20.01.2020

“Die Wachstumsaussichten der Weltwirtschaft werden optimistischer gesehen.”

So eine Meldung des Tages.

Stimmt das noch? Passt das noch? Darf man die Begriffe “Wachstum” und “optimistisch” noch in einem Satz benutzen? Wird man nicht in wenigen Jahren über so eine blauäugige Wachstumsorientierung den Kopf schütteln?

Ich weiß es nicht genau. Aber ich habe so eine Ahnung….

“Die Gesellschaft der Singularitäten” von Andreas Reckwitz

Bewertung: 5 von 5.

Ich will nicht lange darum herumreden: Es handelt sich um ein – nicht gerade leicht verdauliches – soziologisches Fachbuch. Für (allgemeingebildete) Laien zwar prinzipiell verständlich, aber gedanklich und sprachlich anspruchsvoll. Also für die meisten Menschen keine entspannende Freizeitlektüre.

Bevor ich erläutere, welchen Gewinn das Lesen eines solchen Buches im Allgemeinen und dieses Textes im Besonderen bringen kann, gehe ich kurz auf den Inhalt ein.

Der Autor beobachtet und analysiert den Übergang von der “modernen” zur “spätmodernen” Gesellschaft. Er tut das mit einem sehr breiten Blick (wie mit einem Weitwinkelobjektiv), sodass eine Vielzahl von Bereichen und Phänomenen erfasst wird. Es geht z.B. um die Arbeitswelt, die Wirtschaft, das Wohnen, die Ernährung, die Bildung, die Kultur, die Freizeit, das Beziehungsleben, die Digitalisierung und die Politik). Irgendwie um alles. Natürlich wechselt RECKWITZ bei der Detailbetrachtung das Objektiv: Dann ist das Tele dran (heute würde man sagen: er zoomt herein).

Die eigentliche Leistung dieses Buches besteht darin, für nahezu alle Tendenzen und Entwicklungen eine gemeinsame Matrix zu finden. Der Autor liefert eine Schablone, mit deren Hilfe die – in ihrer Vielfältigkeit zunächst chaotisch anmutende – Wirklichkeit strukturiert, geordnet und verstehbar erscheint. Bleiben wir beim Fotografieren und stellen wir uns einen Filter vor, der sowohl Dunst, als auch Farbstiche, Reflexionen und Unschärfen beseitigt.
Dieser Filter heißt bei RECKWITZ “Singularitäten”.

Die Tendenz zu und die positive Bewertung von Singularitäten (also “anders sein”, “besonders sein”, einmalig sein”) ist nach seiner Analyse die entscheidende Dimension, in der sich die Spätmoderne von der auf Standardisierung und Angleichung ausgerichtete Moderne (die von der Industrialisierung bis ca. 1980 reicht) unterscheidet.

Nun denkt man vielleicht: So eine These mag ja ganz interessant sein; man könnte sie vielleicht in einem kleinen Essay mal auf 20 Seiten darstellen. Aber 450 Seiten!?
Genau das habe ich auch gedacht, als ich die Einleitung gelesen hatte. “Was soll jetzt noch kommen?”
Es kam noch unglaublich viel – und ich möchte kaum eine Seite missen.

Vielleicht sollte noch erwähnt werden, dass der Denk- und Analyseansatz von RECKWITZ nicht auf der Beschreibungsebene verbleibt. Der Autor zieht am Ende auch einige gesellschaftlich relevante Schlussfolgerungen.
Von ganz aktueller Bedeutung sind beispielsweise seine Ausführungen zu den populistischen und rechten Strömungen, die als Antwort der “Singularitätsverlierer” angesehen werden können.

Was ist nun der Gewinn?
Ich habe nach der Lektüre das eindeutige Gefühl, die Welt um mich klarer zu sehen. Ich habe ein hilfreiches Bezugssystem gewonnen, meine Perspektive erweitert. Alles wirkt ein wenig klarer, transparenter, konturierter. (Ich bin schon wieder beim Fotografieren).
Dieses Buch hat mein Weltverständnis erweitert. Nicht, weil es eine neue “Wahrheit” verkündet, sondern weil es eine hilfreiche Meta-Ebene aufspannt.
Zumindest mir war das die Mühe wert, mich durch einen manchmal anstrengenden Text zu arbeiten. Hilfreich war dabei, die klare Strukturierung der Gedankengänge und das sehr systematische Vorgehen.

Ich habe begonnen, mich und meine Umgebung durch die Singularitäts-Schablone zu betrachten. Ein Ergebnis: Was ich hier gerade tue – eine Rezension zu posten – ist ein Ausdruck meiner Bedürfnisse, “besonders” zu sein und etwas “Unverwechselbares” zu schaffen.
Wie fast jedes wirklich gute Buch, hält auch dieses Buch seinen Lesern einen Spiegel vor.

(Hier geht es zum Nachfolge-Buch).

19.01.2020

Mal wieder etwas Neues!
Ein Tipp von meinem Sohn, den ich sofort umgesetzt habe.

Es gibt eine Plattform für Bücher-Fans, die sich von “normalen” Buch-Shops unterscheidet: www.mojoreads.de.

Der Clou: Dort werden Leser, die ihre Lieblingsbücher bewerten und/oder rezensieren mit “Punkten” (Credits) belohnt. Es gibt sogar eine kleine Umsatzbeteiligung, wenn jemand anderes aufgrund einer solchen Bewertung das Buch bestellt.

Das Ganze ist an dem Gedanken der Gemeinwohl-Wirtschaft orientiert. Es wird ein deutlich anderes Umfeld als bei Amazon geboten; das ist sehr angenehm.
Die Leute, die dort posten, haben wohl einfach eine intensivere Beziehung zu Büchern.
Und da es eine kleinere Community ist, wird man mit dem, was man schreibt, auch wahrgenommen.

Ich habe inzwischen einige Rezensionen aus meinem Blog dorthin übertragen. Vielleicht schaut ihr mal rein.
(Der Link funktioniert wohl nur am PC richtig; für Tablet oder Smartphone braucht man vorher die mojoreads-APP).

18.01.2020

Ausprobieren ist ja wirklich reizvoll: Man kann entscheiden, ob die neue Sache zu einem passt und man kann – auch bei einer klaren Verneinung – immer noch sinnvoll mitreden.

Heute Nacht war der E-Scooter dran. Die letzte Bahn war schon weg, der Fußweg erschien etwas zu weit, das Auto war schon zu Hause.
Was macht der moderne Rentner: Er lädt die LIME-App runter, meldet sich an, zahlt über PayPal 5 Euro auf ein Prepaid-Konto und macht sich mit der geöffneten App auf die Suche nach dem nächsten angezeigten Fahrzeug.

Nun gut. Es herrschten erschwerte Bedingungen. Dunkel, kalt und ungemütlich. Keine Erfahrung oder Vorinformationen. Es hakte etwas. Eine erfahrene Userin kam mir zu Hilfe (das mag für andere Menschen in meinem Alter normal sein – für mich ist es nicht identitätskompatibel).
Ich fuhr voll konzentriert. Es fühlte sich extrem unkomfortabel an, hart und ruckelig. Aber ich kam zu Hause an. Noch hatte ich einen kleinen zeitlichen Vorspruch gegenüber dem Fußmarsch…

Kapiert hatte ich schon, dass ich mich elektronisch abmelden musste.
Das ging aber leider nicht. Weil ich – ohne es zu ahnen – die vorgesehene Nutzungszone verlassen hatte.
Was tun? Es war immer noch dunkel, kalt und ungemütlich.
Ich fuhr zurück in die erlaubte Zone. Es handelte sich um mehr als die Hälfte der Strecke, die ich insgesamt zurückgelegt hatte.

Das Parken und Abmelden funktionierte dann ganz gut. Ich sollte noch ein Foto machen – zum Beweis, dass ich vernünftig geparkt hatte. Fotos machen kann ich.

Ich brauchte dann nur noch nach Hause laufen. Am Ende war mir dann auch warm.
Von den 5 Euro waren 4,20 € verbraucht. Wegen der ganzen Hin- und Herfahrerei.
Ich war dann etwas 30 Minuten später zu Hause als bei einem ganz normalen Fußmarsch. Aber um eine Erfahrung (Wortspiel!) reicher.
Die 80 Cent lasse ich verfallen. Die App wird gelöscht.
Goodbye, schöne neue E-Scooter-Welt!

“Lindenberg! Mach dein Ding”

Ein Spielfilm ist keine Dokumentation – auch wenn die Vorlage ein echtes Leben eines echten Menschen ist. Über den Menschen Udo Lindenberg gab es auch im Vorfeld schon viele Informationen und zahlreiche Legenden, die sich zu individuellen Bildern manifestiert haben. Mit solchen Bildern muss jetzt dieser Film über den Vorlauf und die Anfänge von Udos Karriere konkurrieren.
Vermutlich fällt die Bewertung des Filmes daher besonders subjektiv aus.
Vielleicht gilt ja die Regel: Je weniger vorgefertigte Schablonen der Kinobesucher mitbringt, desto ungestörter kann sich die filmische Bildersprache entfalten.

Dieser Film ist eine Mischung, ein Kompromiss. Er versucht sich einerseits an biografischen Zusammenhängen und damit auch an Erklärungen – andererseits schwelgt er in langen Szenen, in denen es wohl nur um Atmosphäre gehen soll.
Wer mit eindeutigen Erwartungen in diesen Film geht, kann daher so oder so enttäuscht werden.

Es geht um die Person Udo und seine ersten Lieben, es geht um zeitgeschichtliche (spießig-verlogene und hedonistisch-abgedrehte) Lebensgefühle, es geht um Kunst (Popmusik) und Kommerz. Und es geht – in ausnahmslos allen gezeigten Milieus – um massiven Alkoholmissbrauch (das Ganze “Konsum” zu nennen, wäre ein abstruse Untertreibung).
Der Alkohol ist so präsent, dass sich nach einiger Zeit eine natürliche Abwehr entwickelt und man es einfach nicht mehr sehen möchte. Und man kann es – bei allem Verständnis für jugendliche und szenebedingte Besonderheiten – auch irgendwann nicht mehr verstehen.
(Das ging mir übrigens bei der Autobiografie genauso).

Der Film zelebriert “Sex and Drugs and Rock’n Roll” überwiegend in der speziellen Ausprägung des Hamburger Reeperbahn-Milieus. Der junge Trommler (ja, Udo war zunächst ein – ganz erfolgreicher – Schlagzeuger) schlägt sich in der halbseidenen Welt von Sex und Musik so durch und wird von der diffusen Idee getragen, irgendwann sein großes DING zu machen.
Dieses DING ist natürlich die Rockmusik mit authentischen deutschen Texten – jenseits von Herzschmerz.
Der Film endet an der Stelle, wo ihm diese Idee einen Plattenvertrag über 1 Million einbringt.

Gestört hat mich, dass es einige Lücken in der Darstellung seiner Biografie gab: So ist zwar das Kind Udo zu sehen, kaum aber der Jugendliche, der langsam in die Welt der Kneipen-Musik hineinstößt. Gefehlt hat mir auch die Zusammenarbeit mit dem Jazzer Klaus Doldinger (Passport), die ja schon einiges Renommee einbrachte.
Die Beziehungsdynamik in seinem Familiensystem im spießigen Gronau war dagegen ganz gut nachvollziehbar.

Die Bilanz: Wenn man seine biografische Selbstdarstellung kennt, braucht man diesen Film nicht – zumindest nicht als Informationsquelle.
Dass ein Stück Zeitgeschichte gekonnt in Szene gesetzt wurde, kann man sicher begrüßen.
Begeisterung hat dieser Film bei mir letztlich nicht ausgelöst – aber auch keinen wirklichen Frust. Vielleicht ein wenig Enttäuschung – wegen der vielen eigenen Bilder….

(Tut mir leid, dass ich nichts übe die cineastischen Qualitäten des Filmes gesagt habe. Da fehlt mir einfach der fachliche Hintergrund…).

17.01.2020

Putin lässt gerade das gesamte russische Regierungs- und Verfassungssystem umbauen – offenbar um eine Grundlage dafür zu schaffen, seine Macht zeitlich unbegrenzt abzusichern.

Warum lässt er sich nicht einfach zu einem Zaren auf Lebenszeit krönen? Das wäre doch viel klarer und effizienter…

16.01.2020

Heute ging es um eine neue Regelung zu Organspenden. In unserem Parlament wurde intensiv und engagiert diskutiert. So weit, so gut.

Über das Ergebnis bin ich enttäuscht. Die unterlegene “Widerspruchslösung” hätte aus meiner Sicht viele Vorteile gehabt. Der Haupteffekt wäre natürlich die Steigerung der Zahl der Spenderorgane gewesen. Aber auch das gesellschaftliche Signal hätte Bedeutung gehabt: Eine “Selbstverständlich der Solidarität” hätte Ausdruck gewinnen können. Normal wäre die Hilfe für ansonsten Todgeweihte gewesen; der Wunsch, sich von dieser Regel zu befreien, hätte einer Aktivität bedurft. Das wäre für mich menschlich und logisch gewesen.

Immerhin hat es der Minister Spahn versucht. Respekt!

15.01.2020

Es sind sehr grundsätzliche Einstellungen und Bewertungen, die sich in den letzten Monaten und Jahren gewandelt haben. Manches, was noch vor kurzer Zeit selbstverständlich war, löst heute Kopfschütteln oder sogar Wut oder Fassungslosigkeit aus. Sehe ich heute rauchende Schlote von Kohlekraftwerken oder riesige Öltanker, kommt mir das geradezu pervers vor. Wie konnte man – so frage ich mich – diese Bilder einmal kritiklos als willkommenen Ausdruck wirtschaftlicher Prosperität interpretieren? Bestimmte Weltsichten sind wohl für alle Zeiten verloren gegangen. Hoffentlich nicht zu spät….

14.01.2020

Manchmal (ver)zweifelt man dann doch an den Menschen und ihren abstrusen Ideen. Z.B. an den Auswüchsen des Gender-Wahnsinns.

Da wird jetzt in bestimmten Kreisen (ernsthaft) darüber diskutiert, ob man öffentlich sagen darf, das Geschlechter-Unterschiede eine reale biologische Grundlage haben (und eben nicht nur oder überwiegend soziale und kulturelle Konstruktionen sind).

Die Harry-Potter-Autorin ROWLING steht deshalb seit einigen Wochen unter Beschuss einer bestimmten Gender-Szene. Sie sagte oder schrieb: “Sex is real”.

Wie abgedreht sowas diskutiert werden kann, kann man hier nachlesen. Ich bin über diese Sichtweise einfach nur fassungslos….

13.01.2020

Im Iran drücken sehr mutige Menschen ihren Protest gegen das erzreaktionäre Mullah-Regime unter Einsatz ihres Lebens aus.
Was tut Trump: Er twittert seine Unterstützung in der Landessprache Farsi.

Ein tolles Geschenk für die Mullahs! So können sie wunderbar behaupten, dass der Protest vom Ausland ferngesteuert ist und nur den Feinden des Staates nützt.

Das ist Trump im Zweifelsfall egal. Es bringt Punkte im Wahlkampf und lenkt von anderen Themen ab.