“Das dritte Herz des Oktopus” von Dirk ROSSMANN und Ralf HOPPE

Bewertung: 2.5 von 5.

Warum liest (hört) man den dritten Teil einer Reihe, wenn man schon vom zweiten ziemlich enttäuscht war? Wohl, weil die Kombination von Klima- bzw. Nachhaltigkeits-Themen und dem Spannungs-Genre irgendwie attraktiv und sinnvoll erscheint. Und weil die Hoffnung bestand, dass vielleicht der Oktopus endlich mal eine tragende Rolle bekommen könnte…

Tatsächlich erweckten die beiden Autoren zu Beginn der Story den Eindruck, als ob es diesmal wirklich um diese faszinierende Art gehen könnte – hat sich doch so eine Riesen-Intelligenzbestie an die deutsche Ostseeküste verirrt. Leider stellt sich dann bald heraus, dass eher die Eier (“das Gelege”) des Monstrums im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Oder – besser gesagt – bestimmte Mikroorganismen, die mit ihrer Hilfe entwickelt und dann auf die Menschheit losgelassen werden, um… (Spoiler-Alarm).

Wir bewegen uns am Beginn der 2030-iger Jahre. Nationalstaaten gibt es zwar noch, aber alle wichtigen Entscheidungen werden vom Klima-Weltregierung gefällt. Es gibt aber eine Aktivisten-und Widerstandsgruppe, die besonders die Interessen der Bevölkerung des Süd-Pazifiks vertritt; aus deren Sicht reichen die Maßnahmen der Mainstream-Klimaretter nicht aus. Das führt zu Konflikten und setzt für den Roman einen spektakulären Kidnapping-Auftakt.

Irgendwie geht es letztlich um die Zukunft der Menschheit, denn die wird massiv angegriffen – teils aus wissenschaftlicher Hybris, teils aus materieller Gier.
Wie gut, dass es den – eigentlich gar nicht zum Helden geborenen – Beamten der Klima-Regierung in Kapstadt gibt und seine weltbekannte Pop-Star-Freundin (wer die Logik dieser Paar-Beziehung versteht, möge sich bei mir melden).
Ja, es gibt auch einen abgedrehten Wissenschaftler, einen psychopatischen Milliardär, eine mysteriöse Umwelt-Aktivistin, einen egomanischen Verteidigungsminister und ein paar Nebenfiguren – meistens sehr leicht in “gut” und “böse” zu kategorisieren.
Wie das alles zusammenhängt, versucht der Plot dieses “Thrillers” möglichst so zu enthüllen, dass dabei so etwas wie ein Spannungsbogen entsteht.

Leider kann der Roman weder den Oktopus-, noch den Entführungsfaden wirklich sinnvoll weiterspinnen. Der Stoff, der letztlich entsteht, sieht eher nach einem notdürftig zusammengehaltenen Flickenteppich aus: Alles wirkt reichlich unplausibel und konstruiert.
Manche Einzelheiten wirken absurd: So wird z.B. im Laufe des Romans ernsthaft darüber nachgedacht, ob ein nachgewiesener Mehrfach-Mörder vielleicht doch nur Gutes im Sinn hatte…

Ja, es gibt auch in diesem Roman ein paar Stellen, an denen die Dramatik des Klimawandels thematisiert wird und ethische Grundsatzfragen aufgeworfen werden: Wie weit darf man gehen, um wenigstens einen Teil der Menschheit zu retten? Muss man vielleicht den Menschen selbst manipulieren, damit er nicht alles zerstört?
Leider spielen solche spannenden Fragen im Getümmel der teilweise action-lastigen Handlung nur eine kleine Nebenrolle.

Für die 770 Seiten (bzw. 23 Std.) bietet dieser Roman eindeutig zu wenig Substanz – jedenfalls, wenn man mehr als Unterhaltung möchte. Angesichts des rasenden Fortschritts der Künstlichen Intelligenz verwundert und enttäuscht es dabei auch, wie wenig KI-Zukunftsvisionen in diesen Roman eingeflossen sind.

Falls es noch eine Oktopus-Fortsetzung geben sollte – dann jedenfalls ohne mich.

“Mache die Welt” von Richard David PRECHT

Bewertung: 4 von 5.

Die ursprünglich auf drei Bände ausgelegte Philosophiegeschichte ist jetzt im 20. Jahrhundert angekommen. An drei (oder vier) Stellen erfahren wir im Text, dass ein fünfter Band folgen wird. PRECHT nimmt sich also Zeit und Raum für dieses große Projekt.
Im Kontext dieser Publikation spielt der Umstand, dass der Autor seit einiger Zeit wegen seiner Statements zu gesellschaftlich-politischen Fragen umstritten ist, keine Rolle.
Wir bewegen uns hier in einem anderen, einem historischen und fachlichen Raum.

Im Einleitungskapitel spannt der Autor den großen Bogen über die von ihm betrachtete “Philosophie der Moderne”. Vermutlich steckt gerade in dieser Meta-Perspektive eine besonders kreative Leistung des Autors. Viele Leser/innen wird dieser komprimierte Auftakt aber vermutlich zu diesem Zeitpunkt überfordern; es ist sicher ein Gewinn, wenn man sich diesem Textteil nochmal nach der Lektüre des Buches zuwendet.

Wie in den bisherigen Bänden verbindet PRECHT kontinuierlich die inhaltlichen Linien mit den Denker-Persönlichkeiten, durch die sie entwickelt und vertreten werden. Ein Blick auf das Personenregister verstärkt den Eindruck, den man auch beim Lesen bekommt: Mit ca. 400 Namen wird eine kaum zu überblickender Szenerie aufgemacht: Wie kann man durch diesen Irrgarten so geführt werden, dass einem nicht schwindelig wird?
In seiner tabellarischen Übersicht beschränkt sich PRECHT auf 41 Autoren (ja, es sind alles Männer). Von diesen Philosophen erfahren wir – in der gewohnten Gründlichkeit – nicht nur ihre Grundideen und wichtigsten Werke, sondern auch jeweils (mehr oder weniger ausführliche) biografische Daten: wo geboren, welcher Ausbildungsweg (welche Unis und Dozenten), welche beruflichen Stationen (bes. Lehrtätigkeiten), welche Querbezüge zu Mitstreitern, Konkurrenten und Nachbarwissenschaften, welche gesellschaftliche bzw. politische Verbindungen, welches Ende? Nicht jeder Leser/jede Leserin wird das alles so genau wissen wollen. Wer es aber wissen möchte, findet es hier.
Von wem ist nun die Rede? Die einem breiteren Publikum bekanntesten Namen wären wohl: Sigmund Freud, Edmund Husserl, Bertrand Russell, Martin Buber, Karl Jaspers, Ernst Bloch , Martin Heidegger, Rudolf Carnap, Ludwig Wittgenstein und Walter Benjamin.

Das eigentliche Herzstück dieser Publikation (und der ganzen Reihe) liegt darin, dass zwar einzelnen Personen (oder einer kleinen Gruppe) jeweils ein Kapitel gewidmet wird, innerhalb dieser Kapitel aber nicht nur eine bestimmte Denkrichtung vorgestellt wird, sondern auch permanent nach Bezügen/Querverbindungen Ausschau gehalten wird. So wechselt PRECHT innerhalb eines Kapitels von ca. 40 Seiten (geschätzt) mindestens zehnmal zwischen der Darstellung der Kernaussagen bestimmter Publikationen und der Einordnung in die großen philosophischen Fragestellungen bzw. Kontroversen dieser Epoche – einschließlich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede so anderen “benachbarten” Denkern. Zu dieser schon beeindruckenden Komplexität tritt dann noch die Einbeziehung der jeweiligen individuellen Entwicklung von Konzepten und Theorien – denn kaum einer der besprochenen Denker landet am Ende dort, wo er begonnen hat.
Diese Art der Aufbereitung bietet ein Grad der Durchdringung, die z.B. Lexikonartikel oder die Lektüre von Original-Literatur nicht bieten könnte. Auch wenn sie letztlich zusätzliche Leitlinien bietet, schafft diese Darstellung ein Ausmaß an Komplexität, das nur mit großer Konzentration zu bewältigen ist. Querlesen hilft hier gar nicht!
Wem es gezielt um Informationen über einen einzelnen Philosophen geht, der/die wird möglicherweise aus Gründen der Übersichtlichkeit andere Quellen bevorzugen.

Um es kurz zu sagen: Eine fünfbändige Geschichte der Philosophie ist nun mal keine Einführung. Diese Bücher wollen erarbeitet werden, vielleicht auch nach einem ersten Durchgang noch ein zweites Mal als Vertiefung.
Ein Teil des philosophisch interessierten Publikums hätte sich ohne Zweifel eine Light-Version gewünscht – mit einer Beschränkung auf die ganz großen Linien und unter Verzicht auf Differenzierungen und Exkurse (die der “Normal-Leser” sowieso nicht in Gänze erfassen oder gar behalten kann).
Toll wäre es auch gewesen, wenn die beiden übersichtlichen Zeitleisten am Beginn des Buches um eine tabellarische Übersicht ergänzt worden wären, die eine Zuordnung von Autoren zu grundlegenden inhaltlichen Kategorien bzw. großen Denkschulen gezeigt hätte (also z.B. ihre Nähe zum Idealismus, Empirismus, zu andern Wissenschaften und zu gesellschaftlichen bzw. zeitgeschichtlichen Themen).

Wer PRECHT bis hierher gefolgt ist, wird dieses – wohl aktuell konkurrenzlose – Projekt sicher “rund” machen wollen; auf den letzten Band wir man aber sicher wieder zwei bis drei Jahre warten müssen.

“Free Agents” von Kevin J. MITCHELL

Bewertung: 5 von 5.

Noch vor wenigen Tagen habe ich ein anderes Buch mit 5 Sternen bewertet, das bei dieser Fragestellung zu einer deutlich anderen Schlussfolgerung kommt (“Determined” von Robert SAPOLSKY).
Wie kann das sein? Es können doch schließlich nicht beide Recht haben…

Nun – unabhängig vom Ergebnis seiner Betrachtungen hat MITCHELL schlichtweg ein herausragendes Buch geschrieben: extrem informativ, didaktisch geradezu vorbildlich aufgebaut bzw. ausgearbeitet und in einem klaren, einladenden Stil geschrieben.
Darüber hinaus bringt der Autor inhaltlich eine bemerkenswerte Vielfalt von eigenen Sichtweisen und kreativen Konzepten ein.
Dafür gebührt ihm uneingeschränkte Anerkennung!

Der Autor möchte seine Leserschaft davon überzeugen, dass lebende Systeme in unserem Universum einen Sonderstatus haben. Mögen auch die physikalischen Objekte durch das Wirken der Naturkonstanten und -gesetze weitestgehend determiniert sein – Lebewesen (im Buch ist überwiegend von Tieren die Rede) – schaffen sich eine eigene kleine Welt.
In diesem abgegrenzten Raum werden zwar die Regeln der Teilchenphysik nicht außer Kraft gesetzt, aber die Dynamik der Evolution schafft eine neue Dimension: Organismen haben ein eigenes Ziel (Überleben bzw. Fortpflanzen), werden von inneren Prozessen bestimmt (Energie aufnehmen; Reste entsorgen), entwickeln interne Kontroll- und Steuerungsmechanismen und entwickeln sich damit zu Wesen mit einer eigenen kausalen Kraft. Dieses Handeln auf der Basis von Gründen lässt sich – da ist der Autor sicher – nicht auf die rein mechanischen physikalischen Regeln auf der untersten Ebene reduzieren.

Auf der Grundlage dieser Logik traut sich MITCHELL jetzt an das verminte Thema der Willensfreiheit heran. Wenn einfachste Lebewesen schon ihr basales Verhalten auf der Basis eigener Bewertungen (“was nützt gerade meinem Weiterleben?”) steuern – warum sollte es dann einen Zweifel daran geben, dass Tiere mit komplexen, zentralen und hierarchisch gegliederten Kontrollzentren (Gehirnen) ihre Entscheidungen nicht “frei” von einer vorgegebenen, rein physikalisch begründeten Determiniertheit treffen?
So weit, so klar.

MITCHELL will aber mehr! Für ihn setzt die Freiheit des Willens voraus, dass auch die jeweiligen biologischen Strukturen des Systems und die in ihnen gespeicherten bisherigen Erfahrungen zwar die potentiellen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten beschränken, aber diese nicht festlegen. Auch die Prinzipien einer biologischen oder psychologischen Determiniertheit lehnt der Autor also ab.
Damit rettet er nicht nur die Willensfreiheit, sondern auch die uns vertrauten Konzepte von Verantwortung und Schuld.

Was ich hier so lapidar komprimiert und vereinfacht dargestellt habe, wird in diesem Buch in einer faszinierenden Breite und Tiefe aufbereitet. MITCHELL bietet so ganz nebenbei ein nahrhaftes und gut verträgliches Einführungs-Menü in die Entstehung des Lebens, die Zellbiologie, die Logik der Evolution und die neurowissenschaftlichen Grundlagen. Was jedoch nicht heißt, dass man nicht auch noch eine Portion Quantenphysik zum Nachtisch bekäme und eine philosophische Einbettung als Aperitif. Gut verdauliches Wissen im Überfluss!

Und der freie Wille? Wird er jetzt endgültig bewiesen – statt philosophisch nun eben biologisch? So einfach ist das dann doch nicht…
Man kann MITCHELL an keiner Stelle nachsagen, dass er die naturwissenschaftliche Argumentationslinie verlassen hätte; er grenzt sich zuverlässig von allen metaphysischen Zusatzannahmen ab. Er will den freien Willen innerhalb des Systems – nicht von außen eingeflogen. Und er gibt sich viel Mühe, eine “realistische und alltagstaugliche” Definition der Willensfreiheit zu finden (die sich deutlich von einer “absoluten”, von vorherigen Einflüssen unabhängigen Auslegung unterscheidet.
Aber er nimmt sich die “Freiheit”, bestimmte Zusammenhänge so zu bewerten, dass es für seine Position gut aussieht. Zwar beschreibt er durchaus – gewohnt sorgfältig und sprachlich gewandt – zahlreiche Faktoren, die eine Person (und ihr Gehirn) im Laufe einer Biografie prägen und damit Einfluss auf Art und Ausmaß der “bewussten und rationalen Kontrolle” nehmen. Er hält aber die kausale Kraft dieser Prägungen – bis auf wenige extreme Ausnahmen – für nicht ausreichend, um die Entscheidungsfreiheit in Frage zu stellen. Dabei übergeht er insbesondere jeden Gedanken an mögliche kumulierten Effekte, die z.B. durch das überzufällige Zusammentreffen mehrerer ungünstiger Lebensumstände entstehen könnte.

Man hat an diesen Stellen das Gefühl, dass der Autor einfach (bewusst oder unbewusst) “beschlossen” hat, dass es keinen Grund dafür geben soll, an traditionellen Alltagskonzepten von Autonomie und Selbstverantwortung zu rütteln.
Hier hätte man mehr (wissenschaftliches) Abwägen erwartet! Statt dessen äußert sich MITCHELL sogar eher kritisch zu neueren juristischen Tendenzen, psychische und neuronale Besonderheiten auch jenseits der klassischen psychiatrischen Erkrankungen bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen. Möglicherweise hat der exzellente Biologe MITCHELL auch einfach ein etwas begrenztes Einfühlungs- und Vorstellungsvermögen hinsichtlich biografischer Hypotheken und Verletzungen.

Trotz aller spannenden Zusatzbetrachtungen zur Rolle von quantenmechanischen Unschärfen als Grundlage für die Freiheit im Gehirn und trotz der wirklich kreativen Ausflüge in bestimmte philosophische Gedankengebäude: Letztlich hängt auch am Ende dieses bemerkenswerten Buches die Frage des freien Willens davon ab, wie groß man die kausale Lücke einschätzt, die sich nach Berücksichtigung wirklich aller (nicht selbst beeinflussbaren) Vorbedingungen in einer Entscheidungssituation ergeben könnte: Konnte ich als die Person, die zu diesem Zeitpunkt so geworden und gewesen ist, tatsächlich anders handeln? Während SAPOLSKY an dieser Erklärungs-Lücke grundsätzlich zweifelt, liegt hier für MITCHELL die Begründung für die Freiheit.
Das kann man so sehen! Die Eindeutigkeit und Begründung dieses Urteils passt aber nicht zu der ansonsten brillanten Argumentationsführung von MITCHELL.

Ein tolles und ohne Zweifel lesenswertes Buch (bisher nur auf Englisch verfügbar), das zu einer insgesamt “bequemen” und beruhigenden Schlussfolgerung kommt, deren Gültigkeit aber zumindest sehr fraglich erscheint.

“Holly” von Stephen KING

Bewertung: 3.5 von 5.

KING schafft durch den Rückgriff auf eine aus vorigen Romanen bekannte Figur für Fans schnell eine große Vertrautheit. Die biografisch durchaus belastete “Privatermittlerin” Holly ist – ebenso wie einige Personen aus ihre Umfeld – sympathisch und bietet einen hohen Identifikationsanreiz.
Dagegen setzt KING mal wieder das “absolut BÖSE”, diesmal in Form eines alten Professoren-Ehepaars, das mordet, um sich selbst gesund zu erhalten. Statt mit Horror arbeitet KING also in diesem Roman mit den ziemlich unappetitlichen Neigungen eines vermeintlich harmlos-unauffälligen Seniorenpaars.

Obwohl man als Leser/in sehr schnell mit den Zusammenhängen vertraut gemacht wird (man kennt ja die Täter und ihre Motive) und man eigentlich “nur” der Ermittlerin bei der Arbeit zuschaut, bastelt der Autor natürlich auch diesmal einen wirkungsvollen Spannungsbogen. Das hat damit tun, dass KING ja bekannterweise mit seiner insgesamt unaufgeregten Stils trotzdem immer wieder einen erzählerischen “Sog” herstellt, dem man sich kaum entziehen kann.
Hilfreich ist auch, dass einem auch die Nebenfiguren und ihre persönlichen Ziele und Belange schnell ans Herz wachsen. Nicht besonders überraschend ist es für den leidenschaftlichen Vielschreiber, dass es (auch) in diesem Roman viel um literarische Themen geht.
Der Autor hat – wenn er sich nicht gerade auf der Täterseite austobt – einen sensiblen Blick und eine ausgeprägte Empathie für “normale” Menschen. Insbesondere in der Schlussphase des Romans rühren seine Schilderungen der Erfahrungen und Emotionen der Betroffenen wirklich an.

Schwierig und etwas widersprüchlich erscheint seine Auseinandersetzung mit dem “Bösen” – ganz offensichtlich ein Lebensthema des Autors. Irgendwie kann er sich nicht so recht einigen, ob die Täter nun “verrückt” oder die “Inkarnation des Bösen” sind – oder beides gleichzeitig?
Während KING seine positiven oder neutralen Figuren mit einigem psychologischen Feingefühl entwirft und begleitet, setzt er das in gewisser Weise “Böse” absolut. Es kommt aus einer dunklen Gegenwelt des Wahnsinns oder aus sonstigen tiefen menschlichen Abgründen, die sich einer differenzierten Ableitung oder Erklärung scheinbar entziehen.

Diese totale Abspaltung der (extremen) Schattenseiten menschlicher bzw. psychischer Entwicklung mag für die Dynamik des Plots ja durchaus nützlich sein; wirkt aber auf eine enttäuschende Weise holzschnittartig und undifferenziert.
Ob KING diese scharfe Grenze für sein persönliches Menschenbild braucht, können KING-Kenner sicher besser beurteilen; die Qualität des Romans wird dadurch ein wenig eingeschränkt.

Nach dem (endgültigen?) Abklingen der Corona-Pandemie wirken die häufigen Bezüge zu der Erkrankung und zu den darauf bezogenen Konflikten (Masken, Impfen) schon ein wenig ungewohnt, fast befremdlich: War das wirklich alles so schlimm und dominant?
Das war es wohl – in den USA sicher noch stärker als bei uns.
Ein zeitgeschichtlicher Bezug – auch wenn er eindeutig wertend ausfällt (für Impfen und gegen Trump) schadet m.E. dem Roman nicht.

Mein Tipp: Wenn schon KING, dann gelesen von David Nathan.

“Die dunkle Seite des Gehirns” von Prof. Stefan KÖLSCH

Bewertung: 1.5 von 5.

Dieses Buch wirft die Frage auf, wieviel Vereinfachung in einem populärwissenschaftlichen Ratgeber-Sachbuch “erlaubt” ist. Unabhängig von dem möglichen Streit um die Feinjustierung einer solchen Schwelle: Hier wurde des “Guten” zu viel getan und eindeutig eine Grenze überschritten !

Der Autor vermittelt in diesem Buch durchaus eine ganze Menge Wissen. Er schreibt über alle möglichen “unbewussten” Vorgänge im Gehirn und trägt dafür experimentelle Befunde aus ganz verschiedenen Fachdisziplinen zusammen. Wir erfahren etwas von evolutionär früh geprägten Alarm-, Stress- und Regulationssystemen, von automatisierten Verhaltensroutinen, von irrationalen und belastenden Gedankenkreisläufen, von (kognitiven) Verzerrungen unserer Wahrnehmung und unseren Bewertungsreaktionen, usw. Die Befunde entstammen u.a. aus Verhaltensforschung, Sozialpsychologie, Verhaltensökonomie, Wahrnehmungspsychologie und Neurowissenschaften.

Es ist sicher ganz interessant, auf diesem Weg zu erfahren, was unser Gehirn alles leistet, ohne dass uns diese Inhalte und Prozesse bewusst werden. Ebenfalls lehrreich ist es, sich klarzumachen, dass all diese verschiedenartigsten Vorgänge zwar einerseits einen hohen Überlebenswert hatten (und haben) und auch absolut notwendig notwendig sind, um die begrenzten Kapazitäten unserer bewussten Informationsverarbeitung vor hoffnungsloser Überlastung zu schützen. Und dass diese Prozesse andererseits auch Nachteile und Risiken in sich tragen, u.a. weil sie in einer Zeit ausgebildet wurden, in der es um das Überleben in der Savanne und nicht in einem digital-vernetzten Großraumbüro ging.
Spannend ist auch, wie bedeutsam für unsere automatischen Funktionen und Bewertungen die Zugehörigkeit bzw. Anpassung an die Bezugsgruppe sind.
Der Autor bietet damit einem (bisher nur dezent vorinformierten) Publikum sicherlich eine Menge Stoff zum Nachdenken und zum Staunen.

Es gibt allerdings zwei bedeutsame Gründe, warum dieses Buch m.E. trotzdem alles andere als empfehlenswert ist:

Aus fachlicher Sicht ist die Zusammenfassung all der beschriebenen Phänomene in einer Instanz namens “Unterbewusstsein” tatsächlich auch dann nicht akzeptabel, wenn man einen Schwerpunkt auf eine möglichst einfache und prägnante Darstellung legt. Der Autor benutzt den Begriff so inflationär, dass immer mehr der Eindruck entstehen muss, hier sei sozusagen eine klar definierte Funktionseinheit in unserem Gehirn (in seiner “dunklen” Seite) für all die dargestellten Prozesse verantwortlich.
Das wird der Komplexität unserer extrem vernetzten neuronalen Netzwerke nicht einmal ansatzweise gerecht; hier wird tatsächlich die Realität verfälscht.

Noch problematischer ist eine zweite Botschaft:
KÖLSCH erweckt den Eindruck, dass diesem unbewussten System ein genauso klar definierter “bewusster” Gehirnteil gegenüberstände. In einer geradezu abenteuerlichen Eindeutigkeit postuliert der Autor die Möglichkeit, auf dieser bewussten Ebene all den im Untergrund wirksamen Prägungen flugs zu entkommen.
Es scheint wie ein Kippschalter zu funktionieren: Schalten wir unser Bewusstsein ein (indem wir uns z.B. bestimmte Fragen stellen oder uns an unsere Ziele erinnern), erheben wir uns über unseren biologisch-evolutionären oder lebensgeschichtlichen Ballast und erlangen Freiheit und Autonomie. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute….
Die Vorstellung, dass der bewusste Anteil unseres Denken, Fühlen und Handelns in keinerlei Abhängigkeit von Vorerfahrungen und außerhalb jeder Kausalkette stände, ist so absurd, dass es einem fast den Atem verschlägt. Tatsächlich traut sich der Autor, mal so eben in einem Nebensatz die Sichtweisen von etlichen Schwergewichten der Hirn- und Bewusstseinsforschung (z.B. Gerhard ROTH) als “Irrtum” abzuqualifizieren: Sie hätten offenbar übersehen, dass wir ja als bewusst handelnde Wesen ganz automatisch und selbstverständlich einen vollständig autonomen, freien Willen hätten.

Das könnte man vielleicht noch als eher abstrakten Streit auf der Theorieebene abtun. Aber: Es handelt sich ja auch um einen Ratgeber, also um ein Selbsthilfe-Buch.
Seine extrem vereinfachte Sicht auf Gehirn und Psyche bildet für der Autor leider auch die Grundlage für seine Tipps und Ratschläge: So einfach wie das Einschalten des Bewusstseins sind auch die Bekämpfung von lästigen oder quälenden Gedankenkreisläufen oder die Befreiung von inneren Blockaden. Man muss nur die Aufmerksamkeit auf seine Ziele lenken und sich an mögliche unbewusste Mechanismen erinnern – und schon hat man der “dunklen” Seite des Gehirns ein Schnippchen geschlagen…
Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man darüber lachen…

Es gibt zum Glück viele alternative Bücher, die seriöse Information über die Ergebnisse der modernen Neurowissenschaften liefern; das gleiche gilt für fachlich fundierte Selbsthilfeliteratur.
Dieses Buch muss es wirklich nicht sein!

“Determined” von Robert SAPOLSKY

Bewertung: 5 von 5.

Es kommt nicht ganz so häufig vor, dass man auf ein Sachbuch monatelang ungeduldig wartet (und es dann – natürlich – schon am Erscheinungstag zu lesen beginnt). Der international bekannte Biologe, Neurowissenschaftler und Primatenforscher Robert SAPOLSKI hat genau das mit seinem neuen Werk bei mir ausgelöst.
Nach ein paar Tagen kann ich jetzt eine Bilanz ziehen.

Der Autor holt die Themen “Determiniertheit” und “Willensfreiheit” mit einer bemerkenswerten Konsequenz aus dem Jahrhunderte währenden Wust philosophischer Spekulationen in die Welt der Naturwissenschaften. Es geht ihm nicht darum, bestimmte (theoretisch, humanistisch oder theologisch abgeleiteten) Menschenbilder zu begründen oder zu widerlegen.
Ihn interessiert stattdessen eine zentrale Frage: Kann in unserem Gehirn – zum Beispiel bei der Planung oder Ausführung eines bestimmten Verhaltens – irgendetwas vor sich gehen, das NICHT von vorangegangenen Einflussfaktoren abhängig wäre – das also Raum für eine autonom getroffene freie Entscheidung ließe?
Seine Antwort lautet: “Nein!”.
Im ersten Teil seines Buches versucht SAPOLSKI, dieses klare Statement zu untermauern, um dann (für ihn die schwierige Aufgabe) über soziale und gesellschaftliche Konsequenzen dieser Sichtweise nachzudenken.

SAPOLSKY ist ein fleißiger und systematischer Mensch, der schon in seinem 2017 erschienenen Standardwerk “Behave” (deutsch 2021: “Gewalt und Mitgefühl“) unter Beweis gestellt hat, in welch unfassbar breitem Umfang er auf Literatur und Forschungsbefunde zum Zusammenhang zwischen – im weitesten Sinne biologischen – Faktoren und menschlichem Verhalten zurückgreifen kann.

Als Ordnungsprinzip dient auch im aktuellen Buch die Zeitachse: SAPOLSKY beginnt den Blick auf die (seiner Überzeugung nach “lückenlose”) Kette prägender bzw. bestimmender Kausalitäten bei den neurologischen Prozessen, die einer Entscheidung bzw. Handlung im Millisekunden-Bereich vorausgehen – und endet bei Grundprinzipien von Genetik, Zellbiologie und Umweltanpassungen, die Millionen Jahre weit in die Evolutionsgeschichte zurückreichen.
Auf jeder Ebene (aktueller neuronaler Zustand, Hormonstatus der letzten Minuten/Stunden, Erfahrungen der letzten Stunden/Tage, prägende Lebensereignisse im Erwachsenenalter, Jugend, Kindheit, soziale und kulturelle Umwelt, embryonale Umgebung, genetische Ausstattung und epigenetische Einflüsse, Evolutionsgeschichte) führt SAPOLSKY mit Hilfe entsprechender Befunde exemplarisch vor, wie sich Unterschiede in all diesen Variablen auf den Zustand einer Person (und ihres Gehirns) zum gegenwärtigen Zeitpunkt auswirken.
Am Ende jedes Kapitels stellt er die (rhetorische) Frage, ob durch die gerade aufgeführten Prägungen ein Verhalten vollständig determiniert sei. Natürlich nicht! Aber: Zu welchem Ergebnis kommt man, wenn man all diese Einflüsse (und ihre Interaktionen) zu einer gemeinsamen Kausalkette aufsummiert?!
Der Autor weist unablässig auf einen – für seine Gesamtsicht – entscheidenden Umstand hin: Niemand hatte über die diskutierten Faktoren selbst eine Kontrolle!

Während viele aufgeklärte und wissenschaftsaffine Menschen der Darstellungen wohl soweit folgen würden, wird es beim nächsten Argumentationsschritt echt spannend:
Nicht nur sind bestimmte Merkmale und Erfahrungen durch Biologie bzw. Lebensumstände vorgeprägt (und damit fremdbestimmt), auch die Ressourcen und Optionen, auf diese Ausgangslage zu reagieren (z.B. mit Anstrengung, Disziplin, Ehrgeiz oder Selbstüberzeugung), sind ja selbst wieder das Ergebnis der entsprechenden biologisch-psychologischen manifestierten Einflussfaktoren: Die Fähigkeit zu Belohnungsaufschub, Impulskontrolle und Stressregulation sucht man sich ja nicht im Rahmen einer freien Entscheidung aus!
SAPOLSKY wäre nicht SAPOLSKY, wenn er nicht auch für diese These einen ganzen Korb von Forschungsergebnissen anbieten könnte.
Letztlich bleibt aus Sicht des Autors unterm Strich tatsächlich keinerlei “Lücke” für die Wirkung eines freien Willens, also einer Instanz, die sich von all den kumulativen beschriebenen Verursachungslogiken abkoppeln könnte.

Möglichen Vorwürfen, sich an einem längst “überholten” deterministischen und reduktionistischen Weltverständnis festzuklammern, tritt der Autor mit einem bemerkenswerten Aufwand entgegen. In einer kaum zu übertreffenden Gründlichkeit und Systematik schaut er sich an, in wie weit Aspekte der “modernen” Physik – Chaostheorie, Emergenz-Phänomene in komplexen Systemen und Quantenphysik – sich dafür eignen, als Quelle für eine undeterminierte Willensfreiheit zu dienen.
Sein Resümee: Sie taugen dafür nicht (insbesondere, weil Zufall nichts mit Willensautonomie zu tun hat).

Kommen wir zum zweiten Teil, also zu den gesellschaftlichen Auswirkungen.
SAPOLSKY ist sich darüber bewusst, welch zentrale Bedeutung Konzepte wie Autonomie und Willensfreiheit im persönlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Verständnis vom Menschsein haben. Er stellt sich explizit die Frage, ob es überhaupt vertretbar sein könnte, an diesen Sichtweisen zu rütteln: Bräche nicht möglicherweise unsere Moral, die gesamte Zivilisation zusammen, wenn Menschen sich und andere nicht mehr als “verantwortlich” für ihre Entscheidungen und Taten betrachten würden?
SAPOLSKY stellt sich an diesem Punkt nicht als souveräner Wissenschaftler dar, sondern ringt mit sich selbst um passende Antworten. Er findet sie u.a. in dem zunehmend aufgeklärten Umgang mit Phänomenen wie Epilepsie, Schizophrenie oder Autismus: Der Fortschritt der Wissenschaft hat es ermöglicht, Opfer von Gehirnerkrankungen nicht mehr als Hexen zu verbrennen, Mütter von (biologisch begründeten) Psychosen nicht mehr als “Verursacherinnen” abzustempeln und sinnvolle therapeutische Maßnahmen für neurologische Fehlfunktionen zu entwickeln.

Seiner Logik nach wäre die Anerkennung und Berücksichtigung der generellen Determiniertheit menschlichen Verhaltens ein nächster Schritt in Richtung Humanität und Gerechtigkeit. Zwar würde man den Menschen auf der Sonnenseite des Lebens ihren Stolz auf ihre Lebensleistung schmälern (“ihr hattet einfach die günstigeren Bedingungen”). Gleichzeitig wäre aber das große Leid all der “Verlierer” relativiert, die sich endlich nicht auch noch selbst dafür zermartern müssten, dass sie es nicht – wie andere – geschafft haben, ihre guten Startchancen zu nutzen oder ihre frühe Benachteiligung durch intensivere Bemühungen auszugleichen.
SAPOLSKY ist überzeugt, dass die Kenntnisnahme der realen Kausalitäten nicht zu einem moralischen Verfall führen würde (ebenso wenig wie die nachlassende religiöse Bindung).
In einem längeren Kapitel widmet er sich den Auswirkungen auf den Umgang mit Straftaten: Wie könnte eine (vom Konzept der Willensfreiheit abggekoppelte) Gesellschaft mit Verantwortung, Schuld und Strafe umgehen?
Seine Antworten darauf sind durchaus logisch – stehen aber im deutlichen Widerspruch mit intuitiven emotionalen Bedürfnissen der meisten Menschen nach “echter” Bestrafung von Übeltätern.

Das Lesen dieses (leider bisher nur in Englisch verfügbaren) Buches, ist ohne Zweifel ein großartiges intellektuelles und ein spannendes emotionales Vergnügen.
Dazu trägt nicht nur die wissenschaftliche Qualifikation des Autors bei, sondern auch sein Schreibstil, in dem er sich als eine Person zeigt, die leidenschaftlich eine (aufklärerische) Mission verfolgt, die manchmal an (allzu naiven) Gegenpositionen verzweifelt (und darauf auch immer wieder humorvoll reagiert) und die hin und wieder auch an die Grenzen bei der Umsetzung eigener Überzeugungen stößt.
Wegen der zentralen Bedeutung und der kaum zu überschätzender Tragweite der hier diskutierten Grundsatzfragen, wird kein/e Leser/in unbeteiligt bleiben können. Es ist kaum vorstellbar, dass sich bei jemandem an keiner Stelle Widerstand regt, der Kopf geschüttelt wird oder gar die Haare zu Berge stehen. An unzähligen Stellen dieses Textes wird man die Herausforderung spüren, eine eigene Position zu den Darlegungen des Autors zu beziehen.
Meine Prognose: Wenn man wirklich bereit ist, sich auf die Argumentation einzulassen, wird das nicht immer so ganz einfach sein (“eigentlich hat er ja Recht, aber kann und darf das wirklich alles so sein???”).

Am Ende nochmal ein persönlicher Blick:
Ja, 90% meiner Erwartungen wurden erfüllt: Für mich der bisher beste Versuch, Willensfreiheit naturwissenschaftlich zu fassen. In einigen Bereichen war ich geradezu überwältigt von der Stringenz und Konsequenz der Argumentation (moderne Physik und die Konzepte von Vorhersagbarkeit und Determiniertheit). Absolut faszinierend war immer wieder die Vielfalt von Einzelbeispielen hinsichtlich der prägenden Faktoren und ihres Zusammenspiels.
Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sich der Autor bei bestimmten Beispielen ein wenig festgebissen hat (Geschichte der Epilepsie und des Hexenwahns) – er war wohl an diesen Punkten selbst begeistert, wie gut sich diese Phänomene in seinen Roten Faden einfügten.

Ein bisschen mehr erwartet hätte ich im Bereich der psychologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen: Ich hätte gerne auf einen Teil der Ausführungen über den Bereich Kriminalität verzichtet, wenn SAPOLSKY dafür etwas breiter auf die eher alltäglichen Folgen eines “Lebens ohne Willensfreiheit” eingegangen wäre: Wie geht man tatsächlich in der innerpsychischen Welt mit dem Widerspruch zwischen subjektiv erlebter Autonomie und dem Wissen der Determiniertheit um? Welche Rolle spielt das Konzept von Verantwortung und Autonomie in Erziehung und Therapie? Braucht man diese Konzepte nicht – unabhängig von ihrem Realitätsgehalt, weil sie als im Gehirn repräsentierte Konzepte eben auch (kausale) Verhaltenswirksamkeit haben? Welche Rolle spielt überhaupt die gezielte Beeinflussung durch Werbung, Propaganda oder Aufklärung (all das verändert ja als Teil der großen Kausalkette das Gehirn)?
All das wird zumindest angedeutet, hätte aber mehr Raum verdient.

Man mag aufgrund dieser Rezension den Autor für einen irgendwie menschenfeindlichen Fundamentalisten halten, der den Menschen einen Kernpunkt ihrer Würde absprechen möchte. Das ist SAPOSKY ganz eindeutig nicht! Es sind (über Jahrzehnte angesammeltes) Wissen, eine Tendenz zur intellektuellen Stringenz und die Sehnsucht nach einer aufgeklärten Menschheit, die diesen Autor umtreiben.

Er weiß selbst, dass er den Großteil seiner Leserschaft nicht vollständig überzeugen wird. Ihm ist klar, dass die Allermeisten eine kleine Ecke für die “alten” Konzepte bewahren werden (wir verteidigen mit gutem Grund die Basis unseres Selbstbildes). Er selbst formuliert ein realistischeres Ziel: SAPOLSKY würde mit diesem Buch gerne erreichen, dass möglichst viele Menschen ein Konzept und ein Gefühl dafür entwickeln, dass wir weit weniger “unseres Glückes Schmied” sind, als das der gesunde Menschenverstand oder bestimmte politische Ideologie uns suggerieren wollen. Ja, viele von den Erfolgreichen haben sich angestrengt und haben auch widrige Bedingungen überwunden – aber sie hatten dafür eben auch die Voraussetzungen (von denen einige sehr wahrscheinlich schon bei der Gehirnentwicklung im Mutterleib geschaffen wurden)!
Wenn nur die (durch nicht selbst geschaffene und kontrollierte Bedingungen) Privilegierten unter uns mit weniger Selbstgewissheit und Arroganz auf “die da unten” schauen würden und ihnen nicht noch die Schuld für ihre weniger glückliche Lage zuschreiben würden – dann wäre SAPOLSKY sicher mit der Wirkung seines Buches zufrieden.


“Von der Elbe zum Rhein – Binnenschifffahrtsgeschichte und Geschichten” von Werner MEYER-DETERS

Werner Meyer-Deters legt ein auf allen Ebenen gewichtiges Buch vor, das ihn – selbst im Rentenalter – in einer kaum zu übertreffenden Intensität mit dem Anfang seines Berufslebens verbindet. Der Autor, inzwischen ein in Fachkreisen bundesweit bekannter Fachberater im Bereich Kinderschutz/Täterarbeit, begann als 16-jähriger eine Lehre als Binnenschiffer und ist diesem Thema bzw. dieser Welt ganz offensichtlich innerlich mehr als treu geblieben. Das Ergebnis dieser lebenslangen Verbundenheit bringt mit seinen 340 dicht bedruckten und reich bebilderten Seiten 1,5 kg auf die Waage.

Keine Frage: Dieses Buch beleuchtet kein Mainstream-Thema und es ist auch nicht als niederschwellige Einstiegs-Information für Leute geeignet, die sich mal nebenbei ein grobes Bild über diesen Bereich machen wollen.
Es richtet sich an ein interessiertes Nischen-Publikum: an Menschen, die sich aus biografischen, beruflichen, historischen, technologischen oder verkehrspolitischen Gründen bzw. getrieben durch eine leidenschaftliche Liebhaberei der Binnenschifffahrt mit Herz und Verstand verschrieben haben.
Diesem Personenkreis wird eine geradezu grenzenlose Vielfalt und Intensität an Perspektiven und Eindrücken geboten. Schon nach der Hälfte des Textes scheint es kaum noch denkbar zu sein, dass irgendein – noch so winziger – Aspekt der Thematik unberührt bleiben könnte. Und wenn einem etwas sehr Spezielles einfallen sollte: Tatsächlich, auch das fantasierte Thema kommt – mit geradezu unumstößlicher Sicherheit (und wenn es die Sanitärsituation auf einem bestimmten Schiffstyp in den 40iger Jahren ist…)!

Meyer-Deters verschachtelt gleich eine ganze Reihe von potentiellen Einzelbüchern in diesem Potpourri von Aspekten und Sichtweisen:
– Er spannt einen biografische Bogen von seinen Lehrjahren als Binnenschiffer, über Kontakte zu bekannten Schiffern und gelegentliche touristische (Mit-)Fahrten bis zur heutigen semi-professionellen Aufarbeitung des Gegenstandes (die deutlich über eine reine Liebhaberei hinausgeht).
– Er beschreibt, erklärt und bebildert die technischen Aspekte der Entwicklung der Binnenschifffahrt in einer Akribie, die vermutlich auch für absolute Fachleute keine Frage offen lassen würde.
– Er zeichnet ein lebendiges und vielschichtiges Gesamtbild dieses Verkehrs- bzw. Transportmittels, in das auch wirtschaftliche, zeitgeschichtliche, politische und kulturelle Perspektiven verflochten werden.
– Durch die Bezugnahme auf andere Veröffentlichungen und diverses Quellenmaterial (z.B. aus Museen oder Privatarchiven) schafft der Autor nach und nach einen Überblick über ein weit verstreutes Dokumentations- und Erinnerungsnetzwerk rund um die Binnenschifffahrt (natürlich fehlen auch entsprechend systematische Übersichten im Anhang nicht).
– Als eine Art personalisiertes inneres Gerüst für die Gesamtdarstellung dient dem Autor die Geschichte einer (persönlich bekannten) Schifferfamilie, in der sich – über mehrere Generationen hinweg – technische und historische Faktoren biografisch spiegeln.

Meyer-Deters ist bei all dem kein neutraler Chronist. Es wird nicht nur immer wieder deutlich, dass sein Herz an der Binnenschifffahrt hängt. Der Autor hat einen besonderen Blick und eine spürbare Sympathie und Empathie gerade für die Menschen, die (bis vor wenigen Jahrzehnten) unter – heute kaum noch vorstellbaren – Bedingungen eine extrem harte, verantwortungsvolle und entbehrungsreiche Arbeit leisten mussten.
Er guckt auch hier genau hin: auf die wirtschaftlichen Zwänge und Abhängigkeiten der Schiffsführer bzw. -eigner, auf das harte Matrosen-Leben an Bord, auf die extrem schwierigen Rahmenbedingungen für Familienleben und die Erziehung und Schulbildung der Kinder.
Er gibt immer wieder Raum für persönliche Schilderungen von “Betroffenen”; der Autor greift dabei auch auf Veröffentlichungen anderer Autoren oder eher privaten Quellen zurück: Es ist ihm offensichtlich wichtig, möglichst vielen Menschen eine Stimme zu geben. Das hat ganz offensichtlich viel mit einer bewussten Erinnerungskultur zu tun.

Nicht zuletzt zeigt sich der Autor auch als politisch denkender und moralisch fühlender Mensch, indem er auch Auswirkungen von Krieg, wirtschaftlicher Ausbeutung und politischen Fehlentwicklungen nicht nur beschreibt, sondern sie auch wertend einordnet. So ist es kein Zufall, dass er Aspekte wie die Situation der Binnenschifffahrt im III. Reich, den Einsatz von Zwangsarbeitern und die Beteiligung an der Kriegswirtschaft mit besonderer Aufmerksamkeit betrachtet.
Aber auch für den professionellen Stolz und das besondere Lebensgefühl an diesem so besonderen Arbeitsplatz hat der Autor einen sensiblen Blick. Nicht zuletzt scheint dies auch ein Grund dafür zu sein, dass es ihn immer mal wieder auf eines der Schiffe treibt.

Wie könnte es anders sein: Natürlich plädiert der Autor auch engagiert und argumentativ überzeugend für eine größere Rolle der Binnenschifffahrt innerhalb der gesamten Verkehrspolitik – nicht zuletzt aus der immer bedeutsamer werdenden ökologischen Perspektive. (Ein entsprechendes Konzept der “Initiative System Wasserstrasse findet sich im Anhang).
Auch die touristische Perspektive bekommt am Ende des Buches ihren Raum – genauso wie ein Blick auf die beruflichen Zukunftsaussichten (die im Rahmen der zunehmenden Automatisierung auch das “führerlose” – also ferngesteuerte) Binnenschiff umfasst).

Meyer-Deters hat sich – wie schon angedeutet – dafür entschieden, die Einzelperspektiven in einer bunten Abfolge zu mischen. Zwar gibt es eine grobe chronologische Abfolge (sowohl zeitgeschichtlich, als auch bzgl. der Referenz-Familie); durch die vielen Einschübe, Themenwechsel und ergänzenden Erläuterungen entsteht aber eher der Eindruck eines Kaleidoskops, das einen immer wieder neue Blickwinkel eröffnet.
Die Leserschaft wird in so in diesem vor Details überquellenden Buch zum Blättern und zum Schmökern eingeladen; das ist kein Buch, das man in wenigen Tagen Seite für Seite durchliest.
Für ein auf Systematik gepoltes Publikum (erst die Technik, dann die persönlichen Geschichten) könnte es den ein oder anderen Themensprung zu viel geben.

Sicher hätte das Buch ein noch großzügigeres Layout verdient: Man hätte sich deutlich abgehobenere Abschnitte, großzügigere Zwischenüberschriften und vielleicht auch einen breiteren Rand gewünscht. Die Augen haben einfach viel zu tun, wenn sie auf zwei dicht bedruckte DIN-A 4 Seiten schauen…
All das hätte das Buch jedoch noch voluminöser und damit noch teurer in der Herstellung gemacht; es erscheint sowieso wie ein kleines kalkulatorisches Wunder, dass diese beeindruckende Publikation für unter 30 € zu haben ist.

In Anbetracht eines fehlenden spezifischen Sach- und Erfahrungswissens kann ich den Umfang und die Tiefe der in diesem Buch dargebotenen Informationen und Perspektiven letztlich nur “von außen” einschätzen. Dabei entsteht allerdings ein klares Gefühl des Respektes vor der Gründlichkeit bzw. dem Einsatz, mit dem sich der Autor dieser riesig wirkenden Herausforderung gestellt hat. Ein solches Projekt tut man sich wohl nur an, wenn es sich um ein echtes “Lebensthema” handelt.
Genau das wird in diesem besonderen Buch sichtbar.

“Die große Vertrauenskrise” von Sascha LOBO

Bewertung: 4.5 von 5.

Der Journalist, Publizist und Blogger Sascha LOBO hat sich im letzten Jahrzehnt zunehmend zu einer eigenen Marke entwickelt – einschließlich eines unverwechselbaren und markanten Outfits. Seine Stärke (heute besser “Reichweite”) ist in seiner Fähigkeit begründet, als eine Art “Übersetzer” zwischen zwei Welten und zwei Generationen zu fungieren: Er erklärt in seinen Büchern und TV-Auftritten der 55+-Generation die digitale Welt und schafft es in einem erstaunlichen Ausmaß, von beiden Seiten Kompetenz und Glaubwürdigkeit zugesprochen zu bekommen. Wohl kein anderer Netz-Aktivist konnte sich so weit in den Mainstream vorarbeiten.
Er ist damit einer der aktuell bedeutsamsten intellektuellen Stimmen in unserem Land und hat mit seinen Beiträgen das Potential, gesellschaftliche Gräben überwinden zu helfen.
Damit sind wir schon mitten in der Thematik seines aktuellen Buches (Okt. 23).

Es kommen jeden Monat eine ganze Anzahl von Büchern auf den Markt, die – in mehr oder weniger geistvoller Weise – die krisengeplagte gesellschaftliche Situation zum Thema haben. Die Gegenstände der Analyse sind allen Menschen sattsam bekannt, die halbwegs aufmerksam unsere Medienlandschaft verfolgen: Klimawandel, Corona, Migration, Krieg, Gerechtigkeitslücke, Kulturkämpfe, Bildungsnotstand, KI-Revolution, Demografie, geopolitische Verschiebungen, Rechtspopulismus, usw.
LOBO betrachtet all diese Themen unter einer speziellen Perspektive: Es geht ihm um die Ereignisse, Entscheidungen und Prozesse, die für den Verlust an Vertrauen weiter Teile der Bevölkerung in Parteien, politische/gesellschaftliche Institutionen, Demokratie, Medien, Wissenschaft und Eliten aller Art verantwortlich waren bzw. sind.

Der Autor nimmt sich für diese Analyse viel Zeit, arbeitet seine Argumentationslinien sorgfältig und nachvollziehbar heraus. Eine Grundthese besteht dabei darin, dass es eine Reihe von “alten” Mechanismen von Vertrauensbildung gibt, die angesichts der vernetzten digitalen Informations- und Meinungsbildungsstrukturen ausgedient haben und inzwischen oft kontraproduktiv wirken (z.B. die abgeschirmte Entscheidungsfindung in Expertenkreisen, die dann noch in ungeschickter Weise kommuniziert werden).
Naheliegender Weise bedient sich LOBO zur Unterfütterung seiner Thesen exemplarisch (auch) der Corona-Krise: Sorgfältig und kleinschrittig seziert er die – insbesondere kommunikativen – Fehlleistungen, die zu einem wachsenden Vertrauensschwund geführt haben. Wie auch in anderen Beispielen (und ganzen gesellschaftlichen Systemen) stößt er auf fehlende Transparenz, gehortetes Herrschaftswissen, mangelnde Fehlerkultur und nicht eingehaltene Versprechen.

Dem alten, gescheiterten Vertrauenssystem stellt LOBO ein neues, zeitgemäßes Set an Vertrauensbildungs-Regeln gegenüber, das sich an den Gesetzmäßigkeiten einer weitgehend vernetzten, auf Transparenz, Eigeninitiative und demokratischer Kontrolle basierenden offenen Gesellschaft orientiert. Hier führt er insbesondere Beispiele aus selbstorganisierten Netz-Communities ins Feld, in denen Vertrauen auf der Basis einer aktiv gelebten und interaktiven Medienkompetenz entstehen kann.
Der Autor traut sich sogar, eine Lanze für die oft geschmähte Influencer-Szene zu brechen, die in ihrer Mischung zwischen Selbstdarstellung und privater Authentizität für viele junge Leute neue Vertrauensinseln schafft – nicht zuletzt auf dem so arrogant verachteten TikTok-Account.
Auch der neuen KI-Welt tritt LOBO sehr viel abgewogener entgegen, als das in vielen aktuellen super-kritischen Betrachtungen der Fall ist. Er entwickelt das Konzept eines (ganz sicher nicht naiv gemeinten) “Maschinenvertrauens” und spielt mit dem (klugen) Gedanken, die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz für ihre eigene Kontrolle zu nutzen.

An einigen Punkten macht es sich auch ein Sascha LOBO ein wenig zu leicht: So macht er keinen Versuch, den Widerspruch zwischen dem (auch nach seiner Meinung oft übertriebenen Datenschutz) und dem Schutz vor Überwachung/Kontrolle zu lösen. Er entdeckt keinerlei Konflikt zwischen dem (von ihm sehr unterstützten) Drang der Digital-Generation nach praktisch unbegrenzten und preiswerten Netzzugang (mit allen denkbaren Streaming-Möglichkeiten) und den dafür benötigten Ressourcen. Und in dem (ehrenwerten) Versuch, den Interessen der jungen Generation eine Stimme und Gewicht zu verleihen, verlässt LOBO dann doch ein wenig die Differenzierungslust und er zeichnet ein Bild, in dem Umweltbewusstsein und Transformationsbereitschaft den “Älteren” vermeintlich durchweg fremd ist.
Doch das sind kleine Schönheitsfehler in einem durchweg klugen und anregenden Text, der über die gewohnten Gegenwartsbetrachtungen deutlich hinausweist – und zwar in eine Richtung, die sonst im gesellschaftlichen Diskurs der Grauhaarigen meist zu kurz kommt.

Auch in diesem Buch beruht LOBOs Autorität auf der Selbstverständlichkeit und Souveränität, mit der er sich in der Internet-Community mit all ihren Facetten, kreativen Nebenwelten und technischen Innovationen bewegt. LOBO schreibt über eine reale Welt, die sich für die (älteren) “Normalos” wie eine mittelferne Zukunftsprognose anhört. Genau das macht seine Sichtweise und seine Erfahrungen so wertvoll.
Dass er am Ende das Prinzip der Ambiguitätstoleranz in den Fokus holt und dazu aufruft, sich von dem Positionierungs-Druck bestimmter Aktivistenkreise nicht drangsalieren zu lassen, ist ein weiterer Hinweis auf seine kritische Distanz auch zu politisch nahestehenden Gruppen.
So schafft man Vertrauen!

Ja: Autor und/oder Verlag beherrschen auch das Marketing-Handwerk: Der Begriff “Kompass” im Untertitel ist – angesichts der Verkaufserfolge der “Kompass-Bücher” von Bas KAST) sicher nicht zufällig gewählt. Geschenkt!

“Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung” von Philipp Blom

Bewertung: 3.5 von 5.

Philipp BLOM ist schon lange ein feingeistiger Betrachter und Kommentator der Zeitgeschichte. Er ist als Historiker in der Lage, detailversessen in feinste Prozesse einzutauchen und als eine Art geisteswissenschaftlicher Universalgelehrter vermag er die großen Linien der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen nachzuzeichnen.
In seinem aktuellen Buch nimmt er sich nicht weniger vor als die Skizzierung einer neuen Aufklärung in Zeiten existentieller Krisen.

BLOM will mit der “alten” Aufklärung nicht brechen – auch wenn er die Kritik an der Mainstream-Version dieser Geistesepoche zu großen Teilen nachvollziehen kann. Er sieht die Aufklärung in ihren zeitgeschichtlichen Bezügen gefangen und entschuldigt so bestimmte Schwächen: z.B. die Verabsolutierung der Vernunft (unter Vernachlässigung des Körperlichen), die Mentalität der Natur-Beherrschung (sich über die Natur stellen), die Inkonsequenzen und Widersprüchlichkeiten (in Bezug auf die “Gleichheit” von Frauen, Sklaven und Unzivilisierten). Der Autor vergisst aber nicht, darauf hinzuweisen, dass es von Beginn an auch radikalere Stimmen gab – z.B. die von SPINOZA und DIDEROT.

BLOMs Forderung nach einer neuen Aufklärung basiert auf einer Analyse verschiedener kulturellen und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen. Im Zentrum stehen dabei die Klimakrise und der allgemeine Raubbau an der Natur, der Wachstums-Fetischismus unserer Hyperkonsum-Gesellschaft und die Infiltrierung unserer Gehirne durch die gleichgeschalteten Botschaften einer Werbe- und Unterhaltungsindustrie (deren Wirksamkeit gerade durch eine KI-Revolution noch einmal potenziert wird).

Wie sieht nun BLOMs Gegenmittel aus? Der Autor zieht zwei große Quellen für eine neue Aufklärung:
Einmal hält es BLOM für zwingend notwendig, die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften zu berücksichtigen. Inzwischen ist nämlich dort ein Paradigmenwechsel vollzogen worden, der (endlich) das systemische Zusammenspiel aller Naturkreisläufe in den Fokus nimmt. So kann es keinen Zweifel mehr geben an unserer unlösbaren Verstricktheit mit anderen Bio-Systemen – angefangen mit den Mikroorganismen in unserem Körper bis hin zu der großen weltumspannenden Abhängigkeit von der Artenvielfalt. Die Attitüde, sich als “Krone der Schöpfung” über die Natur und die Mitgeschöpfe zu stellen, hat – jenseits aller Moral – rein faktisch ausgedient.
Doch der rational-wissenschaftliche Blick kann es alleine nicht richten. Wir brauchen – so BLOM – darüber hinaus eine Rückbesinnung auf analoge, unmittelbare, sinnliche Erfahrungswelten. Wir müssen uns die Körperlichkeit zurückerobern, müssen uns anstrengen, unsere Grenzen spüren, Leidenschaft entwickeln und das Leben auch biologisch an uns heranlassen.
Auf dieser Basis – Wissenschaft und Lebendigkeit – könnten dann die neuen, rationalen und gespürten – Narrative wachsen und sich den aktuellen Gegnern von “Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit” entgegenstellen.

Das klingt vielleicht ein wenig nach einer logisch aufgebauten Argumentationslinie, durch die uns ein geschickter Didaktiker führt.
Doch BLOM ist in diesem Buch kein solcher Führer. Er schreibt eher einen assoziativ angelegten Essay als ein strukturiertes Sachbuch. Der Autor lässt seine Gedanken schweifen, umtänzelt die Themen mehr, als dass er sie systematisch bearbeitet.
Zu diesem Eindruck des freien Gedankenflusses träft auch der Aufbau des Buches bei: Die Anmerkungen stellen fast so etwas wie eine zweite Buch-Ebene dar. Wären die dort gelagerten Ergänzungen auch noch in den Haupttext integriert worden, hätte sich der Rote Faden wohl endgültig aufgelöst.

BLOM legt ein sehr kluges Buch voller nachvollziehbarer Analysen und anregender Schlussfolgerungen vor.
Wer sich mit ihm auf seinen – nicht immer streng systematischen – Gedankenfluss einlassen (und die darin liegende Freiheit zum Weiterassoziieren schätzen) kann, ist hier bestens aufgehoben.
Andere möchten vielleicht doch etwas stärker an die Hand genommen werden…

“Realität +” von David J. CHALMERS

Bewertung: 3 von 5.

Der Autor ist im Bereich der Bewusstseinforschung bekannt wie ein bunter Hund. Es gibt wohl kein einschlägiges Sach- oder Fachbuch, in dem er nicht mit seinem berühmten Statement vom “hard problem” zitiert wird. Es ging dabei um den von vielen Forschern als unerklärbar gehaltenen qualitativen Unterschied zwischen neurologischen Prozessen und den darauf basierenden subjektiven Empfindungen. 

CHALMERS treibt es diesmal noch weiter an die Grenzen des Denk- und Vorstellbaren. Das Kernthema seines aktuellen Buches ist die Auflösung der Grenzen zwischen verschiedenen Ebenen von Realität.

Als Ausgangspunkt für seine oft an Absurdität kaum zu übertreffenden Betrachtungen ist die sog. Simulationshypothese. Der Autor macht gleich zu Beginn des Textes deutlich, dass es es für ziemlich wahrscheinlich hält, dass wir uns gerade selbst bereits in einer digitalen Simulation befinden

CHALMERS will seine – sicherlich sehr fern des Mainstreams liegende – Leserschaft immer wieder davon überzeugen, dass es neben dem, was wir als “physikalische” Realität empfinden, auch verschiedenste Formen von “digitaler” Realität gibt. Er arbeitet mit einer geradezu zwanghaft wirkenden Detailversessenheit viele detaillierte Szenarien heraus, um zu guter Letzt bei der Erkenntnis zu landen, dass so etwas wie Realität eher etwas Strukturelles als etwas Inhaltliches ist. Damit endet das Buch mit einem Plädoyer für seine besondere Spielart einer idealistischen Weltsicht (in der Geist dann die primäre Basis darstellt und sich die Frage nach dem Übergang zwischen Materie und Bewusstsein erst gar nicht stellt).

Zwischendurch erscheinen die Annahmen und Schlussfolgerungen CHALMERSs so anti-intuitiv und konstruiert, dass sich wohl die allermeisten Leser/innen irgendwann die Frage stellen, ob man sich das wirklich weiter antun sollte. Es ist wirklich Hardcore!

Was liegt in der anderen Waagschale (die ein Weiterlesen zumindest nahelegen könnte)? 

CHALMERS ist ganz sicher ein extrem guter Kenner des Science-Fiction-Genres in Literatur, Film und virtuellen Spielewelten der letzten Jahrzehnte. Er schafft immer wieder Bezüge zu unterschiedlichsten Einzelwerken (wobei die “Matrix” wegen der Nähe zum Thema Simulation eine besondere Rolle spielt). Darüber hinaus scheint er so ziemlich jeden philosophie-technischen Beitrag zu kennen, der jemals zum Themenbereich verfasst wurde.

Gänzlich unerwartet lockt da noch ein dritter geistiger Leckerbissen: Der Autor leistet sich nämlich das (deutlich spürbare) Vergnügen, eine ganze Reihe von grundlegenden Stationen und Ideen der allgemeinen Philosophiegeschichte auf seine diversen Simulationsvarianten anzuwenden. Bis hin zu der Frage, ob man in Bezug auf die Schöpfer einer Simulation (in der man selber möglicherweise lebt), eine Art Theologie (bzw. Methoden der Anbetung) entwickeln sollte (er verneint das nach reiflicher Überlegung).

An solchen und vielen anderen Stellen beschleicht einen manchmal der Gedanke, dass CHALMERS vielleicht doch nur Schabernack mit uns treibt und sich seine Aussagen vielleicht tatsächlich nur auf unsere ganz “normale” Realität bezieht – sozusagen kunstvoll verfremdet.

Aber das würde diesem Grenzgänger zwischen den Welten nicht gerecht: Der Autor lebt seit Jahrzehnten so selbstverständlich und leidenschaftlich auch in virtuellen Welten, dass man ihn wohl meistens so richtig wörtlich nehmen muss – selbst wenn er auch die Hypothese überprüft, dass alle denkbaren Realitäten sich auch in zufälligen Staubwolken manifestieren könnten…

Für CHALMERS sind digitale Katzen in einer digitalen Simulation nicht weniger real als physikalische Katzen in einer physikalischen Welt. Das gilt insbesondere dann, wenn man sein ganzes Dasein in einer (perfekten) Simulation verbringt. Dass wir nach einer biologischen Existenz vielleicht irgendwann als upgeloadetes Bewusstsein ewig weiterexistieren könnten und dass dann eben auch ein Leben in einer Realität wäre, ist nur ein kleiner Seitenarm seiner exzentrischen Fantasien.

Ob man das Ganze wirklich als intellektuelles Vergnügen oder als abgedrehte Spinnerei empfindet, ist ganz sicher Ansichtssache. Es sei gewarnt: Dieses Buch durchzuhalten, stellt eine echte Herausforderung dar.