“Die große Angst” von Roland PAULSEN

Bewertung: 3.5 von 5.

Dieses Buch stellt Leser/innen und Rezensenten (auch hier sind die weiblichen mitgemeint) vor gewisse Herausforderungen. Das hat nichts damit zu tun, dass dieses Sachbuch unverständlich geschrieben wäre. Es entzieht sich ein wenig den gängigen Kategorien.
PAULSEN, von Haus aus Soziologe, holt weit aus und bedient sich auch der Nachbardisziplinen: Er greift auf psychologische, psychiatrische, philosophische und politische Erkenntnisse zurück – und relativiert diese manchmal in einem erstaunlichen Umfang.
Insgesamt ist so eine sehr persönliche Betrachtung entstanden, fast so etwas wie ein (sehr umfangreicher) Essay, in dem eine recht eigenwillige Meinung sehr engagiert vertreten wird. Der Autor traut sich, einen sehr weiten Bogen zu spannen, um seine Grundthesen zu untermauern und nimmt dabei in Kauf, in vielen Bereichen wissenschaftlichen Mehrheitsmeinungen in die Quere zu kommen.
Hier wird kein Thema zusammenfassend und aus mehreren Perspektiven behandelt. Dieses Buch ist ganz bewusst ein pointierter Diskussionsbeitrag, der eine mögliche Facette des Gegenstands ausleuchtet.
Soweit die Meta-Ebene.

PAULSEN betrachtet die bedeutsamsten psychischen Störungen als eine Art Einheit: Für ihn liegen den Ängsten, den Depressionen und den Zwängen gemeinsame Dynamiken zugrunde. Sein großes Thema ist, dass diese Entstehungs- und Versursachungsfaktoren viel weniger individuell (und damit innerpsychisch bzw. hirnorganisch) sind – und stattdessen viel stärker gesellschaftlich determiniert werden.

Wir lernen im Laufe des Buches eine Reihe von Personen kennen, die unter Zwängen, Ängsten und/oder Depressionen leiden; ihre gelegentlich skurrilen Symptomatiken werden anschaulich beschrieben. Es geht viel um deren innere Gedankenkreisläufe, um Selbstbetrachtung und Selbstbewertungen. Der Autor will zeigen, dass die Basis dieser leidvollen kognitiven Muster in einem engen Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Grundbedingungen stehen, unter denen wir all heute leben müssen.
Vielleicht ein bisschen konkreter: Auch mithilfe historischer und kultureller Vergleiche macht PAULSEN deutlich, dass wir nicht nur Prozessen der “Überindividualisierung” (mein Begriff), der permanenten (zukunftsbezogenen) Selbstreflexion und der naturfernen künstlichen Zeit-Taktung ausgeliefert sind, sondern dass sich als hervorstechendste Merkmal der Moderne eine geradezu pathologische Risikofurcht und Risikovermeidung ausgebildet hat.
Der Autor ist überzeugt davon, dass der der verzweifelte innere Kampf um Sicherheit und Kontrolle nicht nur aussichtslos ist, sondern die Nichtakzeptanz von (kleinen und großen) unvermeidlichen Lebensrisken uns erst wirklich krank macht. Dass wir bei der realistischen Einschätzung von Risiken auch noch grandios scheitern, macht die Sache nicht einfacher.

Gibt es eine Lösung?
PAULSEN plädiert für Gelassenheit und Akzeptanz. Statt wie das berühmte Kaninchen auf auf die überall lauernden Risiken zu starren, sollten wir uns lieber mutig auf die Ziele hinbewegen, die uns erstrebenswert erscheinen; nicht nur als Individuen, sondern auch als Gesellschaft. Eine Aussicht auf Seelenfrieden, Glück und Erfolg gibt es nicht; die Fixierung auf Gefahren lähmt uns und macht uns handlungsunfähig.

Dass der Autor der klassischen Psychiatrie mit ihren Psychopharmaka, der Psychoanalyse, der kognitiven Verhaltenstherapie und der Hirnforschung ihre Erklärungs- und Therapiemodelle streitig macht, wird ihm sicherlich wenig Freunde einbringen.
Die Konsequenz, mit der er alle anderen wissenschaftlichen Zugänge zu den beschriebenen psychischen Störungen relativiert, hat sicher etwas bewusst Provokatives.
Er wird über Gegenwind nicht überrascht sein.

PAULSENs Perspektiven sind erhellend und anregend; einen in sich schlüssigen und überzeugenden Gegenentwurf hat er aber letztlich nicht zu bieten.
Empfehlen kann ich dieses Buch für Menschen, die sich mit psychischen Störungsbildern schon ein wenig auskennen und sich daran erfreuen können, mal eine erfrischend andere (soziologische) Sichtweise auf sich wirken zu lassen.
Als Einführung in das Thema Angst (bzw. Zwang/Depression) ist der Text ganz sicher nicht geeignet.

“Noise” von Daniel KAHNEMANN u.a.

Bewertung: 3 von 5.

Das Wichtigste vorweg: “Noise” ist keine Aktualisierung, Vertiefung oder Fortsetzung des – inzwischen als Klassiker bewerteten – Welterfolgs (über die zwei grundsätzlich verschiedenen Denkmuster). Die aktuelle Veröffentlichung KAHNEMANNS (die Mit-Autoren sind jeweils auch gemeint) richtet sich an ein spezielleres Publikum: Es werden gezielt Entscheider aus Wirtschaft, Verwaltung und Justiz angesprochen; es geht weniger um die Erkundung allgemeiner psychologischer Grundprozesse, sondern um die reale und konkrete Verbesserung von Urteilen und Entscheidungen.
Das große Ziel dieses Buches liegt darin, bestimmte Sorten von Fehlern zu erkennen und zu eliminieren – Fehler, die zu wirtschaftlichen Verlusten, Ungerechtigkeiten oder zu sonstigen (z.B. gesundheitlichen) Nachteilen führen.
Der Praxisbezug dieser Abhandlung macht sich schon an der Auswahl der Bereiche fest, die einer näheren Analyse unterzogen werden: es geht um die Festlegung angemessener Versicherungspolicen, um die (skandalöse) Uneinheitlichkeit von Gerichtsurteilen, um Personalauswahl, um die Bewertung von Unternehmen oder Produktplänen und um Beurteilungen von Leistungen auf verschiedenen Gebieten.

Dieses Buch – und das ist sicher KAHNEMANN-typisch – geht extrem strukturiert und didaktisch vor. Es beginnt also damit, unterschiedliche Fehlertypen zu differenzieren bzw. zu definieren. Die wichtigste Weichenstellung wird zwischen den BIAS- und NOISE-Fehlern vorgenommen: Während ein Bias durch eine systematische Urteils- oder Entscheidungsverzerrung (z.B. durch stabile Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen) zustande kommt, entsteht Noise durch Zufallsabweichungen (die natürlich im Laufe des Buches noch genauer analysiert und kategorisiert werden).
Ein Hauptanliegen der Autoren liegt darin, nicht nur das (erstaunlich große) Problem des Noise (also der Zufallsfehler) zu benennen, sondern sich auch mit der (ebenfalls bemerkenswerten) Tendenz zu befassen, die Existenz bzw. Bedeutung dieser Fehler zu übersehen, zu leugnen oder herunterzuspielen. Das hat offensichtlich auch eine Menge psychologischer Gründe: Vorgesetzte und Experten überschätzen die Güte Ihrer Urteilskraft und empfinden oft Entwicklungen in Richtung “Objektivität und Standardisierung” als eine Art Selbstwertbedrohung.
Im letzten Teil des Buches konzentriert sich das Autoren-Team dann tatsächlich ganz auf die systematische Bekämpfung von Noise in Unternehmen und Verwaltungen und schlägt dazu auch standardisierte Verfahren vor. In diesem Zusammenhang spielen besonders Regeln und Algorithmen eine Rolle, die als Gegengewicht zu subjektiven und intuitiven Entscheidungsmustern eingebracht werden.
(Die Vermutung, dass solche Beratungsangebote auch gutes Geld einbringen, ist sicher nicht weit hergeholt).

Als Leser/in dieses Buches braucht man sich keine Sorgen zu machen, unterwegs den Anschluss zu verlieren. Das ist die freundliche Formulierung. Man könnte auch sagen: Es wäre hilfreich, eine hohe Redundanz-Immunität zu besitzen!
Nach einigen Stunden, kann man bestimmte Begriffe oder Formulieren tatsächlich kaum noch hören (ich konsumierte Noise per Audio). Dieses Buch ist ein Beispiel dafür, dass amerikanische Sach- bzw. Fachbücher oft sehr gut verständlich geschrieben sind, dies aber häufig einen recht hohen Preis hat: Wiederholungen bis zum Gehtnichtmehr.

Bei der Gesamtbewertung kann die Nutzergruppe nicht außen vor bleiben:
Für Entscheider/innen und ihre Berater/innen könnte sich Noise zu einem Standardwerk der angewandten Wirtschaftspsychologie entwickeln. Die zahlreichen Praxisbeispiele stellen eine Fundgrube für diejenigen dar, die Abläufe standardisieren und den Output weniger anfällig für subjektive Ausreißer machen wollen. Vermutlich wird die “Noise-Reduzierung” schnell zu einem festen Bestandteil von Unternehmensberatung werden.
Spannend wird in dem Zusammenhang sein, ob auch die – durchaus vorhandenen – Warnhinweise hinsichtlich möglicher ungewünschter Effekte einer “Noise-Vernichtungs-Kultur” berücksichtigt werden.
Für den interessierten Laien, der auf den Spuren des Vorgängerwerkes weiterwandeln möchte, ist Noise nur sehr bedingt zu empfehlen. Es geht einfach zu sehr in Details, die man außerhalb der beschriebenen Systeme nicht wirklich braucht. In diesem Fall reicht es völlig aus, sich mit dem Grundgedanken des Buches vertraut zu machen (vielleicht in einer etwas inhaltsreicheren Rezension als dieser).

Meine Konsequenz: Ich lese gerade mit großem Vergnügen “Schnelles Denken, Langsames Denken”! (Das hätte ich gleich tun sollen).

“Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen” von John GREEN

Bewertung: 4 von 5.

John GREEN ist ein sensibler Mensch, der bereits in seiner Kindheit mit Krankheit und Leid konfrontiert war. Sicher haben auch die Erfahrungen, die er als studentischer Seelsorger in einem Kinderkrankenhaus gemacht hat, dazu beigetragen, dass er einen sehr emotionalen Zugang zur Welt hat. Seine bisherigen Bücher waren insbesondere bei jungen Lesern/Leserinnen außerordentlich erfolgreich.

Der Autor setzt seine Kompetenzen – eine scharfe Beobachtungsgabe, ein feines Gefühl für die “kleinen Wunder” des Alltagslebens und eine sehr gefühlvolle und direkte Sprache – diesmal für eine Art persönliche Zwischenbilanz seines Lebens ein.
Er macht sich das internet-typische 5-Sterne-Bewertungssystem zu eigen, um ein breites Spektrum von Phänomenen zu bewerten, die nur eine Gemeinsamkeit haben: Sie waren zu irgendeinem Zeitpunkt so bedeutsam für den Autor, dass er sie auch aktuell noch als einen Teil seiner Lebensgeschichte und meist auch seiner Identität betrachtet.
In diesem bunten Strauß von Themen finden sich Ereignisse, Gegenstände, Orte, Traditionen, Musikstücke, usw.

Natürlich enthalten die vielen kurzen Geschichten außer ihrem spezifischen Inhalt immer auch eine Portion der grundsätzlichen Botschaften, für die GREEN geschätzt und verehrt wird. Es geht immer irgendwie um zutiefst emotionale Facetten, die etwas mit intensivem Erleben, mit Empathie, mit Begeisterung, Leid oder Absurditäten zu tun haben.

Der Autor ist ein wahrer Menschenfreund und reflektiert gerne und viel über die den Platz, die Aufgabe und den Sinn des Menschen in diesem unendlichen Kosmos. Dabei ist er angenehm bescheiden und motiviert durch seine Betrachtungen auch seine Leser/innen dazu, eine Sensibilität für die Schätze des Alltags zu entwickeln.
Doch er redet die Welt und das Leben auch nicht schön: Der Realität von Leid und Sinnlosigkeit weicht er nicht aus – und findet doch immer wieder Zuversicht und Lebensmut.
Wir sind zwar – kosmisch betrachtet – nur kurzlebige Staubkörner, aber unsere Empfindungsfähigkeit macht uns doch zu etwas Besonderem.
Seine Empfindungsfähigkeit macht John GREEN zu einem lesenswerten Schriftsteller!

“Der Astronaut” von Andy WEIR

Bewertung: 4.5 von 5.

Nein, es handelt sich nicht um eine Fortsetzung des Marsianers! Der Astronaut ist eine ganz neue, selbstständige Geschichte. Aber die Fans des Marsianers werden sie lieben! Und um die Filmrechte wird vermutlich schon gepokert…

Diesmal bleibt der Held der Geschichte nicht allein auf einem Planeten unseres Sonnensystems zurück; die Dimensionen sind hier ganz andere.
Der Astronaut, den WEIR uns diesmal als Identifikationsfigur anbietet, befindet sich räumlich, zeitlich und technologisch ziemlich weit entfernt. Doch das betrifft nur seine Mission, nicht den sozialen und kulturellen Hintergrund hier auf der Erde. Der Roman wird so geschrieben, als ob er in wenigen Jahren in unserer bekannten Welt stattfinden könnte: Die Muster kulturellen des privaten Zusammenlebens, der wissenschaftlichen Kooperation und der politischen Systeme erscheinen vom Prinzip her vertraut.
Das hat den Vorteil, dass die Leser/innen sich ganz auf die Ereignisse im Weltall konzentrieren können.

Wir entschlüsseln die Ausgangssituation des Protagonisten schrittweise, sozusagen in Echtzeit zusammen mit dem Ich-Erzähler. Das liegt daran, dass der Wissenschaftler und Lehrer sich selbst erst nach und nach sein Gedächtnis zurückerkämpft und sich dann zu sich und der Welt orientieren kann.
So lernen wir auch die Hintergründe dieser besonderen Mission und die sehr ungewöhnliche Rolle des Astronauten in dieser für das Weiterbestehen der Menschheit entscheidenden Reise kennen.
Gut gemacht!

Neben der Rettung der Welt (ein eher vertrautes Thema) steht aber noch die Begegnung mit einem Alien auf dem Stundenplan; diese interplenare Interaktion bildet den Kern dieses Science-Fiktion-Abenteuers.
Hier verbietet sich – natürlich – jede Spur von Spoilen.
Nur so viel: Es ist ein Lese- (bzw. Hör-)Vergnügen!

Der einzige für mich vorstellbare Kritikpunkt an diesem meisterlichen Unterhaltungsangebot wäre eine Abneigung gegen zu viel Wissenschaft. Wer nur auf das Fortschreiten des Plots (der mit spannenden Wendungen nicht geizt) wartet und sich auf die soziale und emotionale Beziehungsgestaltung zwischen den Welten fixiert, den wird die ein oder andere Detailbeschreibung von physikalischen bzw. biologischen Problemen und deren (immer wieder erstaunlich kreativen) Lösungen möglicherweise überfordern (oder langweilen).
Doch das ist ein eher abwegiger Gedanke! Es ist eher zu vermuten, dass die WEIR-Fans genau auf diese Mischung der Zutaten scharf sind.

Bei diesem Buch kann man getrost dem Gefühl folgen, dass von dem Vorgänger-Werk ausging: Man vertraut einfach auf den guten Namen und genießt einige Stunden beste Unterhaltung für Hirn und Herz.
Und vielleicht ist am Ende dann doch alles anders als erwartet…

“Das Werden des Menschen und Coronas Beitrag” von Gernot BERNHOFER

Bewertung: 3 von 5.

Der österreichische “Berater und Gesprächsmentor” hat in diesem Buch seine Lebensweisheiten zusammengetragen und bietet sie mit der Hoffnung bzw. Erwartung an, dass sie auch den geneigten Leser/innen nützen können.
Das schauen wir uns hier etwas genauer an.

Das vorgelegte handliche Werk ist kein Sachbuch im engeren Sinne. Der Blick auf die großen Fragen des Lebens wird ganz überwiegend aus einer persönlichen Perspektive vorgenommen. Zwar bezieht sich BERNHOFER immer wieder auf (wissenschaftliche) Befunde bzw. Erkenntnisse und zitiert einige namhafte Autoren (z.B. Erich FROMM oder Markus GABRIEL), sein roter Faden entsteht aber durch seinen individuellen – manchmal recht assoziativen – Gedankengang.
Im Zentrum des Buches stehen somit eher Überzeugungen (die dann unterfüttert werden) als die Darstellung einer Sachlage (aus der dann persönliche Schlussfolgerungen abgeleitet werden).

Worin besteht nun das Welt- und Menschenbild des Gernot BERNHOFER? Als Antwort versuche ich einmal, den – aus Sicht des Autors – “perfekten” Leser (ich meine beide Geschlechter) zu skizzieren – also eine Person, die alle Anregungen und Ratschläge dieses Buches vollständig beherzigen würde:
Dies wäre ein Mensch, der seine wahren (inneren) Prioritäten (Bedürfnisse und Ziele) erkannt hat, der diese optimistisch, mutig, risikobereit und eigenverantwortlich angeht und dabei mehr seinem Bauchgefühl als gesellschaftlichen Normen oder vorgegebenen Leitlinien traut. Die Liebe (das Sein) würde im Leben eine größere Rolle spielen als materieller Konsum (das Haben), inneres Gleichgewicht und Gelassenheit wären erstrebenswerter als ein gieriges Streben nach “Mehr”, Neugier, Unabhängigkeit und Offenheit würden gegenüber ängstlichem Festhalten bis zum Lebensende dominieren.

An dieser Stelle holen wir die Corona-Szenerie ins Spiel (die es ja sogar in den Buchtitel geschafft hat): Die skizzierte Person würde sich nicht durch Ängste lähmen lassen, sondern in dieser Krise reifen, da sie die innewohnende Chance zum Innehalten, zum Infragestellen und zur Neuausrichtung nutzen könnte.
Der Corona-Erfahrung könnte so – um den Autor zu zitieren – “das Sprungbrett zu einem globalen Bewusstseinssprung” darstellen. Allerdings zweifelt er bereits zum Zeitpunkt der Manuskripterstellung (2020) daran, ob die Corona-Schockwellen wirklich stark und nachhaltig genug sein werden.

BERNHOFER betrachtet den Menschen keineswegs als isoliertes Individuum, sondern als sozial eingebundenes Wesen. In Bezug auf die gesellschaftliche Situation tut sich da ein gewisser Widerspruch auf: Er weist einerseits auf die Gefahren eines überbordenden Sozialstaates hin (schädigt angeblich die Eigenverantwortlichkeit), plädiert später im Buch aber für ein bedingungsloses Grundeinkommen.
Der Autor wünscht sich ganz sicher nicht die Abschaffung des Kapitalismus, wohl aber kritische Verbraucher, die mit ihren Konsumentscheidungen zu einer nachhaltigen und gerechten Welt beitragen können.

Kommen wir zu einer zusammenfassenden Beurteilung:
Die dargebotenen Inhalte und Meinungen sind überwiegend nachvollziehbar und sympathisch; den meisten Zielen und Methoden kann man recht spontan zustimmen. Man kann sich gut vorstellen, in der skizzierten “Idealwelt” (meine Formulierung) mit den Menschen, die das alles beherzigen, gut zurechtzukommen.
Ein wenig schwierig empfinde ich die Fülle und die oft eher zufällig wirkende Verknüpfung der angesprochenen Themen. Im Laufe des Buches verstärkt sich der Eindruck, dass der Autor wirklich alles, was ihm jemals bedeutsam erschien, unbedingt in diesem Text unterbringen wollte.
Das führt dann dazu, dass BERNHOFER z.B. mal eben zwischendurch auch sie Sache mit der “Willensfreiheit”, dem “Glauben” und der “Moral” klärt (und sich dabei doch ein wenig verhebt). Ein bisschen zu selbstgewiss sind – für meinen Geschmack – manche seiner “Wahrheiten” und Urteile. Man spürt, dass sich hier ein Mensch äußert, der nicht gerade an einem schwachen Selbstbewusstsein leidet.

Sein Ziel ist es, dass auch möglichst viele andere Sinn und Kraft aus der eigenen Persönlichkeit zu schöpfen lernen. Ich bin nicht ganz sicher, ob ihm im vollen Umfang bewusst ist, dass dazu (je nach persönlichen Ressourcen und individueller Biografie) mehr notwendig ist als Anregungen und Apelle in einem Buch (und das Vorbild eines Autors, der es offensichtlich geschafft hat).

Letztlich kommt es auf den angelegten Maßstab an:
Für mich stellt dieses Buch durchaus einen gelungenen und anregenden Versuch dar, die eigenen Erfahrungen und Gedanken aus dem privaten Bereich hinaus einem größeren Publikum zu präsentieren. Grundlage dafür ist ohne Zweifel ein wacher, neugieriger und belesener Geist, zusätzlich auch ein gewisses missionarisches Anliegen (das keineswegs unsympathisch oder eifernd rüberkommt).
Für ein klassisches Sachbuch oder einen Selbsthilfe-Ratgeber wäre mir der Stil etwas zu persönlich und selbstüberzeugt.



“Roboterland” von Jenny KLEEMAN

Bewertung: 5 von 5.

Die englische Journalistin KLEEMAN befasst sich auf eine besondere Art mit unserer gesellschaftlichen Zukunft. Statt ein breites Spektrum von Trends zu analysieren (wie das z.B. HARARI in seinem letzten Buch tut) oder sich ganz dem dominanten Klimathema zu widmen (wie das fast alle irgendwann tun), betrachtet sie vier Bereiche sehr ausführlich:
– maschinelle Liebespartner (mit und ohne KI-Innenleben)
– die Erzeugung von Fleisch aus Zellkulturen
– Schwangerschaften außerhalb des mütterlichen Körpers
– Selbsttötungs-Apparate
Da sie den jeweiligen Kapiteln jeweils ca. 100 Seiten widmet, könnte man ohne große Übertreibung sagen, dass man hier gleich vier Bücher auf einmal bekommt. Aber natürlich geht es der Autorin auch um das Gemeinsame, um den gesellschaftlichen und moralischen Überbau. So interessant die vier Einzelkapitel auch sein mögen: Die gewählten Themen stehen ganz allgemein für eine bestimmte Haltung gegenüber all den Entwicklungen, die hauptsächlich aus einem Grund auf uns zukommen werden, weil sie machbar sind.

Wer das erste lange Kapitel (über Sexpuppen) zu lesen beginnt, kann sich vielleicht noch nicht so recht vorstellen, wie man sich 100 Seiten lang über so eine “abgedrehte” Facette der Zukunftstechnologie beschäftigen kann. Am Ende weiß man, dass das sehr gut geht:
KLEEMAN bietet nämlich Sachbuch-Journalismus auf höchstem Niveau!
Die Autorin ist nicht nur sehr neugierig und beobachtet mit scharfen Blick – sie analysiert auch mit einem wachen und kritischen Verstand. Sie beschreibt nicht einfach Produkte oder Technologien, sondern sie besucht und befragt die konkreten Menschen, die dahinter stehen (als Entwickler und Verkäufer) und schildert den Kontext, in dem ihre Ideen entstanden sind bzw. umgesetzt werden.
Was KLEEMAN auf diesem Wege ans Tageslicht bringt, unterscheidet sich diametral von vielen anderen, mehr oder weniger unkritischen, staunenden oder pauschal ablehnenden Schilderungen technischer Innovationen. Immer wieder gelingt es ihr, durch ihre hartnäckig aufsuchende Recherche Marketing-Märchen zu entlarven und Sensations-Meldungen zu entzaubern.
Diese Form von Aufklärung durch den Blick hinter die Kulissen ist extrem informativ und wahrlich vorbildlich!

Da die Autorin die Leser/innen an ihren Erkundungsreisen hautnah teilnehmen lässt, wird es nie langweilig. Es geht ja nicht nur um die Inhalte, sondern auch um den Prozess journalistischer Arbeit. KLEEMAN ist dabei als Person auch mit ihren Werthaltungen spürbar – aber nicht mit dem pädagogischen Zeigefinger oder dem ideologischen Holzhammer. Sie nimmt immer mal wieder in kurzen zusammenfassenden Abschnitten Stellung; man weiß, wo sie steht. An keiner Stelle entsteht der Eindruck, als sei das ganze Buch nur geschrieben worden, um vorgefasste Meinungen zu bestätigen.

Es werden nicht nur eine Unmenge Detailinformationen über die vier Bereiche angeboten; es werden auch Verbindungen und Zusammenhänge deutlich. So etwas bekäme man durch eine eigene Internet-Recherche niemals hin.
Manchmal staunt man auch einfach: Ich wusste schon ein wenig über Sexpuppen und Laborfleisch-Erzeugung; Brutbeutel für Embryos und diverse Selbsttötungs-Automaten waren mir noch ziemlich fremd.

Im (kurzen) Schlusskapitel stellt die Autorin entscheidenden politischen und gesellschaftlichen Grundsatzbetrachtungen an. Sie bezweifelt sehr nachvollziehbar, dass die eingeschlagenen technologischen Pfade auf die “richtige” Antwort bzgl. der jeweiligen Herausforderungen weisen. KLEEMAN ist überzeugt, dass es eher um soziale Fragen, ethische Haltungen und grundsätzliche Menschen- bzw. Weltbilder gehen muss (Stichwort “Machbarkeitswahn”).
Sie vermutet hinter den (vermeintlich) wertfreien Innovationen durchaus handfeste (politische und wirtschaftliche) Interessen. Sicher nicht zufällig hat die Autorin zwei Themen gewählt, die speziell die zukünftige Rolle der Frau und die damit vielleicht verbundenen männlichen Machtfantasien fokussieren.

Für mich steht dieses extrem informative und anregende Buch ganz oben in der Hitliste der Sachbücher des Jahres 2021. Wenn mir die gleiche Autorin demnächst vier weitere Bereiche näherbringen wollte, würde ich sofort zugreifen.



“Fair gehandelt” von Elisabeth CURRID-HALKETT

Bewertung: 3 von 5.

Die Soziologie-Professorin legt eine Analyse vor, die sich dem Zusammenhang zwischen Konsumentscheidungen bestimmter sozialer Schichten und der Entwicklung des gesellschaftlichen Zusammenhalts widmet. Ihre Kernthese – auf die gleich noch eingegangen wird – unterfüttert sie mit einer nicht enden wollenden Flut an statistischen Daten, die ausschließlich die Situation in den USA beschreiben.
Sie – und wohl auch der Verlag – gehen davon aus, dass die Erkenntnisse und Schlussfolgerungen auch für vergleichbare Nationen Gültigkeit haben oder doch zumindest von Interesse sind.

Grundlage für die Betrachtung ist zunächst ein historischer Blick auf die Veränderungen der Konsumgewohnheiten “aufstrebenden” bzw. besonders wohlhabenden Schichten.
Verkürzt führt das zu der Feststellung, dass die Eliten sich früher in erster Linie durch ihren “demonstrativen Konsum” von den ärmeren Sozialschichten unterschieden haben. Wobei – und das ist wichtig – dieser Konsum von (aus damaliger Sicht) Luxusgütern auch den Zweck hatte, den eigenen (höheren) Status und die Gruppenzugehörigkeit gut sichtbar zu markieren.
Zwei Entwicklungen haben diese Situation verändert: Einmal wurden hochwertige Konsumgüter aufgrund der Massenproduktion auch für Normalbürger verfügbar (und taugten so nicht mehr zur Abgrenzung), zum anderen setzte bei den Trendsettern ein Wertewandel ein, der das Individuelle, das Ausgefallene, das Natürliche und das Nachhaltige stärker in den Fokus nahm als den puren materiellen Wert.
Diese neuen Kriterien waren auch mit einer Umgewichtung der Bedeutung von materiellen Besitztümern (eleganten Autos und edlen Uhren) hin zu einer bewussten, gesunden Lebensführung, zu kulturellen Events mit Erlebnischarakter und einer starken Betonung von möglichst guter Bildung für die eigenen Kinder verbunden. Genannt wird das alles “unauffälliger Geltungskonsum”.

CURRID-HALKETT meint nun, mit diesem Buch entlarvt zu haben, dass diese modernen Normen und Werte der Besserverdienenden zwar einen fortschrittlichen Anstrich hätten, aber dies nur ihren “wahren” Charakter überdecken bzw. verschleiern würde.
Der bestände nämlich darin, dass dieser Lebensstil eben doch auf massiven ökonomischen Privilegien beruhe und damit auch statusbezogen sei. Statt dies zu erkennen, würden die Eliten ihr Verhalten moralisch überhöhen und damit die “anderen” noch dem Vorwurf des “schlechteren bzw. falschen” Lebens aussetzen. Zusätzlich erkennt die Autorin eine besondere “Heimtücke” (meine Formulierung) darin, dass sich die privilegierte Klasse genau auf die Aspekte konzentriere, die für die Weitergabe der eigenen Vorteile auf die nächste Genration entscheidend sei (z.B. eben Bildungsinvestionen).

Das klingt ja alles irgendwie klug. Viele Beobachtungen über den Wertwandel der “Neuen Mittelklasse” und die Bedeutung von “Singularitäten” überschneiden sich mit den Analysen populärer deutscher Soziologen (z.B. RECKWITZ und ROSA).
Es gibt aber aus meiner Sicht einige Aspekte, die den Wert der Aussagen in dem vorgelegten Buches zumindest einschränken:
– Wenn auch die Grundthesen vielleicht länderübergreifend Sinn machen – ein Großteil der (sehr detaillierten) statistischen Daten tun es ganz eindeutig nicht. In Deutschland ist es wohl für die meisten Leser/innen nicht so besonders interessant, in welchen US-Städten die Dichte an Stillgruppen und Maniküre-Studios besonders hoch ist.
– Die Autorin ist in der Definition der von ihr betrachteten Gruppe nicht konsistent: Mal geht geht es ihr um die “aufstrebenden Schichten”, mal ist dann plötzlich die echte Oberschicht (nicht die Superreichen) gemeint. Das geht ein bisschen doll durcheinander.
– Viele Aussagen mögen für die amerikanischen sozialen Verhältnisse stimmen. Die bundesdeutsche “Neue Mittelschicht” mit ihrer grün-liberal-weltoffenen Orientierung ist ganz sicher nicht vergleichbar mit der “Schikimicki-Elite”, die ihre Kinder unter massivem Kapitaleinsatz in die US-Elite-Universitäten drückt.
– Nicht ganz einig wird sich die Professorin, ob die betrachtete neue Elite nun den eigenen Status ganz bewusst markieren (und damit die anderen ausgrenzen) will, oder ob das nur als Kollateralschaden passiert.

Weitgehend schuldig bleibt die Autorin die Antwort, was denn die Alternative für die Menschen sein soll, die jetzt erkennen, dass ihr Lebensstil und Konsum zwar im Prinzip nachhaltig, gesund und menschenfreundlich sind, dies aber die Spaltung der Gesellschaft eher noch vergrößert. Sollen sie sich stattdessen dumm stellen und wie früher sinnlos protzen?
Der von CURRID-HALKETT angedeutete Weg hin zu einer Gesellschaft mit grundsätzlich anderen Werten (“Entkoppelung von Lebenssinn und Konsum”) kommt auf der Ziellinie etwas sehr plötzlich und wirkt eher aufgesetzt als organisch entwickelt.

Unterm Strich bleibt es ein informatives Buch mit einer Menge Beobachtungen und Denkanstößen, die besonders für solche Leser/innen attraktiv sein werden, die sich auch genauer für die inneramerikanischen Verhältnisse interessieren.




“Schlacht der Identitäten” von Hamed ABDEL-SAMED

Bewertung: 4 von 5.

Wie kann man einem Buch, das sich inhaltlich so engagiert um Verständigung und Ausgleich bemüht, so einen reißerischen Titel und so ein gewaltvolles Cover verpassen? Kaum nachzuvollziehen!

Der aus Ägypten stammende Autor hat ein bewegtes Leben in und zwischen verschiedenen Kulturen hinter sich. Die unerschrockene Art, mit der er sich immer wieder in hochbrisante Diskurse einbringt, hat ihm nicht nur Bekanntheit und Erfolg, sondern auch zahlreiche Anfeindungen und einen permanenten Polizeischutz eingebracht.
Diesmal geht es nicht um die Bekämpfung des politisch-fundamentalistischen Islam – seinem Lebensthema – sondern um den brandaktuellen Streit rund um Rassismus, Diskriminierung und Identitätspolitik.

Hier meldet sich einer zu Wort, der Diskriminierung am eigenen Leib erfahren hat. Er darf also – selbst nach den Maßstäben der strengsten Zensoren (ich weiß nicht, ob es dafür eine weibliche Form gibt) – mitreden. Glück gehabt!
Wobei es natürlich nicht lange dauert, bis ABDEL-SAMAD dieses “Redeverbot” für Nicht-Betroffene beiseite räumt.

Das Grundanliegen, das der Autor in 20 Thesen entfaltet, liegt in der Überwindung von Verboten, Begrenzungen und Zuschreibungen aller Art. Er will weg von den einfachen Schemata “gut vs. böse”, Täter vs. Opfer”, “weiß vs. schwarz”, “Empathie vs. Schuld”, usw.
Um diese Ziele zu erreichen, schlägt ABDEL-SAMAD zwei entgegengesetzte Wege ein: Er erweitert die Perspektive (historisch und geografisch), um sie dann letztlich auf die individuelle Ebene zu zentrieren.

Der Autor macht deutlich, dass die aktuelle Konzentration des Rassismusvorwurfs auf die “weiße Herrenrasse” zu kurz greift. Rassistisch motivierte Diskriminierungen habe es vielmehr zu allen Zeiten und in allen Kulturen gegeben – was keine Rechtfertigung, aber einen wichtige Erkenntnisgewinn darstellen soll. Wenn es auch asiatischen und afrikanischen Rassismus gibt, fällt es vielleicht weniger schwer, die grundsätzlichen psychologischen und gesellschaftlichen Mechanismen zu verstehen.

Überhaupt hält der Autor nichts von festen und pauschalen Zuschreibungen, wendet diese Haltung auch konsequent auf beide Seiten an. Er will es nicht akzeptieren, dass kämpferische “Antirassisten” durch ihre konfrontativen Schuldzuweisung neue Klischees hervorbringen, neue Gräben buddeln.
Du kommt die Individualität ins Spiel: Wenn es das Ziel sein soll (und das soll es nach Überzeugung des Autors), Menschen nicht auf Merkmale und Gruppenzugehörigkeiten zu reduzieren (um sie dann entsprechend abzuwerten oder auszuschließen), dann verbietet es sich schon rein logisch (erst recht taktisch), den Vorwurf des Rassismus über-inflationär zu benutzen und ihn auf Gruppenmerkmal pauschal anzuwenden (“die alten weißen Männer”).

ABEL-SAMAD geht sogar noch einen Schritt weiter: Er wagt es, Verständnis und sogar Empathie auch für die Menschen aufzubringen, die auch nach seiner Definition rassistisches bzw. diskriminierendes Verhalten zeigen: Auch dieses Verhalten hat nämlich eine Geschichte. Nicht nur eine evolutionäre (durch die seit Millionen von Jahren geprägte Tendenz zur Gruppenbildung), sondern auch eine individuelle (aufgrund von biografischen Erfahrungen und Belastungen – beispielsweise in Form von Verlusten und Kränkungen).
Wer aus prinzipiellen Gründen glaubt, das “Verstehen” des Täters bedeutet eine Entsolidarisierung hinsichtlich der Opfer, der/die wird so etwas nicht gerne lesen.

Genau das ist aber die Stärke dieses Buches: Es wurde ganz offensichtlich nicht mit dem Ziel geschrieben, eine bestimmte “Front” in dem Diskurs über Identitätspolitik und Rassismus zu bedienen. Der Autor verzichtet wohl ganz bewusst auf die reflexhafte Zustimmung einer “Seite”. Er unterstützt und frustriert statt dessen beide festgezurrten Positionen.

ABEL-SAMAD findet ein gut lesbares Gleichgewicht zwischen sachlicher Analyse und persönlicher Beteiligung. Es ist ihm kaum zu verdenken, dass er seine eigene Biografie einbringt und mit ihrer Hilfe allzu vordergründige Einwände – er wisse nicht, worüber er spreche – im Keim ersticken will.

Sicher kann man sich darüber streiten, ob man tatsächlich 20 Thesen und ein ganzen Buch braucht, um die eigenen (klugen) Gedanken auszuführen. Das Thema wird sozusagen umrundet und aus verschiedenen Perspektiven betrachtet; Redundanz bleibt dabei nicht aus. Das trifft allerdings auf zahlreichen (immer mehr?) Bücher zu.

Im Vergleich zu anderen Büchern dieses Autors empfinde ich diese Publikation besonders gut gelungen. Es geht hier eindeutig nicht um Provokation, sondern um Brückenbau.
Trotzdem wird er sich auch diesmal bei einigen Eiferern unbeliebt machen.
Bei mir ist der Respekt gewachsen…

“Treue Seelen” von Till RAETHER

Bewertung: 4 von 5.

Ein Ost/West-Roman im Schatten der Tschernobyl-Wolke blickt auf ein Stück deutsche Zeitgeschichte, die sich im Beziehungs-Wirrwarr zwischen zwei Paaren spiegelt. Es geht also um einen “historischen” Beziehungsroman, der sich eng am Leben “ganz normaler” Menschen und ihrem Alltag im Berlin des Jahres 1986 orientiert.
Hier werden keine Helden vorgeführt, auch die ewige große Liebe wird nicht gefunden.

Die vier Hauptpersonen sind “Normalos”; sie eigenen sich kaum als Projektionsfläche für die ganz großen Gefühle oder spektakuläre Lebensentwürfe. Es geht um die Suche nach dem kleinen Glück, um Hoffnungen, um Enttäuschungen und um biografische Hypotheken, die in die Gegenwart hineinreichen.
Keiner der Protagonisten weiß wirklich, wie Leben funktioniert; es sind keine perfekten Lösungen in Sicht.

Privates wird in einen Kontext gestellt, der inzwischen sehr fremd geworden ist. Seit der Existenz der beiden Deutschen Staaten ist nicht einfach nur Zeit vergangen. Mit der DDR ist eine Ära untergegangen, die in diesem Berlin-Panorama noch einmal zum Leben erweckt wird. Dabei spielt die Politik nicht die Hauptrolle – sie nistet sich in den persönlichen Verläufen und Entscheidungen ein, sie ist indirekt präsent (und viellicht gerade deshalb tatsächlich spürbar).
Die eigentliche Handlung erscheint fast nebensächlich, in diesem zeitgeschichtlichen Stimmungsbild. Ob die heimliche Liebe zwischen Nachbarn gelingt, wohin sie führt – das entscheidet nicht über die Qualität dieses Romans. Wichtiger ist, dass man eine Idee von dem Lebensgefühl dieser Zeit bekommt.

Eine weitere Qualität des Romans von RAETHER liegt zweifellos in seiner sprachlichen Orginalität. Es gelingt dem Autor immer wieder, sowohl ungewöhnliche als auch treffende Sprachbilder zu produzieren – ohne dass diese irgendwie zu gewollt oder konstruiert wirken. Das steigert den Lesegenuss.

Wer in diesem Roman eine fesselnde Story sucht, sollte die Hände davon lassen. Wer sich für ganz private Brüche und Widersprüche in einer besonderen Zeit interessiert, wird sich bestimmt nicht langweilen und dabei auf ein paar sprachliche Leckerbissen stoßen.

“Über den Menschen” von Gerhard ROTH

Bewertung: 5 von 5.

Wer sich – wie der Autor – seit Jahrzehnten als Philosoph auch in der vordersten Linie der Neurowissenschaftler aufhält, hat einiges “Über den Menschen” zu sagen. Dankenswerter Weise hat ROTH seine Erkenntnisse und Gedanken in diesem gut lesbaren Buch zusammengefasst und für den interessierten Laien in genießbarer Form aufbereitet.
Schon der das Cover strahlt Understatement aus: Hier will offenbar niemand effektvoll auf der Hirnforschungswelle surfen; es geht ROTH um eine strukturierte und unaufgeregte Gesamtsicht über den Stand der Wissenschaft vom Menschen.
Man könnte es kurz so formulieren: ROTH lotet in diesem Buch aus, in welchem Umfang philosophische und psychologische Grundfragen inzwischen durch die Neurowissenschaften entscheidend (mit-)beantwortet werden können.
Und (Überraschung!) – sie können es in einem erstaunlich großen Umfang!

Dieses Buch bietet jede Menge geistiges Futter für wissensdurstige und denkfreudige Gehirne:
Philosophen werden bei ihrem Lieblingsthema “Dualismus” abgeholt (also der Fragestellung, ob es eine geistige Welt außerhalb der physikalischen Gesetzmäßigkeiten gibt). ROTH führt die geballten Forschungsbefunde der letzten Jahrzehnte ins Feld, die jede prinzipielle Lücke zwischen tierischem und menschlichem Bewusstsein genauso schließen wie jene, die sich vermeintlich zwischen Gehirnaktivität und geistigen Phänomenen auftun könnte. Die Befunde sind inzwischen überwältigend klar: Gehirn und Geist sind das Gleiche; das Gehirn ist keineswegs nur das Werkzeug der geistigen Kräfte. Unser Bewusstsein ist den Gehirnprozessen nicht vor- , sondern nachgeschaltet. Der Naturalismus ist auf der Siegerstraße (und doch warnt ROTH vor pauschalen Übertreibungen).
Den Psychologen wendet sich ROTH bei ihren Persönlichkeits-Theorien zu. Er bietet ihnen als Alternative zu ihren (auf Fragebogen basierenden) Faktorenmodellen nicht mehr und nicht weniger als ein hirnphysiologisch basiertes Persönlichkeitsmodell an. Doch auch die Bereiche Motivationspsychologie und Intelligenz werden ausführlich betrachtet.
Auch Sozialwissenschaftler fühlen sich sicher angesprochen, wenn ihre Befunde über Auswirkungen bestimmter frühkindlicher Sozialisationsbedingungen auf der Ebene von Hirnentwicklung und damit verbundenen hormonellen Regulationssystemen diskutiert wird.
Selbst Biologen, speziell Genetiker, werden sich für die neuesten Befunde zur Epigenetik (was lässt die Gene wirksam werden?) interessieren. Aus dem – schon reichlich komplizierten – Zusammenspiel zwischen Erbmaterial und Umwelt ist nämlich inzwischen ein Dreifaktoren-Modell geworden – mit der Epigenetik als gleichberechtigter Mitstreiterin.
Soziologen und Politologen (sicher auch Juristen) werden sicher (zusammen mit den Philosophen) genau hinhören, wenn es um die Gültigkeit von Grundkonzepten wie Willensfreiheit, Verantwortung und Schuldfähigkeit geht.

Man erstarrt fast gegenüber der Gewichtigkeit als dieser Themen und Fragen.
Aber: ROTH ist kein Eiferer und kein Indoktrinator. Sein Ton ist verbindlich, auch wenn manche Schlussfolgerungen nicht mehr viel Raum für Kompromisse lassen. Das Buch ist durchweg von der Gelassenheit des Überlegenen getragen – für manche mag das selbstgewiss oder gar arrogant wirken.
Man muss schon sagen: Es ist ein sehr großer Wurf, der hier gewagt wird. Man kann und darf nicht erwarten, dass jeder diskutierte Zusammenhang schon zweifelsfrei empirisch unterlegt ist. Es gibt sicher Bereiche, in denen die hirnphysiologische Untermauerung zunächst einmal theoretisch Sinn macht und der Erklärungsabstand zwischen den beobachtbaren Phänomenen (z.B. Verhalten) und den neurologischen Strukturen und Prozessen noch recht weit ist. Aber – und das wird mehr als deutlich – der Zug ist nicht aufzuhalten!

Trotz der Masse an strukturiert aufbereiteter Information kommt das Buch ganz ohne Tabellen oder Grafiken aus; selbst auf schematische Darstellungen zum Gehirnaufbau wird ganz verzichtet. Man könnte fast sagen: Es ist ein naturwissenschaftliches Buch in geisteswissenschaftlichen Gewand, ganz gewiss kein Buch für Scheuklappen-Wissenschaftler (die ROTH übrigens auch unter den Neuro-Experten vorfindet).

Dieses extrem anregende Buch unterstreicht eindrucksvoll, dass die “großen” Fragen des Menschseins nicht mehr sinnvoll ohne die Beiträge der Neurowissenschaften beantwortet werden können.