“Atheismus für Anfänger” von Richard DAWKINS

Bewertung: 4 von 5.

Der weltweit bekannte britische Evolutions-Biologe DAWKINS hat im Jahr 2007 mit dem Buch “Der Gotteswahn” so etwas wie ein Standardwerk des modernen Atheismus vorgelegt. Das hier besprochene Buch stellt eine fokussierte Zusammenfassung dar, die sich speziell an jüngere Menschen richten soll.
Vorweg sei angemerkt: Es handelt sich keineswegs um ein typisches Jugendbuch! Dazu ist es inhaltlich und sprachlich zu anspruchsvoll. Es ist allerdings tatsächlich geeignet für alle Menschen, die sich zum ersten mal ernsthaft die Frage stellen, ob eine Welt, ein Leben und eine Moral ohne Gott denkbar – und vielleicht sogar wünschenswert – sein könnte.

Vom Aufbau her gliedert sich das Buch sehr klar in zwei Teile:
In der ersten Hälfte setzt sich DAWKINS mit der Entstehung und den Grundprinzipien des Götter-Glaubens auseinander, arbeitet heraus, wie die Bibel (als Bespiel für andere “Heilige Bücher”) in einem zeitgeschichtlichen Kontext steht (wie jeder andere historische Text) und stellt sehr grundsätzlich in Frage, dass der beschriebene Gott (und die auf ihn bezogenen schriftlichen Botschaften) wirklich als GUT (im Sinne von menschenfreundlich) bewertet werden kann.
Auf der Basis anthropologischer bzw. historischer Erkenntnisse stellt der Autor dar, dass die monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) sich aus animistischen und polytheistischen Traditionen entwickelt haben und ihre Inhalte in wesentlichen Teilen auf vorangegangenen Erzählungen und Mythen aufbauen. Es wird aufgezeigt, dass es sich bei den schriftlichen Überlieferungen nicht um unmittelbare Augenzeugenberichte handelt und die Entscheidung über die Aufnahme der verschiedenen Berichte in den offiziellen Kanon eher willkürlich erscheinen. Die Frage der historischen Nachweisbarkeit der Existenz von Jesus wird differenziert betrachtet (und letztlich offen gelassen).
Auf der Basis von gründlichen Textanalysen des Alten und Neuen Testamentes zerstört DAWKINS das Bild von einem “gütigen” Gott und betrachtet dabei auch die Erlösungsgeschichte des Neuen Testaments aus einer völlig anderen Perspektive.

Ausführlich geht der Autor dann auf die Frage ein, ob nur der Glaube an eine göttliche Autorität den Menschen zu moralischem Verhalten motivieren kann. In diesem Zusammenhang analysiert er die 10 Gebote hinsichtlich ihrer ethischen Grundbotschaften und arbeitet heraus, dass es sich entweder um die Anweisungen eines extrem eifersüchtigen Gottes, um die Sicherung von Eigentum und Herrschaft oder um die Wiedergabe von (sinnvollen) Grundprinzipien handelt, die nahezu in jeder Kultur zu finden sind (völlig unabhängig von deren Religionen).
Es schließt sich eine alltagsnahe Betrachtung von verschiedenen philosophischen (also menschengemachten) Moralsystemen an.

Am Ende dieser Ausführungen stellt sich der Leserschaft eine entscheidende Frage: Erscheint dieses Glaubens- und Gotteskonzept wirklich sinnvoll, überzeugend oder gar notwendig? Die Antwort von DAWKINS fällt eindeutig aus.

Der zweite Teil des Buches widmet sich Frage, ob es nicht eines Schöpfers bedurfte, um die fantastischen Phänomene der Lebens auf diesem Planeten zu erklären.
Hier ist der Autor in seinem Element: Darwins Evolutions-Theorie wird als die unzweifelhafte Antwort auf die “Wunder” des Lebens vorgestellt und in aller Ausführlichkeit erläutert. Hier wird der Text dem Anspruch, etwas für “Anfänger” zu bieten, am ehesten gerecht.
Anregend ist dann noch einmal die Schlussbetrachtung, wie denn das – in allen Kulturen beobachtbare – Bedürfnis nach Religiosität selbst evolutionär zu erklären sein könnte.

DAWKINS ist ein Kämpfer für Wissenschaft, Rationalität und Empirie. Er verfolgt auch mit diesem Buch eine Mission: Er möchte (junge) Menschen motivieren, überkommene Glaubens-Traditionen durch kritisches Hinterfragen zu überwinden und sich der faszinierenden Herausforderung zu widmen, der Natur durch systematische Erforschung weitere Geheimnisse zu entlocken.
Um diesem Ziel näher zu kommen, setzt der Autor – neben seinem Wissen – auch sein schriftstellerisches Talent ein: DAWKINS hat einen Schreibstil entwickelt, der durch eine klare Sprache, eine argumentative (manchmal auch provokante) Schärfe und durch (manchmal unterhaltsam-überraschende) Analogien gekennzeichnet ist.
Entscheidender Wirkfaktor ist aber wohl seine Leidenschaft, mit der er Irrationalität bekämpft und für Wissenschaft begeistert.

Ein wenig holprig ist er schon, der Übergang vom ersten zum zweiten Buchteil. Die starke Konzentration auf die Evolution ergäbe sich nicht zwangsläufig aus der Grundthematik des Atheismus. Hier wäre ganz sicher noch Raum für alternative Perspektiven und Facetten gewesen (z.B. die Betrachtung anderer irrationaler Lehren oder von säkularer Spiritualität).

Wer jedoch in einem Buch in gut lesbarer Form sowohl eine sehr grundsätzliche Religionskritik, als auch eine Einführung in die Evolutionstheorie erhalten möchte, ist mit dieser Publikation sehr gut bedient. Auch wer sich – als gläubiger Mensch – mit den Argumenten und Sichtweisen des modernen Atheismus kritisch auseinandersetzten möchte, findet hier ein lohnendes Betätigungsfeld. Allerdings sollte er/sie sich nicht wundern, wenn die ein oder andere gut gepflegte und geschützte Überzeugung ein wenig ins Wanken gerät…


“Regen” von Ferdinand von SCHIRACH

Bewertung: 3.5 von 5.

Kurzgeschichten sind ein faszinierendes literarisches Genre. Erst recht, wenn Sie von einem Meister dieser Gattung geschrieben werden.
Von SCHIRACH ist zweifellos so ein Meister. Das hat er zuletzt in seiner Sammlung “Nachmittage” unter Beweis gestellt.
Sein aktuelles Buch enthält genau eine solche meisterhafte Kurzgeschichte.

Ein gescheiterter Schriftsteller (ein etwas einsamer, aber tiefgründiger Sonderling) ist aus seiner Lebensroutine herausgerissen worden: Er wurde zum Schöffen berufen; auch dort droht er scheitern. Es zieht ihn zum Tatort seines ersten Falles.

Der Text besteht aus den Icherzähler-Selbstreflexionen dieses Mannes. In einer assoziativen Verknüpfung von Gedanken und Erinnerungen erfahren wir von seiner einmaligen Autorenschaft, von seiner ersten Schöffen-Erfahrung und von seinen Einstellungen zu einigen Aspekten des Lebens und des Sterbens. Zwischendurch wird die vergangene Szenerie einer offenbar bedeutsamen Begegnung mit einer Frau aufgebaut.

Es ist bemerkenswert, wie viele – ganz offensichtlich auch sehr persönliche – Themen von SCHIRACH in diesem überschaubaren Text platziert. Man lässt sich gerne durch diese Gedankenwelt führen – es fühlt sich wie ein gemeinsames “sich treiben lassen” an.
Natürlich streut der Autor ganz locker einige dieser Lebensweisheiten ein, für die er bekannt ist und für die er inzwischen von einem internationalen Publikum verehrt wird.

Der Sinn dieser Geschichte besteht nicht darin, irgendwo hinzuführen. Mit solchen Banalitäten hält sich  von SCHIRACH nicht auf. Es geht wohl vorrangig darum, sich selbst seiner Leserschaft zu zeigen. Nur schwach getarnt versteckt sich von SCHRACH hinter seinem Protagonisten.
Dieser Eindruck der “Selbstoffenbarung” verstärkt sich, wenn man im zweiten Teil dieses Büchleins angekommen ist: Dort ist ein Zeitungs-Interview abgedruckt, in dem es  – recht persönlich – um den Menschen und Autoren von SCHIRACH geht. Zweifelsfrei ist der Autor eine spannende Person, der seine demonstrative Ferne vom Mainstream durchaus nicht uneitel zelebriert.

So irritiert diese Publikation gleich auf zwei Ebenen: Durch die quantitative Reduktion auf eine einzige kurze Geschichte und durch die Konzentration auf die eigene Person.
Letzteres wird die große Fan-Gemeinde des Autors sicher nicht stören: Die Marke “von SCHIRACH” ist ja in zwischen ein Selbstläufer geworden; zwischen seiner Person und seinen Texten lassen sich kaum echte Grenzen ziehen. Der Autor avancierte zu einer Art Kontrast-Figur zu der geschwätzigen und abstoßend-oberflächlichen Welt der Influencer und Lifestyle-Promis.
Dass ein bereits veröffentlichtes Interview dazu benutzt wird, aus einer Kurzgeschichte ein Buch zu basteln, ist verlegerisch schon ein wenig bemerkenswert (um es neutral auszudrücken). Es wird dem kommerziellen Erfolg aber ganz sicher nicht schaden.

“Hoch die Hände – Klimawende” von Gabriel BAUNACH

Bewertung: 4 von 5.

Der Energieexperte BAUNACH stellt in seinem Klimawende-Ratgeber dem etablierten Konzept “CO2-Fußabdruck” den Begriff “Handabdruck” gegenüber. Dahinter steckt die Idee, dass die persönliche Veränderung des Klima-Lebenswandels zwar sinnvoll und lobenswert sei, dass aber die Veränderung von sozialen, gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen und Strukturen einen vielfach höheren Effekt haben könnten.
Deshalb konzentriert sich dieses Buch auf die Multiplikatoren-Rolle und motiviert eindringlich dazu, dass möglichst jeder klimabewusste Mensch seine Zeit und Energie (auch) in die Vergrößerung seines Handabdruckes investieren sollte.

Der Autor erzählt zunächst die Geschichte des “Fußabdruckes”. Er macht darauf aufmerksam, dass – bei aller Bedeutung dieses Konzepts – ihm von Beginn an eine gewisse Zweischneidigkeit innewohnte: Der Fußabdruck machte es möglich, klimaschädliches Handeln fassbar und messbar zu machen – lenkte aber gleichzeitig den Blick einseitig auf die individuelle Verantwortung und die ganz persönliche Lebensführung.
BAUNACH arbeitet heraus, dass genau diese Perspektive auch im Interesse der großen Fossil-Unternehmen lag: Der erste Fußabdruck-Rechner befand sich auf der Website eines Öl-Konzerns.

An konkreten Beispielen macht der Autor deutlich, wie viel (wie wenig) man letztlich durch individuelles Umsteuern bei Energieverbrauch, Konsum, Mobilität, Ernährung, Heizen und Reisen erreichen kann. Er hält alle diese Bemühungen nicht für überflüssig, macht aber auf die Gefahren aufmerksam, die in den – oft nur symbolischen – Beiträgen liegt: Man kann sich verzetteln, überfordern, sich durch kleine Gesten “freisprechen”, das Große und Ganze aus dem Auge verlieren. Auch bestehe die Gefahr, seiner sozialen Umwelt mit einer Art moralischer Arroganz bzgl. kleiner “Verfehlungen” auf die Nerven zu gehen.
Durchaus informativ sind die Vergleiche der Wirksamkeit individueller Anstrengungen: So werde z.B. die Bedeutung der Ernährung (fleischarm) und der Wohnungsgröße oft unterschätzt, während andere Faktoren überschätzt werden (Konsum von Plastik, Stromverbrauch von Kleingeräten).

Im Zentrum des Buches stehen dann die Vorschläge und Anleitungen zur Vergrößerung des eigenen Handabdrucks. Es geht darum, andere Menschen zu erreichen und zu motivieren (im Gespräch), im privaten und beruflichen Umfeld Einfluss auf Bedingungen bzw. Regelungen zu nehmen (Speiseplan in der Kantine, Solaranlage auf das Fabrikdach oder die Schule), als Konsument bzw. Kunde eigene Wünsche zu formulieren (mehr Bio-Produkte, mehr vegetarische Gerichte), in sozialen und gesellschaftlichen Kontexten Klima-Initiativen zu gründen oder zu unterstützen und im politischen Bereich durch Wahlen, Pateimitgliedschaft, Petitionen oder Kontakten zu Politikern etwas Grundsätzliches zu bewegen. Der Autor wird nicht müde, für jede individuelle Ausgangsbedingung Möglichkeiten zum Engagement auszuloten.
Letztlich sollen alle diese Bemühungen dazu dienen, dass die Rahmenbedingungen unserer Alltagwelt es bequem und lukrativ machen, sich klimafreundlich zu verhalten. Da, wo es notwendig sind, sollte natürlich auch Raum für Vorgaben und Regeln geschaffen werden.
Als entscheidenden Unterschied zwischen Fuß- und Handabdruck markiert BAUNACH die soziale Ebene: Im Gegensatz zum Fußabdruck setzt das Bestreben um einen größeren Handabdruck in der Regel eine Zusammenarbeit mit anderen voraus – in informellen oder formellen Gruppen (Familie, Nachbarschaft, Arbeitskollegen, Verein, Kirchengemeinde).
Der Autor zeigt dabei durchaus auch Sympathien für die heftigeren Formen des Protestes.

Zu den Highlights des Buches gehört die lebensnahe Typologie von Haltungen gegenüber der Bedrohung durch den Klimawandel: Hier kann sich jede/r wiederfinden – mit den eigenen Hoffnungen, Frustrationen, Widersprüchen und Resignationen.
Überhaupt ist das Buch durchweg leserfreundlich geschrieben und beinhaltet keinerlei Verständnis-Schwellen.
Positiv ist auch, dass die Hinweise und Vorschläge durchweg sehr konkret sind; an Beispielen und guten Modellen mangelt es in diesem Text nicht.

Man merkt dem Autor an, wie sehr in seine Mission umtreibt. Das könnte für manche/n Leser/in auch gelegentlich des Guten zu viel sein. Generell neigt BAUNACH ein wenig zur Redundanz: Er möchte offenbar ganz sicher gehen, dass seine Grundgedanken verstanden werden. Eine gewisse Ungeduld kann da schon entstehen…
Bei allem Verständnis für die so eingängige Unterscheidung zwischen Fuß- und Handabdruck: So ganz kann auch der Autor diese Dichotomie nicht durchhalten. Nachdem er anfangs den “Fußabdruck” eher kritisch (als eine Art Ablenkung) beschrieben hat, kommt er im weiteren Verlauf doch immer wieder auf ihn zurück. Es geht also nicht um ein Entweder-Oder, sondern um beide Aspekte.

Wem das individuelle Klein-Klein um den CO2-armen Alltag nicht ausreicht bzw. wem die Verzögerungen und Rückschritte im Kampf gegen die Klimakatastrophe keine Ruhe lässt, der findet in diesem sympathischen und alltagsnahen Buch viele Anregungen.
Wer sich allerdings schon selbst auf dem Weg zum Klima-Aktivismus befindet, braucht dieses Buch eher nicht (mehr); es holt eher den interessierten “Normalbürger” ab.

“Zukunft” von Florence GAUB

Bewertung: 4 von 5.

“Haben wir nicht schon genug Zukunftsprognosen?” So könnte die erste Reaktion auf den Buchtitel lauten. Das wäre aber ein grobes Missverständnis.
Die Politikwissenschaftlerin GAUB verfolgt mit ihrem Buch eine ganz andere Spur: Sie macht die Zukunft – insbesondere die “Zukunftsfähigkeit” – selbst zum Thema; wir erhalten also eine Meta-Betrachtung zu diesem Begriff. Die Autorin analysiert, wie die Zukunft in das Leben der Menschheit gekommen ist, von welchen Faktoren unsere Zukunfts-Offenheit abhängt und wie wir uns auf ein möglichst kompetentes Management unserer persönlichen und gesellschaftlichen Zukunft vorbereiten Zukunft könnten.

Nach einer einführenden Betrachtung über das Wesen, die Funktionen und unterschiedliche Reichweiten von Zukunft, macht GAUB auf das Risiko “Zukunftsvergesslichkeit” aufmerksam. Damit umreißt sie auch gleich ihr Anliegen: Wie will zu einem bewussten und aktiven Umgang mit der Zukunft ein laden – und kommt darauf im Schlussteil des Buches wieder zurück.

Als nächstes bekommen wir eine historischen Perspektive geboten: Wann und wie ist eigentlich die Zukunftsorientierung entstanden? GAUB macht deutlich, dass die heute für uns selbstverständliche Art des Umgangs erst ein paar hundert Jahre alt ist. Eine aktive Auseinandersetzung mit der Zukunft setzt nämlich voraus, dass da überhaupt etwas zu erwarten sein könnte, das sich von Gegenwart und Vergangenheit unterscheidet – also nicht sowieso durch Gott, Schicksal oder den festen Platz im gesellschaftlichen Gefüge determiniert ist. Auf dieser Wahrnehmung von denkbaren alternativen Zukünften konnte dann in einem weiteren Schritt die Idee aufbauen, dass man durch eigene Entscheidungen bzw. durch eigenes Tun sogar Einfluss auf das Kommende nehmen könnte. Das schuf nicht nur neue Perspektiven auf das eigene Leben, sondern auch für die gesellschaftlichen Verhältnisse.

Die Autorin erklärt immer wieder den Zusammenhang zwischen den drei zeitlichen Perspektiven: Während uns die Vergangenheit Material (Erfahrungen) liefert, besteht der Sinn einer Zukunftsorientierung darin, in der Gegenwart die richtigen Entscheidungen zu fällen.
Sie klärt uns in den weiteren Kapiteln über – insbesondere psychologische – Mechanismen auf, die Zukunftsbewusstsein fördern oder behindern können; dabei geht um die Fixierung auf aktuelle Krisen, um die Bedeutung der Kreativität, um Ängste bzw. Vermeidungsreaktionen, um die Rolle von Wahrscheinlichkeitsschätzungen, um Wunschdenken und bedenklichen Sicherheitsillusionen, um den Fortschrittsglauben und um fehlerhafte Zukunftsannahmen (wie sie sich z.B. im Aberglauben zeigen).

GLAUB spielt auch Szenerien durch, in den Zukünfte verloren gehen, weil sie nicht mehr gewünscht oder erreichbar sind. Sie macht deutlich, dass auf persönlicher Ebene der Verlust einer Zukunftsperspektive dramatische Folgen haben kann (z.B. bei einer Depression).
Sie schlägt eine Art Mini-Selbsthilfe-Programm vor, sich einen verloren gegangenen positiven Zukunftsbezug wieder neu zu erarbeiten.

Abschließend plädiert sie für eine aktive, mutige und zuversichtliche Haltung gegenüber der Zukunft – gegen den “Autopiloten”, gegen die Ohnmacht angesichts von Katastrophenfantasien, gegen eine eher träge Orientierung an vorgegebenen gesellschaftlichen Zukunfts-Skripten.
In der Akzeptanz von Veränderungen und der bewussten Auslotung des eigenen Möglichkeitsraums sieht die Autorin nicht nur für jeden einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes die größte Chance.

Mit ihrem Buch bietet GAUB eine ganze Reihe von informativen und anregenden Blickwinkel auf das Thema “Zukunft”; vielleicht sogar ein wenig auch eine “Bedienungsanleitung” (obwohl der anfängliche Vergleich mit einem Staubsauger nicht so überzeugend ausfällt). Spannend ist auf jeden Fall die Verbindung von historischen, kulturellen, psychologischen und politischen Aspekten.
Deutlich werden aber auch die persönlichen Haltungen der Autorin: Sie hat ganz offensichtlich ein sehr optimistisches Menschenbild, in dem die Möglichkeit zu selbstbestimmten, autonomen Entscheidungen eine zentrale Rolle spielt. Sie sieht den Menschen vorrangig als potentiellen Gestalter seiner Zukunft. Dabei tritt die Frage, wie weit diese Fähigkeit von biologischen und lebensgeschichtlichen Einflüssen und Prägungen bestimmt und beschränkt wird, deutlich in den Hintergrund. Die “Freiheit” zu solchen Entscheidungen wird (außerhalb von psychischen Erkrankungen) schlichtweg postuliert. Das wirkt sympathisch – aber ist es auch realistisch?

GAUB hat ein ohne Zweifel ein gut lesbares und anregendes populärwissenschaftliches Sachbuch vorgelegt. Gelegentlich allerdings erscheint der Bogen zwischen Wissensvermittlung, Denkanstößen und persönlicher Haltung bzw. Mission ein wenig breit gespannt und nicht ganz ohne Brüche. Auch muss man sich darauf einstellen, dass manche Thesen durch entsprechende Untersuchungen belegt werden, andere beruhen dann eher auf persönlichen Einschätzungen.
Eine lohnende und durchaus originelle Auseinandersetzung dem Zukunftsthema ist diese Publikation allemal.

“Das dritte Herz des Oktopus” von Dirk ROSSMANN und Ralf HOPPE

Bewertung: 2.5 von 5.

Warum liest (hört) man den dritten Teil einer Reihe, wenn man schon vom zweiten ziemlich enttäuscht war? Wohl, weil die Kombination von Klima- bzw. Nachhaltigkeits-Themen und dem Spannungs-Genre irgendwie attraktiv und sinnvoll erscheint. Und weil die Hoffnung bestand, dass vielleicht der Oktopus endlich mal eine tragende Rolle bekommen könnte…

Tatsächlich erweckten die beiden Autoren zu Beginn der Story den Eindruck, als ob es diesmal wirklich um diese faszinierende Art gehen könnte – hat sich doch so eine Riesen-Intelligenzbestie an die deutsche Ostseeküste verirrt. Leider stellt sich dann bald heraus, dass eher die Eier (“das Gelege”) des Monstrums im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Oder – besser gesagt – bestimmte Mikroorganismen, die mit ihrer Hilfe entwickelt und dann auf die Menschheit losgelassen werden, um… (Spoiler-Alarm).

Wir bewegen uns am Beginn der 2030-iger Jahre. Nationalstaaten gibt es zwar noch, aber alle wichtigen Entscheidungen werden vom Klima-Weltregierung gefällt. Es gibt aber eine Aktivisten-und Widerstandsgruppe, die besonders die Interessen der Bevölkerung des Süd-Pazifiks vertritt; aus deren Sicht reichen die Maßnahmen der Mainstream-Klimaretter nicht aus. Das führt zu Konflikten und setzt für den Roman einen spektakulären Kidnapping-Auftakt.

Irgendwie geht es letztlich um die Zukunft der Menschheit, denn die wird massiv angegriffen – teils aus wissenschaftlicher Hybris, teils aus materieller Gier.
Wie gut, dass es den – eigentlich gar nicht zum Helden geborenen – Beamten der Klima-Regierung in Kapstadt gibt und seine weltbekannte Pop-Star-Freundin (wer die Logik dieser Paar-Beziehung versteht, möge sich bei mir melden).
Ja, es gibt auch einen abgedrehten Wissenschaftler, einen psychopatischen Milliardär, eine mysteriöse Umwelt-Aktivistin, einen egomanischen Verteidigungsminister und ein paar Nebenfiguren – meistens sehr leicht in “gut” und “böse” zu kategorisieren.
Wie das alles zusammenhängt, versucht der Plot dieses “Thrillers” möglichst so zu enthüllen, dass dabei so etwas wie ein Spannungsbogen entsteht.

Leider kann der Roman weder den Oktopus-, noch den Entführungsfaden wirklich sinnvoll weiterspinnen. Der Stoff, der letztlich entsteht, sieht eher nach einem notdürftig zusammengehaltenen Flickenteppich aus: Alles wirkt reichlich unplausibel und konstruiert.
Manche Einzelheiten wirken absurd: So wird z.B. im Laufe des Romans ernsthaft darüber nachgedacht, ob ein nachgewiesener Mehrfach-Mörder vielleicht doch nur Gutes im Sinn hatte…

Ja, es gibt auch in diesem Roman ein paar Stellen, an denen die Dramatik des Klimawandels thematisiert wird und ethische Grundsatzfragen aufgeworfen werden: Wie weit darf man gehen, um wenigstens einen Teil der Menschheit zu retten? Muss man vielleicht den Menschen selbst manipulieren, damit er nicht alles zerstört?
Leider spielen solche spannenden Fragen im Getümmel der teilweise action-lastigen Handlung nur eine kleine Nebenrolle.

Für die 770 Seiten (bzw. 23 Std.) bietet dieser Roman eindeutig zu wenig Substanz – jedenfalls, wenn man mehr als Unterhaltung möchte. Angesichts des rasenden Fortschritts der Künstlichen Intelligenz verwundert und enttäuscht es dabei auch, wie wenig KI-Zukunftsvisionen in diesen Roman eingeflossen sind.

Falls es noch eine Oktopus-Fortsetzung geben sollte – dann jedenfalls ohne mich.

“Mache die Welt” von Richard David PRECHT

Bewertung: 4 von 5.

Die ursprünglich auf drei Bände ausgelegte Philosophiegeschichte ist jetzt im 20. Jahrhundert angekommen. An drei (oder vier) Stellen erfahren wir im Text, dass ein fünfter Band folgen wird. PRECHT nimmt sich also Zeit und Raum für dieses große Projekt.
Im Kontext dieser Publikation spielt der Umstand, dass der Autor seit einiger Zeit wegen seiner Statements zu gesellschaftlich-politischen Fragen umstritten ist, keine Rolle.
Wir bewegen uns hier in einem anderen, einem historischen und fachlichen Raum.

Im Einleitungskapitel spannt der Autor den großen Bogen über die von ihm betrachtete “Philosophie der Moderne”. Vermutlich steckt gerade in dieser Meta-Perspektive eine besonders kreative Leistung des Autors. Viele Leser/innen wird dieser komprimierte Auftakt aber vermutlich zu diesem Zeitpunkt überfordern; es ist sicher ein Gewinn, wenn man sich diesem Textteil nochmal nach der Lektüre des Buches zuwendet.

Wie in den bisherigen Bänden verbindet PRECHT kontinuierlich die inhaltlichen Linien mit den Denker-Persönlichkeiten, durch die sie entwickelt und vertreten werden. Ein Blick auf das Personenregister verstärkt den Eindruck, den man auch beim Lesen bekommt: Mit ca. 400 Namen wird eine kaum zu überblickender Szenerie aufgemacht: Wie kann man durch diesen Irrgarten so geführt werden, dass einem nicht schwindelig wird?
In seiner tabellarischen Übersicht beschränkt sich PRECHT auf 41 Autoren (ja, es sind alles Männer). Von diesen Philosophen erfahren wir – in der gewohnten Gründlichkeit – nicht nur ihre Grundideen und wichtigsten Werke, sondern auch jeweils (mehr oder weniger ausführliche) biografische Daten: wo geboren, welcher Ausbildungsweg (welche Unis und Dozenten), welche beruflichen Stationen (bes. Lehrtätigkeiten), welche Querbezüge zu Mitstreitern, Konkurrenten und Nachbarwissenschaften, welche gesellschaftliche bzw. politische Verbindungen, welches Ende? Nicht jeder Leser/jede Leserin wird das alles so genau wissen wollen. Wer es aber wissen möchte, findet es hier.
Von wem ist nun die Rede? Die einem breiteren Publikum bekanntesten Namen wären wohl: Sigmund Freud, Edmund Husserl, Bertrand Russell, Martin Buber, Karl Jaspers, Ernst Bloch , Martin Heidegger, Rudolf Carnap, Ludwig Wittgenstein und Walter Benjamin.

Das eigentliche Herzstück dieser Publikation (und der ganzen Reihe) liegt darin, dass zwar einzelnen Personen (oder einer kleinen Gruppe) jeweils ein Kapitel gewidmet wird, innerhalb dieser Kapitel aber nicht nur eine bestimmte Denkrichtung vorgestellt wird, sondern auch permanent nach Bezügen/Querverbindungen Ausschau gehalten wird. So wechselt PRECHT innerhalb eines Kapitels von ca. 40 Seiten (geschätzt) mindestens zehnmal zwischen der Darstellung der Kernaussagen bestimmter Publikationen und der Einordnung in die großen philosophischen Fragestellungen bzw. Kontroversen dieser Epoche – einschließlich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede so anderen “benachbarten” Denkern. Zu dieser schon beeindruckenden Komplexität tritt dann noch die Einbeziehung der jeweiligen individuellen Entwicklung von Konzepten und Theorien – denn kaum einer der besprochenen Denker landet am Ende dort, wo er begonnen hat.
Diese Art der Aufbereitung bietet ein Grad der Durchdringung, die z.B. Lexikonartikel oder die Lektüre von Original-Literatur nicht bieten könnte. Auch wenn sie letztlich zusätzliche Leitlinien bietet, schafft diese Darstellung ein Ausmaß an Komplexität, das nur mit großer Konzentration zu bewältigen ist. Querlesen hilft hier gar nicht!
Wem es gezielt um Informationen über einen einzelnen Philosophen geht, der/die wird möglicherweise aus Gründen der Übersichtlichkeit andere Quellen bevorzugen.

Um es kurz zu sagen: Eine fünfbändige Geschichte der Philosophie ist nun mal keine Einführung. Diese Bücher wollen erarbeitet werden, vielleicht auch nach einem ersten Durchgang noch ein zweites Mal als Vertiefung.
Ein Teil des philosophisch interessierten Publikums hätte sich ohne Zweifel eine Light-Version gewünscht – mit einer Beschränkung auf die ganz großen Linien und unter Verzicht auf Differenzierungen und Exkurse (die der “Normal-Leser” sowieso nicht in Gänze erfassen oder gar behalten kann).
Toll wäre es auch gewesen, wenn die beiden übersichtlichen Zeitleisten am Beginn des Buches um eine tabellarische Übersicht ergänzt worden wären, die eine Zuordnung von Autoren zu grundlegenden inhaltlichen Kategorien bzw. großen Denkschulen gezeigt hätte (also z.B. ihre Nähe zum Idealismus, Empirismus, zu andern Wissenschaften und zu gesellschaftlichen bzw. zeitgeschichtlichen Themen).

Wer PRECHT bis hierher gefolgt ist, wird dieses – wohl aktuell konkurrenzlose – Projekt sicher “rund” machen wollen; auf den letzten Band wir man aber sicher wieder zwei bis drei Jahre warten müssen.

“Free Agents” von Kevin J. MITCHELL

Bewertung: 5 von 5.

Noch vor wenigen Tagen habe ich ein anderes Buch mit 5 Sternen bewertet, das bei dieser Fragestellung zu einer deutlich anderen Schlussfolgerung kommt (“Determined” von Robert SAPOLSKY).
Wie kann das sein? Es können doch schließlich nicht beide Recht haben…

Nun – unabhängig vom Ergebnis seiner Betrachtungen hat MITCHELL schlichtweg ein herausragendes Buch geschrieben: extrem informativ, didaktisch geradezu vorbildlich aufgebaut bzw. ausgearbeitet und in einem klaren, einladenden Stil geschrieben.
Darüber hinaus bringt der Autor inhaltlich eine bemerkenswerte Vielfalt von eigenen Sichtweisen und kreativen Konzepten ein.
Dafür gebührt ihm uneingeschränkte Anerkennung!

Der Autor möchte seine Leserschaft davon überzeugen, dass lebende Systeme in unserem Universum einen Sonderstatus haben. Mögen auch die physikalischen Objekte durch das Wirken der Naturkonstanten und -gesetze weitestgehend determiniert sein – Lebewesen (im Buch ist überwiegend von Tieren die Rede) – schaffen sich eine eigene kleine Welt.
In diesem abgegrenzten Raum werden zwar die Regeln der Teilchenphysik nicht außer Kraft gesetzt, aber die Dynamik der Evolution schafft eine neue Dimension: Organismen haben ein eigenes Ziel (Überleben bzw. Fortpflanzen), werden von inneren Prozessen bestimmt (Energie aufnehmen; Reste entsorgen), entwickeln interne Kontroll- und Steuerungsmechanismen und entwickeln sich damit zu Wesen mit einer eigenen kausalen Kraft. Dieses Handeln auf der Basis von Gründen lässt sich – da ist der Autor sicher – nicht auf die rein mechanischen physikalischen Regeln auf der untersten Ebene reduzieren.

Auf der Grundlage dieser Logik traut sich MITCHELL jetzt an das verminte Thema der Willensfreiheit heran. Wenn einfachste Lebewesen schon ihr basales Verhalten auf der Basis eigener Bewertungen (“was nützt gerade meinem Weiterleben?”) steuern – warum sollte es dann einen Zweifel daran geben, dass Tiere mit komplexen, zentralen und hierarchisch gegliederten Kontrollzentren (Gehirnen) ihre Entscheidungen nicht “frei” von einer vorgegebenen, rein physikalisch begründeten Determiniertheit treffen?
So weit, so klar.

MITCHELL will aber mehr! Für ihn setzt die Freiheit des Willens voraus, dass auch die jeweiligen biologischen Strukturen des Systems und die in ihnen gespeicherten bisherigen Erfahrungen zwar die potentiellen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten beschränken, aber diese nicht festlegen. Auch die Prinzipien einer biologischen oder psychologischen Determiniertheit lehnt der Autor also ab.
Damit rettet er nicht nur die Willensfreiheit, sondern auch die uns vertrauten Konzepte von Verantwortung und Schuld.

Was ich hier so lapidar komprimiert und vereinfacht dargestellt habe, wird in diesem Buch in einer faszinierenden Breite und Tiefe aufbereitet. MITCHELL bietet so ganz nebenbei ein nahrhaftes und gut verträgliches Einführungs-Menü in die Entstehung des Lebens, die Zellbiologie, die Logik der Evolution und die neurowissenschaftlichen Grundlagen. Was jedoch nicht heißt, dass man nicht auch noch eine Portion Quantenphysik zum Nachtisch bekäme und eine philosophische Einbettung als Aperitif. Gut verdauliches Wissen im Überfluss!

Und der freie Wille? Wird er jetzt endgültig bewiesen – statt philosophisch nun eben biologisch? So einfach ist das dann doch nicht…
Man kann MITCHELL an keiner Stelle nachsagen, dass er die naturwissenschaftliche Argumentationslinie verlassen hätte; er grenzt sich zuverlässig von allen metaphysischen Zusatzannahmen ab. Er will den freien Willen innerhalb des Systems – nicht von außen eingeflogen. Und er gibt sich viel Mühe, eine “realistische und alltagstaugliche” Definition der Willensfreiheit zu finden (die sich deutlich von einer “absoluten”, von vorherigen Einflüssen unabhängigen Auslegung unterscheidet.
Aber er nimmt sich die “Freiheit”, bestimmte Zusammenhänge so zu bewerten, dass es für seine Position gut aussieht. Zwar beschreibt er durchaus – gewohnt sorgfältig und sprachlich gewandt – zahlreiche Faktoren, die eine Person (und ihr Gehirn) im Laufe einer Biografie prägen und damit Einfluss auf Art und Ausmaß der “bewussten und rationalen Kontrolle” nehmen. Er hält aber die kausale Kraft dieser Prägungen – bis auf wenige extreme Ausnahmen – für nicht ausreichend, um die Entscheidungsfreiheit in Frage zu stellen. Dabei übergeht er insbesondere jeden Gedanken an mögliche kumulierten Effekte, die z.B. durch das überzufällige Zusammentreffen mehrerer ungünstiger Lebensumstände entstehen könnte.

Man hat an diesen Stellen das Gefühl, dass der Autor einfach (bewusst oder unbewusst) “beschlossen” hat, dass es keinen Grund dafür geben soll, an traditionellen Alltagskonzepten von Autonomie und Selbstverantwortung zu rütteln.
Hier hätte man mehr (wissenschaftliches) Abwägen erwartet! Statt dessen äußert sich MITCHELL sogar eher kritisch zu neueren juristischen Tendenzen, psychische und neuronale Besonderheiten auch jenseits der klassischen psychiatrischen Erkrankungen bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen. Möglicherweise hat der exzellente Biologe MITCHELL auch einfach ein etwas begrenztes Einfühlungs- und Vorstellungsvermögen hinsichtlich biografischer Hypotheken und Verletzungen.

Trotz aller spannenden Zusatzbetrachtungen zur Rolle von quantenmechanischen Unschärfen als Grundlage für die Freiheit im Gehirn und trotz der wirklich kreativen Ausflüge in bestimmte philosophische Gedankengebäude: Letztlich hängt auch am Ende dieses bemerkenswerten Buches die Frage des freien Willens davon ab, wie groß man die kausale Lücke einschätzt, die sich nach Berücksichtigung wirklich aller (nicht selbst beeinflussbaren) Vorbedingungen in einer Entscheidungssituation ergeben könnte: Konnte ich als die Person, die zu diesem Zeitpunkt so geworden und gewesen ist, tatsächlich anders handeln? Während SAPOLSKY an dieser Erklärungs-Lücke grundsätzlich zweifelt, liegt hier für MITCHELL die Begründung für die Freiheit.
Das kann man so sehen! Die Eindeutigkeit und Begründung dieses Urteils passt aber nicht zu der ansonsten brillanten Argumentationsführung von MITCHELL.

Ein tolles und ohne Zweifel lesenswertes Buch (bisher nur auf Englisch verfügbar), das zu einer insgesamt “bequemen” und beruhigenden Schlussfolgerung kommt, deren Gültigkeit aber zumindest sehr fraglich erscheint.

“Holly” von Stephen KING

Bewertung: 3.5 von 5.

KING schafft durch den Rückgriff auf eine aus vorigen Romanen bekannte Figur für Fans schnell eine große Vertrautheit. Die biografisch durchaus belastete “Privatermittlerin” Holly ist – ebenso wie einige Personen aus ihre Umfeld – sympathisch und bietet einen hohen Identifikationsanreiz.
Dagegen setzt KING mal wieder das “absolut BÖSE”, diesmal in Form eines alten Professoren-Ehepaars, das mordet, um sich selbst gesund zu erhalten. Statt mit Horror arbeitet KING also in diesem Roman mit den ziemlich unappetitlichen Neigungen eines vermeintlich harmlos-unauffälligen Seniorenpaars.

Obwohl man als Leser/in sehr schnell mit den Zusammenhängen vertraut gemacht wird (man kennt ja die Täter und ihre Motive) und man eigentlich “nur” der Ermittlerin bei der Arbeit zuschaut, bastelt der Autor natürlich auch diesmal einen wirkungsvollen Spannungsbogen. Das hat damit tun, dass KING ja bekannterweise mit seiner insgesamt unaufgeregten Stils trotzdem immer wieder einen erzählerischen “Sog” herstellt, dem man sich kaum entziehen kann.
Hilfreich ist auch, dass einem auch die Nebenfiguren und ihre persönlichen Ziele und Belange schnell ans Herz wachsen. Nicht besonders überraschend ist es für den leidenschaftlichen Vielschreiber, dass es (auch) in diesem Roman viel um literarische Themen geht.
Der Autor hat – wenn er sich nicht gerade auf der Täterseite austobt – einen sensiblen Blick und eine ausgeprägte Empathie für “normale” Menschen. Insbesondere in der Schlussphase des Romans rühren seine Schilderungen der Erfahrungen und Emotionen der Betroffenen wirklich an.

Schwierig und etwas widersprüchlich erscheint seine Auseinandersetzung mit dem “Bösen” – ganz offensichtlich ein Lebensthema des Autors. Irgendwie kann er sich nicht so recht einigen, ob die Täter nun “verrückt” oder die “Inkarnation des Bösen” sind – oder beides gleichzeitig?
Während KING seine positiven oder neutralen Figuren mit einigem psychologischen Feingefühl entwirft und begleitet, setzt er das in gewisser Weise “Böse” absolut. Es kommt aus einer dunklen Gegenwelt des Wahnsinns oder aus sonstigen tiefen menschlichen Abgründen, die sich einer differenzierten Ableitung oder Erklärung scheinbar entziehen.

Diese totale Abspaltung der (extremen) Schattenseiten menschlicher bzw. psychischer Entwicklung mag für die Dynamik des Plots ja durchaus nützlich sein; wirkt aber auf eine enttäuschende Weise holzschnittartig und undifferenziert.
Ob KING diese scharfe Grenze für sein persönliches Menschenbild braucht, können KING-Kenner sicher besser beurteilen; die Qualität des Romans wird dadurch ein wenig eingeschränkt.

Nach dem (endgültigen?) Abklingen der Corona-Pandemie wirken die häufigen Bezüge zu der Erkrankung und zu den darauf bezogenen Konflikten (Masken, Impfen) schon ein wenig ungewohnt, fast befremdlich: War das wirklich alles so schlimm und dominant?
Das war es wohl – in den USA sicher noch stärker als bei uns.
Ein zeitgeschichtlicher Bezug – auch wenn er eindeutig wertend ausfällt (für Impfen und gegen Trump) schadet m.E. dem Roman nicht.

Mein Tipp: Wenn schon KING, dann gelesen von David Nathan.

“Die dunkle Seite des Gehirns” von Prof. Stefan KÖLSCH

Bewertung: 1.5 von 5.

Dieses Buch wirft die Frage auf, wieviel Vereinfachung in einem populärwissenschaftlichen Ratgeber-Sachbuch “erlaubt” ist. Unabhängig von dem möglichen Streit um die Feinjustierung einer solchen Schwelle: Hier wurde des “Guten” zu viel getan und eindeutig eine Grenze überschritten !

Der Autor vermittelt in diesem Buch durchaus eine ganze Menge Wissen. Er schreibt über alle möglichen “unbewussten” Vorgänge im Gehirn und trägt dafür experimentelle Befunde aus ganz verschiedenen Fachdisziplinen zusammen. Wir erfahren etwas von evolutionär früh geprägten Alarm-, Stress- und Regulationssystemen, von automatisierten Verhaltensroutinen, von irrationalen und belastenden Gedankenkreisläufen, von (kognitiven) Verzerrungen unserer Wahrnehmung und unseren Bewertungsreaktionen, usw. Die Befunde entstammen u.a. aus Verhaltensforschung, Sozialpsychologie, Verhaltensökonomie, Wahrnehmungspsychologie und Neurowissenschaften.

Es ist sicher ganz interessant, auf diesem Weg zu erfahren, was unser Gehirn alles leistet, ohne dass uns diese Inhalte und Prozesse bewusst werden. Ebenfalls lehrreich ist es, sich klarzumachen, dass all diese verschiedenartigsten Vorgänge zwar einerseits einen hohen Überlebenswert hatten (und haben) und auch absolut notwendig notwendig sind, um die begrenzten Kapazitäten unserer bewussten Informationsverarbeitung vor hoffnungsloser Überlastung zu schützen. Und dass diese Prozesse andererseits auch Nachteile und Risiken in sich tragen, u.a. weil sie in einer Zeit ausgebildet wurden, in der es um das Überleben in der Savanne und nicht in einem digital-vernetzten Großraumbüro ging.
Spannend ist auch, wie bedeutsam für unsere automatischen Funktionen und Bewertungen die Zugehörigkeit bzw. Anpassung an die Bezugsgruppe sind.
Der Autor bietet damit einem (bisher nur dezent vorinformierten) Publikum sicherlich eine Menge Stoff zum Nachdenken und zum Staunen.

Es gibt allerdings zwei bedeutsame Gründe, warum dieses Buch m.E. trotzdem alles andere als empfehlenswert ist:

Aus fachlicher Sicht ist die Zusammenfassung all der beschriebenen Phänomene in einer Instanz namens “Unterbewusstsein” tatsächlich auch dann nicht akzeptabel, wenn man einen Schwerpunkt auf eine möglichst einfache und prägnante Darstellung legt. Der Autor benutzt den Begriff so inflationär, dass immer mehr der Eindruck entstehen muss, hier sei sozusagen eine klar definierte Funktionseinheit in unserem Gehirn (in seiner “dunklen” Seite) für all die dargestellten Prozesse verantwortlich.
Das wird der Komplexität unserer extrem vernetzten neuronalen Netzwerke nicht einmal ansatzweise gerecht; hier wird tatsächlich die Realität verfälscht.

Noch problematischer ist eine zweite Botschaft:
KÖLSCH erweckt den Eindruck, dass diesem unbewussten System ein genauso klar definierter “bewusster” Gehirnteil gegenüberstände. In einer geradezu abenteuerlichen Eindeutigkeit postuliert der Autor die Möglichkeit, auf dieser bewussten Ebene all den im Untergrund wirksamen Prägungen flugs zu entkommen.
Es scheint wie ein Kippschalter zu funktionieren: Schalten wir unser Bewusstsein ein (indem wir uns z.B. bestimmte Fragen stellen oder uns an unsere Ziele erinnern), erheben wir uns über unseren biologisch-evolutionären oder lebensgeschichtlichen Ballast und erlangen Freiheit und Autonomie. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute….
Die Vorstellung, dass der bewusste Anteil unseres Denken, Fühlen und Handelns in keinerlei Abhängigkeit von Vorerfahrungen und außerhalb jeder Kausalkette stände, ist so absurd, dass es einem fast den Atem verschlägt. Tatsächlich traut sich der Autor, mal so eben in einem Nebensatz die Sichtweisen von etlichen Schwergewichten der Hirn- und Bewusstseinsforschung (z.B. Gerhard ROTH) als “Irrtum” abzuqualifizieren: Sie hätten offenbar übersehen, dass wir ja als bewusst handelnde Wesen ganz automatisch und selbstverständlich einen vollständig autonomen, freien Willen hätten.

Das könnte man vielleicht noch als eher abstrakten Streit auf der Theorieebene abtun. Aber: Es handelt sich ja auch um einen Ratgeber, also um ein Selbsthilfe-Buch.
Seine extrem vereinfachte Sicht auf Gehirn und Psyche bildet für der Autor leider auch die Grundlage für seine Tipps und Ratschläge: So einfach wie das Einschalten des Bewusstseins sind auch die Bekämpfung von lästigen oder quälenden Gedankenkreisläufen oder die Befreiung von inneren Blockaden. Man muss nur die Aufmerksamkeit auf seine Ziele lenken und sich an mögliche unbewusste Mechanismen erinnern – und schon hat man der “dunklen” Seite des Gehirns ein Schnippchen geschlagen…
Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man darüber lachen…

Es gibt zum Glück viele alternative Bücher, die seriöse Information über die Ergebnisse der modernen Neurowissenschaften liefern; das gleiche gilt für fachlich fundierte Selbsthilfeliteratur.
Dieses Buch muss es wirklich nicht sein!

“Determined” von Robert SAPOLSKY

Bewertung: 5 von 5.

Es kommt nicht ganz so häufig vor, dass man auf ein Sachbuch monatelang ungeduldig wartet (und es dann – natürlich – schon am Erscheinungstag zu lesen beginnt). Der international bekannte Biologe, Neurowissenschaftler und Primatenforscher Robert SAPOLSKI hat genau das mit seinem neuen Werk bei mir ausgelöst.
Nach ein paar Tagen kann ich jetzt eine Bilanz ziehen.

Der Autor holt die Themen “Determiniertheit” und “Willensfreiheit” mit einer bemerkenswerten Konsequenz aus dem Jahrhunderte währenden Wust philosophischer Spekulationen in die Welt der Naturwissenschaften. Es geht ihm nicht darum, bestimmte (theoretisch, humanistisch oder theologisch abgeleiteten) Menschenbilder zu begründen oder zu widerlegen.
Ihn interessiert stattdessen eine zentrale Frage: Kann in unserem Gehirn – zum Beispiel bei der Planung oder Ausführung eines bestimmten Verhaltens – irgendetwas vor sich gehen, das NICHT von vorangegangenen Einflussfaktoren abhängig wäre – das also Raum für eine autonom getroffene freie Entscheidung ließe?
Seine Antwort lautet: “Nein!”.
Im ersten Teil seines Buches versucht SAPOLSKI, dieses klare Statement zu untermauern, um dann (für ihn die schwierige Aufgabe) über soziale und gesellschaftliche Konsequenzen dieser Sichtweise nachzudenken.

SAPOLSKY ist ein fleißiger und systematischer Mensch, der schon in seinem 2017 erschienenen Standardwerk “Behave” (deutsch 2021: “Gewalt und Mitgefühl“) unter Beweis gestellt hat, in welch unfassbar breitem Umfang er auf Literatur und Forschungsbefunde zum Zusammenhang zwischen – im weitesten Sinne biologischen – Faktoren und menschlichem Verhalten zurückgreifen kann.

Als Ordnungsprinzip dient auch im aktuellen Buch die Zeitachse: SAPOLSKY beginnt den Blick auf die (seiner Überzeugung nach “lückenlose”) Kette prägender bzw. bestimmender Kausalitäten bei den neurologischen Prozessen, die einer Entscheidung bzw. Handlung im Millisekunden-Bereich vorausgehen – und endet bei Grundprinzipien von Genetik, Zellbiologie und Umweltanpassungen, die Millionen Jahre weit in die Evolutionsgeschichte zurückreichen.
Auf jeder Ebene (aktueller neuronaler Zustand, Hormonstatus der letzten Minuten/Stunden, Erfahrungen der letzten Stunden/Tage, prägende Lebensereignisse im Erwachsenenalter, Jugend, Kindheit, soziale und kulturelle Umwelt, embryonale Umgebung, genetische Ausstattung und epigenetische Einflüsse, Evolutionsgeschichte) führt SAPOLSKY mit Hilfe entsprechender Befunde exemplarisch vor, wie sich Unterschiede in all diesen Variablen auf den Zustand einer Person (und ihres Gehirns) zum gegenwärtigen Zeitpunkt auswirken.
Am Ende jedes Kapitels stellt er die (rhetorische) Frage, ob durch die gerade aufgeführten Prägungen ein Verhalten vollständig determiniert sei. Natürlich nicht! Aber: Zu welchem Ergebnis kommt man, wenn man all diese Einflüsse (und ihre Interaktionen) zu einer gemeinsamen Kausalkette aufsummiert?!
Der Autor weist unablässig auf einen – für seine Gesamtsicht – entscheidenden Umstand hin: Niemand hatte über die diskutierten Faktoren selbst eine Kontrolle!

Während viele aufgeklärte und wissenschaftsaffine Menschen der Darstellungen wohl soweit folgen würden, wird es beim nächsten Argumentationsschritt echt spannend:
Nicht nur sind bestimmte Merkmale und Erfahrungen durch Biologie bzw. Lebensumstände vorgeprägt (und damit fremdbestimmt), auch die Ressourcen und Optionen, auf diese Ausgangslage zu reagieren (z.B. mit Anstrengung, Disziplin, Ehrgeiz oder Selbstüberzeugung), sind ja selbst wieder das Ergebnis der entsprechenden biologisch-psychologischen manifestierten Einflussfaktoren: Die Fähigkeit zu Belohnungsaufschub, Impulskontrolle und Stressregulation sucht man sich ja nicht im Rahmen einer freien Entscheidung aus!
SAPOLSKY wäre nicht SAPOLSKY, wenn er nicht auch für diese These einen ganzen Korb von Forschungsergebnissen anbieten könnte.
Letztlich bleibt aus Sicht des Autors unterm Strich tatsächlich keinerlei “Lücke” für die Wirkung eines freien Willens, also einer Instanz, die sich von all den kumulativen beschriebenen Verursachungslogiken abkoppeln könnte.

Möglichen Vorwürfen, sich an einem längst “überholten” deterministischen und reduktionistischen Weltverständnis festzuklammern, tritt der Autor mit einem bemerkenswerten Aufwand entgegen. In einer kaum zu übertreffenden Gründlichkeit und Systematik schaut er sich an, in wie weit Aspekte der “modernen” Physik – Chaostheorie, Emergenz-Phänomene in komplexen Systemen und Quantenphysik – sich dafür eignen, als Quelle für eine undeterminierte Willensfreiheit zu dienen.
Sein Resümee: Sie taugen dafür nicht (insbesondere, weil Zufall nichts mit Willensautonomie zu tun hat).

Kommen wir zum zweiten Teil, also zu den gesellschaftlichen Auswirkungen.
SAPOLSKY ist sich darüber bewusst, welch zentrale Bedeutung Konzepte wie Autonomie und Willensfreiheit im persönlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Verständnis vom Menschsein haben. Er stellt sich explizit die Frage, ob es überhaupt vertretbar sein könnte, an diesen Sichtweisen zu rütteln: Bräche nicht möglicherweise unsere Moral, die gesamte Zivilisation zusammen, wenn Menschen sich und andere nicht mehr als “verantwortlich” für ihre Entscheidungen und Taten betrachten würden?
SAPOLSKY stellt sich an diesem Punkt nicht als souveräner Wissenschaftler dar, sondern ringt mit sich selbst um passende Antworten. Er findet sie u.a. in dem zunehmend aufgeklärten Umgang mit Phänomenen wie Epilepsie, Schizophrenie oder Autismus: Der Fortschritt der Wissenschaft hat es ermöglicht, Opfer von Gehirnerkrankungen nicht mehr als Hexen zu verbrennen, Mütter von (biologisch begründeten) Psychosen nicht mehr als “Verursacherinnen” abzustempeln und sinnvolle therapeutische Maßnahmen für neurologische Fehlfunktionen zu entwickeln.

Seiner Logik nach wäre die Anerkennung und Berücksichtigung der generellen Determiniertheit menschlichen Verhaltens ein nächster Schritt in Richtung Humanität und Gerechtigkeit. Zwar würde man den Menschen auf der Sonnenseite des Lebens ihren Stolz auf ihre Lebensleistung schmälern (“ihr hattet einfach die günstigeren Bedingungen”). Gleichzeitig wäre aber das große Leid all der “Verlierer” relativiert, die sich endlich nicht auch noch selbst dafür zermartern müssten, dass sie es nicht – wie andere – geschafft haben, ihre guten Startchancen zu nutzen oder ihre frühe Benachteiligung durch intensivere Bemühungen auszugleichen.
SAPOLSKY ist überzeugt, dass die Kenntnisnahme der realen Kausalitäten nicht zu einem moralischen Verfall führen würde (ebenso wenig wie die nachlassende religiöse Bindung).
In einem längeren Kapitel widmet er sich den Auswirkungen auf den Umgang mit Straftaten: Wie könnte eine (vom Konzept der Willensfreiheit abggekoppelte) Gesellschaft mit Verantwortung, Schuld und Strafe umgehen?
Seine Antworten darauf sind durchaus logisch – stehen aber im deutlichen Widerspruch mit intuitiven emotionalen Bedürfnissen der meisten Menschen nach “echter” Bestrafung von Übeltätern.

Das Lesen dieses (leider bisher nur in Englisch verfügbaren) Buches, ist ohne Zweifel ein großartiges intellektuelles und ein spannendes emotionales Vergnügen.
Dazu trägt nicht nur die wissenschaftliche Qualifikation des Autors bei, sondern auch sein Schreibstil, in dem er sich als eine Person zeigt, die leidenschaftlich eine (aufklärerische) Mission verfolgt, die manchmal an (allzu naiven) Gegenpositionen verzweifelt (und darauf auch immer wieder humorvoll reagiert) und die hin und wieder auch an die Grenzen bei der Umsetzung eigener Überzeugungen stößt.
Wegen der zentralen Bedeutung und der kaum zu überschätzender Tragweite der hier diskutierten Grundsatzfragen, wird kein/e Leser/in unbeteiligt bleiben können. Es ist kaum vorstellbar, dass sich bei jemandem an keiner Stelle Widerstand regt, der Kopf geschüttelt wird oder gar die Haare zu Berge stehen. An unzähligen Stellen dieses Textes wird man die Herausforderung spüren, eine eigene Position zu den Darlegungen des Autors zu beziehen.
Meine Prognose: Wenn man wirklich bereit ist, sich auf die Argumentation einzulassen, wird das nicht immer so ganz einfach sein (“eigentlich hat er ja Recht, aber kann und darf das wirklich alles so sein???”).

Am Ende nochmal ein persönlicher Blick:
Ja, 90% meiner Erwartungen wurden erfüllt: Für mich der bisher beste Versuch, Willensfreiheit naturwissenschaftlich zu fassen. In einigen Bereichen war ich geradezu überwältigt von der Stringenz und Konsequenz der Argumentation (moderne Physik und die Konzepte von Vorhersagbarkeit und Determiniertheit). Absolut faszinierend war immer wieder die Vielfalt von Einzelbeispielen hinsichtlich der prägenden Faktoren und ihres Zusammenspiels.
Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sich der Autor bei bestimmten Beispielen ein wenig festgebissen hat (Geschichte der Epilepsie und des Hexenwahns) – er war wohl an diesen Punkten selbst begeistert, wie gut sich diese Phänomene in seinen Roten Faden einfügten.

Ein bisschen mehr erwartet hätte ich im Bereich der psychologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen: Ich hätte gerne auf einen Teil der Ausführungen über den Bereich Kriminalität verzichtet, wenn SAPOLSKY dafür etwas breiter auf die eher alltäglichen Folgen eines “Lebens ohne Willensfreiheit” eingegangen wäre: Wie geht man tatsächlich in der innerpsychischen Welt mit dem Widerspruch zwischen subjektiv erlebter Autonomie und dem Wissen der Determiniertheit um? Welche Rolle spielt das Konzept von Verantwortung und Autonomie in Erziehung und Therapie? Braucht man diese Konzepte nicht – unabhängig von ihrem Realitätsgehalt, weil sie als im Gehirn repräsentierte Konzepte eben auch (kausale) Verhaltenswirksamkeit haben? Welche Rolle spielt überhaupt die gezielte Beeinflussung durch Werbung, Propaganda oder Aufklärung (all das verändert ja als Teil der großen Kausalkette das Gehirn)?
All das wird zumindest angedeutet, hätte aber mehr Raum verdient.

Man mag aufgrund dieser Rezension den Autor für einen irgendwie menschenfeindlichen Fundamentalisten halten, der den Menschen einen Kernpunkt ihrer Würde absprechen möchte. Das ist SAPOSKY ganz eindeutig nicht! Es sind (über Jahrzehnte angesammeltes) Wissen, eine Tendenz zur intellektuellen Stringenz und die Sehnsucht nach einer aufgeklärten Menschheit, die diesen Autor umtreiben.

Er weiß selbst, dass er den Großteil seiner Leserschaft nicht vollständig überzeugen wird. Ihm ist klar, dass die Allermeisten eine kleine Ecke für die “alten” Konzepte bewahren werden (wir verteidigen mit gutem Grund die Basis unseres Selbstbildes). Er selbst formuliert ein realistischeres Ziel: SAPOLSKY würde mit diesem Buch gerne erreichen, dass möglichst viele Menschen ein Konzept und ein Gefühl dafür entwickeln, dass wir weit weniger “unseres Glückes Schmied” sind, als das der gesunde Menschenverstand oder bestimmte politische Ideologie uns suggerieren wollen. Ja, viele von den Erfolgreichen haben sich angestrengt und haben auch widrige Bedingungen überwunden – aber sie hatten dafür eben auch die Voraussetzungen (von denen einige sehr wahrscheinlich schon bei der Gehirnentwicklung im Mutterleib geschaffen wurden)!
Wenn nur die (durch nicht selbst geschaffene und kontrollierte Bedingungen) Privilegierten unter uns mit weniger Selbstgewissheit und Arroganz auf “die da unten” schauen würden und ihnen nicht noch die Schuld für ihre weniger glückliche Lage zuschreiben würden – dann wäre SAPOLSKY sicher mit der Wirkung seines Buches zufrieden.