“Ein wenig Leben” von Hanya YANAGIHARA

Bewertung: 3.5 von 5.

Es ist zweifellos ein bewegendes Buch, das die in Hawaii geborene, multikulturell geprägte Autorin bekannt gemacht hat. Es ist wohl kaum ein Text vorstellbar, in dem das Leid eines seelisch, körperlich und sexuell missbrauchten Kindes und dessen Auswirkungen auf ein gesamtes Leben eindringlicher und umfänglicher dargestellt werden könnte.

Die Autorin ist eine Meisterin der Gefühlsintensitäten. Der schon beim Lesen kaum zu ertragenden Pein des Opfers stellt sie – sozusagen am anderen Ende der Dimension – die schier grenzenlose Güte und Liebe einiger Bezugspersonen gegenüber. Auch hier wählt sie ein Ausmaß, das alltägliche Maßstäbe ganz offensichtlich übersteigt.
Als Lesender, der sich nicht konsequent für eine innere Distanzierung entscheidet, fühlt man sich im Laufe des umfangreichen Textes (740 Seiten oder 32 Std. Hörbuch) in eine geradezu endlose emotionale Achterbahnfahrt versetzt, die den Konsum dieses Buches zu einem durchaus anstrengenden Erlebnis macht.

Neben dem, was Menschen Kindern (und später auch Erwachsenen) antun können, geht es in diesem Buch auch um Freundschaft, aus der auch eine große Liebe werden kann. Es geht auch um Zuwendung und Mitmenschlichkeit, aber auch um Schwäche und tiefste Kränkung und Enttäuschung. Es geht um Lust, um Ästhetik, um Luxus, ums Sex, um Kunst. Es geht um das Leben in all seinen – intensiven – Facetten.

Das alles – und noch viel mehr – materialisiert sich rund um den Protogonisten Jude, der nach seinem häppchenweise aufgedecktem Martyrium im Kreise von drei Freunden seine College-Jahre verbringt und später in einer gut-situierten New Yorker Erwachsenen-Welt landet, in der Kultur, Kunst, Architektur und Intellektualität den Alltag bestimmen.
Unter dieser fast perfekten Fassade lauert aber das Grauen, das Jude in Form von körperlichen Beeinträchtigungen und Schmerzen als lebenslange Hypothek mit sich schleppt.

Zu den größten Stärken dieses eindringlichen Romans gehört sicherlich die differenzierte und einfühlsame Beschreibung der psychischen Auswirkungen der frühen Misshandlungen. Jude ist nicht nur körperlich für alle Zeiten gezeichnet, er ist auch emotional gebrochen. Sein Selbstbild ist so stark zerstört, der Selbstzweifel und Selbsthass ist so grenzenlos, dass Jude nur der Ausweg in massivste Selbstversetzungen bleibt.
Seine Scham ist so groß, dass er sich selbst seinen engsten Freunde jahrzehntelang nicht anvertrauen kann – und daher Täuschung und Unverständnis diese Beziehungen belasten.
Diesem kaum vorstellbaren Leid stehen einige Beziehungs- und Unterstützungsangebote gegenüber, die zwar zwischenzeitlich Halt geben, angesichts der Schwere der Verletzungen aber immer wieder ins Leere laufen. Gleichzeitig wird (auf brutalste Weise) deutlich, dass Jude für toxische Beziehungsmuster immer noch anfällig ist.

Kein fühlender Mensch wird alldem emotional unbeteiligt gegenüberstehen. Und doch ist es legitim, ein paar distanziert-analytische Anmerkungen zu machen.
Wie schon gesagt: YANAGIHARA beherrscht die Intensitäten. Aber – so kann man sich fragen – muss so ein Buch in diesem Ausmaß die Extrempole bedienen? Muss es (fast) immerzu um unerträgliches Leid, grenzenlose Güte, die größte denkbare Liebe, die schönsten vorstellbaren Häuser, die größten beruflichen Erfolge, die tiefste Trauer gehen?
Als Leser/in könnte einem zwischendurch das Gefühl befallen, dass kaum noch Steigerungsmöglichkeiten bestehen – aber die Autorin versucht (und schafft) es trotzdem.
Es ist wirklich von allem extrem viel! Intensität auf der permanenten Überholspur!

Dieses Buch lässt niemanden unberührt. Das ist zweifellos eine hohes Qualitätsmerkmal für ein literarisches Werk. Wer sich selbst (als mitfühlendes Wesen) spüren möchte, ist mit diesem Buch ganz sicher auf dem richtigen Weg.


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