“Wellness” von Nathan HILL

Bewertung: 5 von 5.

Sollte Ich das Buch des Jahres 2024 tatsächlich schon im Februar gelesen haben?
Im Moment würde ich darauf wetten!

Der Autor lässt uns am Schicksal zweier Menschen teilhaben, die sich – aus guten Gründen – inhaltlich und räumlich von ihren Herkunftsfamilien losgesagt haben und sich zufällig in der Kulturszene von Chicago begegnen. Jack ist Kunststudent und Fotograf; Elisabeth studiert alles rund um die Psychologie des Menschen.
Wir erleben in mehreren Zeitsprüngen, wie aus der Begegnung zweier Seelen-Verwandter ein desillusioniertes Durchschnitts-Paar wird, das letztlich an sich selbst zu scheitern droht.

HILL ist aber nicht nur an der Beziehungsdynamik der beiden Protogonisten interessiert. Er nutzt das Alltagsleben der Kleinfamilie (Jack und Elisabeth bekommen einen Sohn), um einen bunten Strauß von kleinen und großen Absurditäten des amerikanischen Mittelschicht-Lebens vorzuführen: die Exzesse einer kindzentrierten Erziehung, die Abgründe psychologischer Manipulation, die geheime Verführung durch die Social-Media-Algorithmen, die Ausgrenzungs-Mechanismen einer “besseren” Gesellschaft, die Abzocker-Methoden windiger Investment-Modelle usw.

Besonderes Lesevergnügen verbreitet HILL durch seine kreative und expressive Sprache: Der Autor entlädt immer wieder ganze Kaskaden von Begrifflichkeiten und kreativen Formulierungen. Wo andere ein oder zwei Adjektive benutzen würden, setzt der sieben oder acht ein. Seine Aufzählungen wachsen zu Satzungetümen heran, die sich gelegentlich über ganze Seiten erstrecken. Da ist viel Dynamik, die inhaltlichen Verrücktheiten der amerikanischen Gesellschaft spiegeln sich auch in HILLs extremen Sprachmustern.

Doch der Roman bietet kein plattes Amüsement: Hinter den humoristisch überzeichneten Trends stehen reale Entwicklungen, auf die der Autor mit treffender und beißender Akribie aufmerksam macht.
Während die abstrakte Terminologie der moderne Kunstszene eher persifliert wird, findet im Bereich der psychologischen Forschung durchaus auch inhaltliche Aufklärung statt. So versteckt sich hinter dem Buchtitel (“Wellness”) eine – wiederum exzessive – Anwendung des Placebo-Effektes. So mutiert der Roman stellenweise fast zu einem psychologischen Fachbuch, dem sogar Untersuchungen zitiert werden.

Der Autor ist nicht nur ein wacher Beobachter gesellschaftlicher Auswüchse und Verrücktheiten, sondern hat auch großen Respekt vor den Prägungen und Verletzungen, die Menschen in ihren Herkunftsfamilien erfahren. Für beide Protagonisten wird das in entsprechenden Rückblenden nachvollziehbar hergeleitet.

Der Autor ist zwar ein Meister im Entlarven von Abstrusitäten des American Way of Live (dem wir ja traditionell in weiten Teilen nacheifern), er ist jedoch alles andere als ein kalter, distanzierter Zyniker. Obwohl Hill bei seinen Analysen auch gerne in Klischees schwelgt, ist doch immer wieder der Menschenfreund zu spüren, dem die Ursachen und Hintergründe für menschliche Schwächen nicht fremd sind.
Vielleicht bleibt sogar für Jack und Elisabeth am Ende noch ein Hoffnungsschimmer?

Nathan HILL hat einen modernen, unterhaltsamen, intelligenten, nachdenklichen, anrührenden und extrem amüsanten Roman geschrieben – über eine Ehe, über die Folgen von biografischem Ballast und über unsere überdrehte, in Teilen auch abgedrehte Gegenwartskultur.
Mehr kann man von einem Buch nicht verlangen!

Und doch eine kleine Warnung, was das Lesevergnügen trüben könnte: Es gibt sicher Leser/innen, die mit dem ganzen modernen Kram (Social Media, Helikopter-Erziehung, Polyamorie, zeitgenössische Kunst, psychologische Finessen) so gar nichts am Hut haben. Oder die eher eine seriöse, traditionelle Sprache vorziehen.
Für diese gäbe es vielleicht doch eine bessere Wahl.

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