bereich der Bewusstseinforschung bekannt wie ein bunter Hund. Es gibt wohl kein einschlägiges Sach- oder Fachbuch, in dem er nicht mit seinem berühmten Statement vom “hard problem” zitiert wird. Es ging dabei um den von vielen Forschern als unerklärbar gehaltenen qualitativen Unterschied zwischen neurologischen Prozessen und den darauf basierenden subjektiven Empfindungen. 

CHALMERS treibt es diesmal noch weiter an die Grenzen des Denk- und Vorstellbaren. Das Kernthema seines aktuellen Buches ist die Auflösung der Grenzen zwischen verschiedenen Ebenen von Realität.

Als Ausgangspunkt für seine oft an Absurdität kaum zu übertreffenden Betrachtungen ist die sog. Simulationshypothese. Der Autor macht gleich zu Beginn des Textes deutlich, dass es es für ziemlich wahrscheinlich hält, dass wir uns gerade selbst bereits in einer digitalen Simulation befinden

CHALMERS will seine – sicherlich sehr fern des Mainstreams liegende – Leserschaft immer wieder davon überzeugen, dass es neben dem, was wir als “physikalische” Realität empfinden, auch verschiedenste Formen von “digitaler” Realität gibt. Er arbeitet mit einer geradezu zwanghaft wirkenden Detailversessenheit viele detaillierte Szenarien heraus, um zu guter Letzt bei der Erkenntnis zu landen, dass so etwas wie Realität eher etwas Strukturelles als etwas Inhaltliches ist. Damit endet das Buch mit einem Plädoyer für seine besondere Spielart einer idealistischen Weltsicht (in der Geist dann die primäre Basis darstellt und sich die Frage nach dem Übergang zwischen Materie und Bewusstsein erst gar nicht stellt).

Zwischendurch erscheinen die Annahmen und Schlussfolgerungen CHALMERSs so anti-intuitiv und konstruiert, dass sich wohl die allermeisten Leser/innen irgendwann die Frage stellen, ob man sich das wirklich weiter antun sollte. Es ist wirklich Hardcore!

Was liegt in der anderen Waagschale (die ein Weiterlesen zumindest nahelegen könnte)? 

CHALMERS ist ganz sicher ein extrem guter Kenner des Science-Fiction-Genres in Literatur, Film und virtuellen Spielewelten der letzten Jahrzehnte. Er schafft immer wieder Bezüge zu unterschiedlichsten Einzelwerken (wobei die “Matrix” wegen der Nähe zum Thema Simulation eine besondere Rolle spielt). Darüber hinaus scheint er so ziemlich jeden philosophie-technischen Beitrag zu kennen, der jemals zum Themenbereich verfasst wurde.

Gänzlich unerwartet lockt da noch ein dritter geistiger Leckerbissen: Der Autor leistet sich nämlich das (deutlich spürbare) Vergnügen, eine ganze Reihe von grundlegenden Stationen und Ideen der allgemeinen Philosophiegeschichte auf seine diversen Simulationsvarianten anzuwenden. Bis hin zu der Frage, ob man in Bezug auf die Schöpfer einer Simulation (in der man selber möglicherweise lebt), eine Art Theologie (bzw. Methoden der Anbetung) entwickeln sollte (er verneint das nach reiflicher Überlegung).

An solchen und vielen anderen Stellen beschleicht einen manchmal der Gedanke, dass CHALMERS vielleicht doch nur Schabernack mit uns treibt und sich seine Aussagen vielleicht tatsächlich nur auf unsere ganz “normale” Realität bezieht – sozusagen kunstvoll verfremdet.

Aber das würde diesem Grenzgänger zwischen den Welten nicht gerecht: Der Autor lebt seit Jahrzehnten so selbstverständlich und leidenschaftlich auch in virtuellen Welten, dass man ihn wohl meistens so richtig wörtlich nehmen muss – selbst wenn er auch die Hypothese überprüft, dass alle denkbaren Realitäten sich auch in zufälligen Staubwolken manifestieren könnten…

Für CHALMERS sind digitale Katzen in einer digitalen Simulation nicht weniger real als physikalische Katzen in einer physikalischen Welt. Das gilt insbesondere dann, wenn man sein ganzes Dasein in einer (perfekten) Simulation verbringt. Dass wir nach einer biologischen Existenz vielleicht irgendwann als upgeloadetes Bewusstsein ewig weiterexistieren könnten und dass dann eben auch ein Leben in einer Realität wäre, ist nur ein kleiner Seitenarm seiner exzentrischen Fantasien.

Ob man das Ganze wirklich als intellektuelles Vergnügen oder als abgedrehte Spinnerei empfindet, ist ganz sicher Ansichtssache. Es sei gewarnt: Dieses Buch durchzuhalten, stellt eine echte Herausforderung dar. 

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