“Die große Vertrauenskrise” von Sascha LOBO

Bewertung: 4.5 von 5.

Der Journalist, Publizist und Blogger Sascha LOBO hat sich im letzten Jahrzehnt zunehmend zu einer eigenen Marke entwickelt – einschließlich eines unverwechselbaren und markanten Outfits. Seine Stärke (heute besser “Reichweite”) ist in seiner Fähigkeit begründet, als eine Art “Übersetzer” zwischen zwei Welten und zwei Generationen zu fungieren: Er erklärt in seinen Büchern und TV-Auftritten der 55+-Generation die digitale Welt und schafft es in einem erstaunlichen Ausmaß, von beiden Seiten Kompetenz und Glaubwürdigkeit zugesprochen zu bekommen. Wohl kein anderer Netz-Aktivist konnte sich so weit in den Mainstream vorarbeiten.
Er ist damit einer der aktuell bedeutsamsten intellektuellen Stimmen in unserem Land und hat mit seinen Beiträgen das Potential, gesellschaftliche Gräben überwinden zu helfen.
Damit sind wir schon mitten in der Thematik seines aktuellen Buches (Okt. 23).

Es kommen jeden Monat eine ganze Anzahl von Büchern auf den Markt, die – in mehr oder weniger geistvoller Weise – die krisengeplagte gesellschaftliche Situation zum Thema haben. Die Gegenstände der Analyse sind allen Menschen sattsam bekannt, die halbwegs aufmerksam unsere Medienlandschaft verfolgen: Klimawandel, Corona, Migration, Krieg, Gerechtigkeitslücke, Kulturkämpfe, Bildungsnotstand, KI-Revolution, Demografie, geopolitische Verschiebungen, Rechtspopulismus, usw.
LOBO betrachtet all diese Themen unter einer speziellen Perspektive: Es geht ihm um die Ereignisse, Entscheidungen und Prozesse, die für den Verlust an Vertrauen weiter Teile der Bevölkerung in Parteien, politische/gesellschaftliche Institutionen, Demokratie, Medien, Wissenschaft und Eliten aller Art verantwortlich waren bzw. sind.

Der Autor nimmt sich für diese Analyse viel Zeit, arbeitet seine Argumentationslinien sorgfältig und nachvollziehbar heraus. Eine Grundthese besteht dabei darin, dass es eine Reihe von “alten” Mechanismen von Vertrauensbildung gibt, die angesichts der vernetzten digitalen Informations- und Meinungsbildungsstrukturen ausgedient haben und inzwischen oft kontraproduktiv wirken (z.B. die abgeschirmte Entscheidungsfindung in Expertenkreisen, die dann noch in ungeschickter Weise kommuniziert werden).
Naheliegender Weise bedient sich LOBO zur Unterfütterung seiner Thesen exemplarisch (auch) der Corona-Krise: Sorgfältig und kleinschrittig seziert er die – insbesondere kommunikativen – Fehlleistungen, die zu einem wachsenden Vertrauensschwund geführt haben. Wie auch in anderen Beispielen (und ganzen gesellschaftlichen Systemen) stößt er auf fehlende Transparenz, gehortetes Herrschaftswissen, mangelnde Fehlerkultur und nicht eingehaltene Versprechen.

Dem alten, gescheiterten Vertrauenssystem stellt LOBO ein neues, zeitgemäßes Set an Vertrauensbildungs-Regeln gegenüber, das sich an den Gesetzmäßigkeiten einer weitgehend vernetzten, auf Transparenz, Eigeninitiative und demokratischer Kontrolle basierenden offenen Gesellschaft orientiert. Hier führt er insbesondere Beispiele aus selbstorganisierten Netz-Communities ins Feld, in denen Vertrauen auf der Basis einer aktiv gelebten und interaktiven Medienkompetenz entstehen kann.
Der Autor traut sich sogar, eine Lanze für die oft geschmähte Influencer-Szene zu brechen, die in ihrer Mischung zwischen Selbstdarstellung und privater Authentizität für viele junge Leute neue Vertrauensinseln schafft – nicht zuletzt auf dem so arrogant verachteten TikTok-Account.
Auch der neuen KI-Welt tritt LOBO sehr viel abgewogener entgegen, als das in vielen aktuellen super-kritischen Betrachtungen der Fall ist. Er entwickelt das Konzept eines (ganz sicher nicht naiv gemeinten) “Maschinenvertrauens” und spielt mit dem (klugen) Gedanken, die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz für ihre eigene Kontrolle zu nutzen.

An einigen Punkten macht es sich auch ein Sascha LOBO ein wenig zu leicht: So macht er keinen Versuch, den Widerspruch zwischen dem (auch nach seiner Meinung oft übertriebenen Datenschutz) und dem Schutz vor Überwachung/Kontrolle zu lösen. Er entdeckt keinerlei Konflikt zwischen dem (von ihm sehr unterstützten) Drang der Digital-Generation nach praktisch unbegrenzten und preiswerten Netzzugang (mit allen denkbaren Streaming-Möglichkeiten) und den dafür benötigten Ressourcen. Und in dem (ehrenwerten) Versuch, den Interessen der jungen Generation eine Stimme und Gewicht zu verleihen, verlässt LOBO dann doch ein wenig die Differenzierungslust und er zeichnet ein Bild, in dem Umweltbewusstsein und Transformationsbereitschaft den “Älteren” vermeintlich durchweg fremd ist.
Doch das sind kleine Schönheitsfehler in einem durchweg klugen und anregenden Text, der über die gewohnten Gegenwartsbetrachtungen deutlich hinausweist – und zwar in eine Richtung, die sonst im gesellschaftlichen Diskurs der Grauhaarigen meist zu kurz kommt.

Auch in diesem Buch beruht LOBOs Autorität auf der Selbstverständlichkeit und Souveränität, mit der er sich in der Internet-Community mit all ihren Facetten, kreativen Nebenwelten und technischen Innovationen bewegt. LOBO schreibt über eine reale Welt, die sich für die (älteren) “Normalos” wie eine mittelferne Zukunftsprognose anhört. Genau das macht seine Sichtweise und seine Erfahrungen so wertvoll.
Dass er am Ende das Prinzip der Ambiguitätstoleranz in den Fokus holt und dazu aufruft, sich von dem Positionierungs-Druck bestimmter Aktivistenkreise nicht drangsalieren zu lassen, ist ein weiterer Hinweis auf seine kritische Distanz auch zu politisch nahestehenden Gruppen.
So schafft man Vertrauen!

Ja: Autor und/oder Verlag beherrschen auch das Marketing-Handwerk: Der Begriff “Kompass” im Untertitel ist – angesichts der Verkaufserfolge der “Kompass-Bücher” von Bas KAST) sicher nicht zufällig gewählt. Geschenkt!

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